Von Martha Robinson Rhodes

An wen denkst du zuerst, wenn du dir eine bisexuelle Person vorstellst? Ist es eine Frau? Vielleicht eine prominente? Lady Gaga, Angelina Jolie oder Madonna? Oder doch eher eine Frau oder Frauen aus deinem direkten Umfeld? Weltweit zeigen Bevölkerungsumfragen immer wieder, dass Frauen sich eher als bisexuell bezeichnen als Männer. Vielleicht hast du aber auch eine Figur aus einer Serie, einem Buch oder einem Film vor Augen – der Bericht „Where We Are On TV“ der US-amerikanischen LGBTQ-Medienaufsichtsorganisation GLAAD zeigt außerdem, dass von 2021 bis 2022 68 Prozent der bisexuellen Charaktere in Fernsehsendungen Frauen waren. Doch das war nicht immer so: Als der Begriff „Bisexualität“ vor über 150 Jahren zum ersten Mal verwendet wurde, verstand man darunter ursprünglich intersexuelle oder nicht-binäre Menschen. Und als vor circa fünfzig Jahren die ersten bisexuellen Organisationen gegründet wurden, war die Grundvorstellung einer bisexuellen Person ein Mann. Was hat sich geändert, und welche Auswirkungen hat das auf den Feminismus? Der Begriff „Bisexualität“ wurde erstmals 1859 von dem Anatomen Robert Bentley Todd verwendet, um den Besitz von als „männlich“ und „weiblich“ klassifizierten Merkmalen im selben Körper (wie etwa Brüste und Hoden) zu bezeichnen – also das, was wir heute als Intersexualität bezeichnen würden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschob sich diese Bedeutung und bezog sich nun sowohl auf das, was wir heute als nicht-binäre Geschlechtsidentitäten, als auch auf das, was wir heute als androgyne Genderexpression bezeichnen würden. Die gegenwärtige Bedeutung von „bisexuell“, definiert als sexuelle und/oder romantische Anziehung, entwickelte sich in den 1910er-Jahren. Eine strikte Trennung zwischen den verschiedenen Definitionen gab es jedoch nicht. Bspw. behauptete Sigmund Freud 1915, dass Bisexualität „universell“ sei, meinte damit aber sowohl Androgynität als auch sexuelle Anziehung.

In den Jahren 1948 und 1953 veröffentlichte der Biologe Alfred Kinsey, der selbst Beziehungen zu Männern sowie Frauen hatte, seine berühmten „Kinsey Reports“, die in „Sexualverhalten des Mannes“ und „Sexualverhalten der Frau“ unterteilt waren. Auf der Grundlage von Interviews mit 1600 Personen entwickelte Kinsey ein Skalenmodell der Sexualität, das von 0 („völlig heterosexuell“) bis 6 („völlig homosexuell“) reichte. Kinsey ging davon aus, dass etwa gleich viele Männer und Frauen – etwa elf Prozent – auf der Skala eine 3 erreichten, was bedeutete, dass sie „gleichermaßen heterosexuell und homosexuell“ waren. Zwar lehnte Kinsey selbst die Verwendung des Begriffs „bisexuell“ für die Zahlen zwischen 1 und 5 auf seiner Skala ab und zog es vor, den Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung, also im Sinne von „intersexuell“, zu verwenden. Aber die große Popularität seiner Arbeit sorgte für ein größeres Verständnis von Bisexualität als sexueller oder romantischer Anziehung.

In den 1960er- und 1970er-Jahren waren bi Personen in der Gegenkultur und in Befreiungsbewegungen aktiv, die oft von Männern dominiert wurden. So wurde z. B. die Sexual Freedom League in San Francisco von einem bisexuellen Mann gegründet. Obwohl die Organisation selbst nicht explizit bi war, ermutigte sie zu sexuellen Experimenten mit verschiedenen Geschlechtern und wandte sich gegen „Grenzen“ in der Sexualität. Auch wenn die Bewegung für sexuelle Freiheit Menschen aller Sexualitäten Raum bot, um ihre Wünsche zu erforschen, war ihr Verhältnis zum Feminismus angespannt – viele Feministinnen kritisierten damals, dass die sexuelle Befreiungsbewegung das sexuelle Vergnügen der Männer in den Vordergrund stellte und dabei kein Problem damit hatte, Frauen auszubeuten.

Missy Magazine 02/23, Dossier, Bi Pride
© Verena Mack

Die erste offizielle bisexuelle Organisation, die National Bisexual Liberation Group, wurde 1972 in New York City gegründet. Im selben Jahr brachte eine Quäkergruppe in Ithaca, New York, die „Ithaca-Erklärung zur Bisexualität“ heraus, die weithin als die erste öffentliche Erklärung der bisexuellen Bewegung gilt. Darin wird die „Tendenz zur fälschlichen Annahme“ infrage gestellt, dass jemand, der sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, zwangsläufig homosexuell sei oder dass jemand, der sich zum an- deren Geschlecht hingezogen fühlt, zwangsläufig heterosexuell sei. Im Laufe der 1970er-Jahre begannen einige Prominente, sich als bisexuell zu outen. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um Männer, z. B. David Bowie im Jahr 1974 und Marc Bolan im Jahr 1975. Die Zeitschrift „Newsweek“ berichtete: „Bisexual Chic: Anyone Goes“; und Schwulenrechtsgruppen in Großbritannien erklärten, dass Bisexualität „eine kurze Zeit lang im Trend“ liege.

Im Vereinigten Königreich war die erste bisexuelle Organisation zunächst ebenfalls männerdominiert: Eine Gruppe bisexueller Männer, die sich 1980 auf der Anti-Sexist Men’s Conference traf, beschloss, regelmäßige Treffen zu organisieren, aus denen dann die London Bisexual Group hervorging. Die ersten Treffen der Gruppe fanden im Nachtclub Heaven statt, der wiederholt dafür kritisiert worden war, Frauen auszuschließen. Die Organisatoren der Londo- ner Bisexuellengruppe versuchten, die weiblichen Teilnehmerinnen zu beruhigen: „Das Heaven hat einen schlechte Ruf, was Frauen betrifft, aber dienstagabends ist es ein sicherer und angenehmer Ort für Frauen.“ Es wundert kaum, dass das viele Frauen nicht überzeugte; das erste Treffen der Gruppe wurde von 62 Männern und nur 14 Frauen besucht.

Während diese ersten bisexuellen Organisationen gegründet wurden, engagierten sich viele Feministinnen verstärkt im politischen Lesbentum, das sich als die ultimative Form des Feminismus verstand, da es „die Weigerung, Männer zu lieben, gegen alle Zwän- ge der männlich dominierten, männerliebenden Kultur“ repräsentiere. Diese Idee wurde von einer der Gründerinnen, Ti-Grace Atkinson, folgendermaßen zusammengefasst: „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis.“ Feministinnen wurden ermutigt, sich als lesbisch zu bezeichnen, unabhängig davon, zu wem sie sich hingezogen fühlten, und nur Beziehungen mit anderen Frauen zu haben.

Nach dieser Logik wurden Frauen, die sich weiterhin als bisexuell identifizierten, als Kollaborateurinnen der männlichen Vorherrschaft angesehen. Eine Frau, die ich interviewt habe, die in den 1980er-Jahren in mehreren britischen feministischen Organisationen tätig war, sagte, dass sie „immer mehr Druck aus- gesetzt war, nicht bisexuell, sondern lesbisch zu sein … Niemand war schrecklich zu dir, wenn du heterosexuell oder bisexuell warst, aber du hast nicht so dazugehört, wie du als Lesbe dazugehört hättest.“ Einige antibisexuelle Feministinnen beriefen sich auch auf die historischen Verbindungen zwischen Bisexualität und den Bewegungen für sexuelle Freiheit, um zu argumentieren, dass Bi-sexuelle männlich, hypersexuell, lüstern und potenziell raubtierhaft seien. Dies führte 1985 dazu, dass das Londoner Lesben- und Schwulenzentrum bisexuellen Gruppen verbot, sich dort zu treffen, angeblich auf Antrag lesbischer Feministinnen, die „die Ansicht vertraten, dass bisexuelle Männer Lesben im Zentrum belästigen könnten“. Obwohl das Verbot auf breite Kritik stieß und nach nur drei Monaten wieder aufgehoben wurde, zeigt es, dass Bisexualität weiterhin mit potenziell bedrohlichen Männern assoziiert wurde.

Dieses Stereotyp verschärfte sich während der HIV/Aids- Epidemie, die vor allem bisexuelle Männer stigmatisierte, weil sie das Virus vermeintlich auf die heterosexuelle Bevölkerung „übertrugen“. Das San Francisco Bisexual Center wurde 1984 geschlossen, weil seine Betonung der Nicht-Monogamie und der sexuellen Freiheit nicht mehr angemessen schien, in einer Zeit, in der Menschen in großer Zahl an einer sexuell übertragbaren Krankheit starben. Im Vereinigten Königreich wurde in der einzigen Aids-Werbung, in der Bisexualität ausdrücklich genannt wurde, ein Zusammenhang zwischen Aids-Übertragung und Untreue hergestellt: „Wenn ein verheirateter Mann eine Affäre hat, dann vielleicht nicht mit einer Frau.“

Dieses Stigma bedeutete, dass viele Männer, die sich zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlten, sich aus Angst vor Belästigung oder Diskriminierung nicht als bi identifizieren konnten. Zudem konzentrierte sich Unterstützung für Männer mit Aids häufig auf schwule Männer, was dazu führte, dass viele Männer, die sich zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlten, gezwungen waren, sich als schwul statt als bisexuell zu identifizieren, um Unterstützung und Ressourcen zu erhalten. Neben schwulen Männern und trans Frauen starben daher auch viele bisexuelle Männer an dem Virus, insbesondere in den Vereinigten Staaten. All diese Faktoren führten dazu, dass die Gesamtzahl der sich als bisexuell identifizierenden Männer und ihre öffentliche Wahrneh- mung zurückgingen – sodass in den 1990er- und 2000er-Jahren die Vorstellung von Bisexualität als überwiegend weibliche Sexualität zu dominieren begann.

Wie sieht also die Zukunft von Bisexualität und Feminismus aus? Die „Vergeschlechtlichung“ bzw. das Gendern von Bisexualität hat sich seit den 1980er-Jahren so sehr verändert, dass bi Männer heute Hashtags ins Leben rufen und Bücher schreiben, um schlichtweg zu erklären, dass es bisexuelle Männer gibt. Die Existenz von bisexuellen Frauen und nicht-binären Menschen wird inzwischen als so selbstverständlich angesehen, dass die entsprechenden Hashtags einfach #CelebrateBiWomen und #CelebrateBiNonbinary lauten. Da der Feminismus tendenziell inklusiver geworden ist, fühlen sich auch mehr Frauen in der Lage, sich als bisexuell und feministisch zu bezeichnen.

Doch Sichtbarkeit bedeutet nicht unbedingt gleich mehr Akzeptanz. Bisexuelle Frauen werden oft als „eigentlich heterosexuell“ angesehen, sie werden beschuldigt, nur einem Trend zu folgen oder ein „Hetero-Passing-Privileg“ zu genießen, wenn sie Beziehungen zu Männern eingehen. Viele bi Personen berichten, dass sie sich in LGBTQ-Räumen nicht willkommen fühlen. In einer britischen Umfrage gaben 27 Prozent der bi Frauen und 18 Prozent der bi Männer an, Diskriminierung durch andere Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft zu erleben. Auch von partnerschaftlicher Gewalt sind bisexuelle Frauen deutlich häufiger betroffen, was laut Forschung darauf zurückzuführen sein könnte, dass ihre Se- xualität fetischisiert wird und sie noch stärker als monosexuelle Frauen als Sexualobjekte betrachtet werden. Ein Feminismus, der Bisexuelle aller Geschlechter wirklich einbezieht, muss gegen diese Stereotypisierung und Gewalt ankämpfen, indem er auf Akzeptanz und sexuelle Befreiung hinarbeitet statt nur auf Sichtbarkeit. Gerade weil die Beziehung zwischen Feminismus und Bisexualität historisch belastet ist, brauchen bi Menschen aller Gender solch einen explizit inklusiven Feminismus heute so sehr wie eh und je.

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Zum Begriff

Bisexualität ist, anders als Hetero- und Homo- sexualität, eine nicht-monosexuelle Orientie- rung. Aufgrund der dominierenden Vorstel- lung eines binären Geschlechtersystems und der Bedeutung der Vorsilbe „bi“ (lateinisch: zwei) wurde Bisexualität in der öffentlichen Wahrnehmung oft als Begehren von zwei Ge- schlechtern im Sinne der Zwei-geschlecht- lichkeit verstanden, also als sexuelle Anziehung zu Frauen und Männern.

In der bisexuellen Community wird der Begriff jedoch oft und schon lange als „Anziehung zum eigenen und zu anderen Geschlechtern“ definiert. Menschen aller Geschlechter können sich als bisexuell verstehen.

Wir verstehen Bisexualität also als sexuel- le und/oder romantische Anziehung zu mehr als einem Geschlecht. Begriffe wie pan-, omni, polysexuell und hetero- oder homo-flexibel be- schreiben Abstufungen und Varianten dieses Begehrens. Der Sammelbegriff Bi+ fasst dieses Spektrum abseits von Monosexualitäten zusammen.

Außerdem benutzen wir in diesem Dossier den Begriff bi-sexuell, weil er am gängigsten ist, sich im Akronym LGBTQ wiederfindet und in queerer Geschichte verankert ist.

Martha Robinson Rhodes ist eine britische Wissenschaftlerin, die sich auf die Geschichte der Bisexualität spezialisiert hat.

Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/23.