Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Paramore „This Is Why“
( Atlantic Records / Warner Music )

Nostalgie ist überbewertet – so auch die Sehnsucht nach den 2010er-Jahren. Bei Paramore ist das zum Glück gar nicht nötig. Die Band der Herzen aus Ten- nessee hat mit „This Is Why“ ein Album veröffentlicht, das zeitgemäß und wunderbar ist. Vor allem wenn man in Zeiten der Popstarindividuen Bands mit Instrumenten vermisst. Die Sängerin Hayley Williams ist für viele Menschen ein Schatz. Eine unfassbar talentierte Musikerin, vielleicht das einzige Idol aus der eigenen Teenie-Zeit, das keinen problematischen Skandal hatte. Paramore ist ihre Band. Gemeinsam mit Zac Farro und Taylor York hat sie manche Menschen bis ins Erwachsenenalter begleitet. Vor fünf Jahren hätte sich Paramore beinahe getrennt, die gruppeninternen Probleme schienen unüberwindbar. Lange war die Band eine Erinnerung, auf die man wehmütig zurückblickte. Dass Paramore ein Comeback startet, war überraschend. Und auch, dass das neue Album einen Mittelweg findet zwischen dem Fugazi-inspirierten ersten Album „All We Know Is Falling“ und dem Letztwerk „After Laughter“. Thematisch kreist „This Is Why“ um die kollektiven Erfahrungen der letzten Jahre, von Agorapho- bie bis Resignation. Frustration, Depression, Dissoziati- on – das alles hat lange nicht so gut geklungen. Paramore ist eine Pop-Punk-Band, die sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Super catchy Songs, immer funky und instrumental großartig. Und vor allem erfrischend in einer Zeit, in der echte Instrumente auf Pop- oder Rocksongs seltener werden. Top-Tracks: „Running Out Of Time“, „C’est Comme Ça“, der Titel-Track und „Thick Skull“. Doch auch sonst ein richtig gutes Album für Menschen, die positiv überrascht werden wollen. Franziska Schwarz

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Lakecia Benjamin „Phoenix“
( Whirlwind Recordings ) –

Es beginnt mit kreischenden Sirenen und Schüssen. Dann die Stimme von Civil-Rights-Aktivistin Angela Davis. Sie rezitiert, übersetzt: „Revolutionäre Hoffnung liegt in den Frauen, die von der Geschichte verlassen wurden.“ Langsam steigen Klavier, Schlagzeug und Saxofon ein. Vom ersten Takt an macht die US-amerikanische Saxofonistin Lakecia Benjamin klar, dass „Phoenix“ keine seichte Sonntagabendplatte ist. Auf dem neunminütigen „Amerikkan Skin“ bewegen sich die Instrumente in losen Free-Jazz-Arrangements geleitet von der mal grellen, mal weichen Stimme des Blasinstruments. Benjamin spinnt instrumentelle Narrative, die ihre Gefühlswelt wider- spiegeln und sich, wie der Vorgänger „Pursuance“, in die lange Geschichte des Jazz einreihen. „Phoenix“ greift dabei die revolutionäre Kraft des Genres auf und balanciert thematisch zwischen Explorationen von persönlichem Wachstum und politischen Songs. Begleitet von Poetin und Black-Arts-Movement-Aktivistin Sonia Sanchez fordert „Blast“ Frieden als Menschenrecht ein und die gesprochenen Worte geben der sonst instrumentellen Kunstform eine explizit politische Note. Liv Toerkell

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Tujiko Noriko „Crépuscule I & II“
(Editions Mego )

Wie stellst du dir ein Treffen auf der ISS vor? Alles ist ruhig, du floatest vermutlich durch das Spaceshuttle. Schwerelos. Genau so klingt Tujiko Norikos elf-minütiger Song – „A Meeting At The Space Station“. Zum Ende hin ist es fast, als könntest du die sich schließenden Tore der Raumstation hören, bevor du ins All gleitest. Ein großer Teil der zwölf Tracks des Doppelalbums „Crépuscule I & II“ kommt sehr ruhig daher. Die Atmosphäre und der gelegentli- che Gesang laden zur Meditation ein. Stücke wie „The Promenade Vanishes“ oder „Bronze Shore“ hingegen wirken trotz ihrer wunderschönen Sphäre bedrohlich. Vermutlich ist das Werk der Künstlerin aus Osaka auch so bildhaft greifbar, weil sie nicht nur musikalisch an experimentellen Kurzfilmen arbeitet. Auch als Regisseurin und Darstellerin ist sie umtriebig. Sie komponiert den größten Teil ihrer Musik seit jeher am Laptop und layert dabei Samples, elektronische Beats und Keyboardklänge. Dabei kann sowohl ein Opener wie „Prayer“ entstehen, der fast wie ein Achtzigerjahre-Song klingt, als auch das futuristische „Opening Night“ voller Industrialsound und Störgeräusche. Simone Bauer

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Raphaela Gromes „Femmes“
( Sony Classical )

Zu Lebzeiten als Virtuosin gefeiert, danach in Vergessenheit geraten – so geht es vielen Kom- ponistinnen, wie Clara Schumann, die ihr großes Revival durch das ihr gewidmete Kulturjahr 2019 hatte. Cellistin Raphaela Gromes reicht das nicht. Sie war bei ihrer Recherche für das Doppelalbum „Femmes“ begeistert von der Vielzahl an genialen Komponistinnen seit dem Mittelalter und nahm Werke von 23 Komponistinnen auf, um Einfluss auf den schockierenden Anteil von nur zwei Prozent Frauen im Programm deutscher Profiorchester zu nehmen. Unter den Komponistinnen befinden sich die niederländisch-jüdische Henriëtte Bosmans, die Schwedin Laura Netzel und die Afroamerikanerin Florence Price. „Femmes“ beginnt mit einem Arrangement für Cello und Orchester des Gesangs „O Virtus Sapientiae“ von Hildegard von Bingen, die als erste identifizierbare Komponistin überhaupt gilt. In der Aufnahme steht Gromes’ Cello mit lang gezogenen, sanften Tönen im Vordergrund und das Orchester baut leise eine mystische Atmosphäre auf. Es folgt ein beschwingtes Werk von Maria Antonia Walpurgis von Bayern, das Gromes vorab als Single veröffentlichte. Besonders der Mix auf dem Doppelalbum überzeugt, denn die Starcellistin deckt nicht nur historische Kompositionen ab, sondern interpretiert auch die Musik von Zeitgenossinnen wie Dolores White oder aktuellen Popstars wie Billie Eilish. Lorina Speder

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Emiliana Torrini & The Colorist Orchestra „Racing The Storm“
( Bella Union ) –

Das nennt man wohl Emanzipation: 2016 hieß es noch „The Colorist Orchestra & Emiliana Torrini“, bei der erneuten Kooperation ist die Isländerin nun die Erstgenannte. Nicht ohne Grund: Ging für das gemeinsame Debütalbum die Initiative von The-Co- lorist-Masterminds Aarich Jespers und Kobe Proes- mans aus, eine Auswahl von Emiliana-Torrini-Songs neu zu arrangieren, rückt Torrini als Songschrei- berin und Frontfrau nun mehr in den Mittelpunkt. Zu Recht, denn egal, ob in ihren eigenen Songs (berühmtester Hit „Jungle Drum“) oder in ihren zahl- reichen Kooperationen (GusGus, Thievery Cooperation, Kylie Minogue), Emiliana Torrini überzeugt als erfahrene wie versierte Musikerin. Hinter den eingängigen Songs offenbaren sich Geschichten, in denen Abschied, Aufbruch und Einsamkeit eine Rol- le spielen – weniger von Trauer durchtränkt als von verspielter Melancholie geprägt. Die wird verstärkt von der musikalischen Herangehensweise des Colo- rist Orchestra, dessen Faible für selbst gebaute Musikinstrumente den Sound bestimmt: viel Schlagwerk, ein paar Streich- und Holzblasinstrumente, aber auch Klavier und Bass. Mächtig kreativ, aber leider auch nur eine rein männlich besetzte Truppe. Nur gut, dass Emiliana Torrini trotz Teamwork hier die erste Geige spielt. Verena Reygers

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Otra „I’m Not That Way“
( Thirty Something Records ) –

Draußen Regen, drinnen Weltschmerz. Da kommt ein charmant-schlauer Lichtblick gerade recht, so wie das Debütalbum der Schwestern Laura und Kara aus Kalifornien. Die beiden haben lange an den zehn Songs gefeilt, davon zeugen Detailverliebtheit, ausgefuchste Gesangslinien und zusätzliche Instrumen- tierung mit Ukulele, Kastagnetten, Klarinette, alten Synthis und Drumcomputern. Schon das erste Lied „Fogfest“ macht Lust auf Frühling, dank nonchalantem Gesang, Tirili-Gitarre und Karibiksounds. Das anschließende „Prose & Kons“, eher indierockig, begeistert mit dem kürzesten, dafür lustvollsten Gitarrensolo ever, während es ums Hadern geht: „Have you ever been so much as a friend?“ Toll ist auch „Dream Machine“. Darin erzählt Laura von einem Traum: Sie schreit ihre Pläne in die Welt, wird gefeiert – doch als sie aufwacht, fühlt sie sich leer und frustriert. Illustriert wird das durch Knarz- bass, jubilierende Synthis, dann böse stampfende Beats. Auch „Winky“, trauriger Gitarrenpop à la Elliott Smith, galoppiert plötzlich als Indierock davon. Möglich, dass sich die zwei Hundeliebhaberinnen schnell langweilen! „3rd Most Popular Fish“ scheint vom Fischverzehr abzuraten, so bedrohlich klingt’s: „Eat the fish, lick the bones, don’t forget what you’ve been told“. Und so bewegen sich Otra, die von Bands wie Beirut, Tune-Yards und Haim inspiriert sind, zwischen Wohlgefühl und Unheimlichkeit. Sie können aber auch „einfache“ Liebeslieder, wie die hübsche Single „Repercussion Concussion“ beweist. Und fast ist er weg, der Weltschmerz. Barbara Schulz

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Everything But The Girl „Fuse“
( Virgin Music, VÖ: 21.04. )

Genauso hypnotisch wie eh und je singt Tracey Thorn ihre durchdringenden, klar artikulierten Lyrics. „Fuse“ ist das erste Studioalbum von Eve- rything But The Girl seit 24 Jahren und nach ihrer Auflösung im Jahr 2000. Tracey Thorn und ihr Partner Ben Watts brachten in der Zwischenzeit Soloalben heraus und gingen eigenen Projekten nach. Doch
kaum wieder zusammen im Studio, ist ihr Sound wie im Erfolgshit „Missing“ sofort wiedererkennbar. Gleich der erste Song des Albums „Nothing Left To Lose“ ist eingängig mit einem Mix aus zeitgenössischer Elektronik und Retro-Synthi-Klängen. Die Musik katapultiert uns in die späten Neunziger, während die Lyrics nicht aktueller sein könnten. „Kiss me while the world decades / kiss me while the music plays“, singt Thorn. Die Texte sind narrativ, getragen von einer subtilen Melancholie im Gesang und einem harmonischen elektronischen Soundbett. Wer eine Neuerfindung erwartet, wird enttäuscht sein. Das hochkarätige „Fuse“ zeugt jedoch von der guten Chemie Thorns und Watts’. Amelie Persson

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Power Plush „Coping Fantasies“
( Beton Klunker Tonträger ) –

Die Chemnitzer Dream-Pop-Band veröffentlicht mit ihrem Debütalbum „Coping Fantasies“ die inhaltliche und musikalische Fortsetzung der EP „Vomiting Emotions“. Frei nach dem Motto: Nach dem Auskotzen kommt die Bewältigung. Aufgenommen wurde diesmal im Studio, nicht mehr im Proberaum. Die Songs klingen jetzt größer, die vier Musiker*innen haben sich getraut, mehr mit dem Sound zu experi- mentieren und Themen konkreter zu verhandeln. Auf dreamy-melodisch-melancholische Weise geht es um depressive Phasen, toxische Beziehungen, darum, mit sich selbst und der Welt zu hadern. Aus ihrem Selbstverständnis als female fronted Band ziehen sie jetzt den Mut zur Wut: „Leave Me Alone“ ist ein politisches Statement gegen Catcalling, aufdringliche Männer, das Patriarchat. Der Track ist auch musikalisch härter als der Rest der Platte, die sich in zärtlicher Verwirrtheit gleichförmig hin- und herwiegt und etwas Wumms vermissen lässt. Das Album ist weniger zum Tanzen, mehr zum Trösten. Die Band Power Plush ist ein Gesamtkonzept, das in kuscheligen Pastelltönen und mit weichen Chorus-Gitarren einen Wohlfühlort schafft, an dem aber auch Platz für Verzweiflung und wavige Düsternis ist – stets zwischen empowernd und latent vom Leben überfordert. Und so ist auch „Coping Fantasies“ ein Zufluchtsort, weil die Lösungen für unsere Probleme manchmal nur Wunschgedanken sind. Oder wie es im Song „Utopia“ heißt: „Take care of each other / As the world goes to shit“. Naomi Webster-Grundl

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Joyce Muniz „Zeitkapsel“
( Joyce Muniz Music, VÖ: 14.04. ) –

Von São Paulo nach Wien, von London nach Bangalore. Joyce Muniz’ zweites Album „Zeit- kapsel“ spannt den musikalischen Bogen nicht nur durch Jahrzehnte, sondern auch um Kon- tinente. Samba und Schamanismus ihres bra- silianischen Geburtsorts, Elektro und Drum ’n’ Bass aus ihrer österreichischen Heimat, betörende Sitar-Klänge als Mitbringsel ihrer ersten Indien-Tour und Techno aus ihrer Wahlheimat Berlin – „Zeitkapsel“ ist ein Album, das nur Joyce Muniz machen konnte. Neben ihren eigenen diversen Einflüssen holt sie sich bei der Hälfte ihrer neuen zwölf Songs noch Gastsänger*innen dazu und macht den Mix da- mit komplett. Da sind der Queer-Aktivist Karl Michael („In der Nacht“), die US-Rapperin Le-ciel („Grey Skies“) oder der Londoner Musiker Le3 bLACK („Never Brushing The Sound“), die „Zeitkapsel“ erweitern. Im Track „Arrivederci Bella“ knüpft Joyce Muniz an alte Zeiten an und beehrt ihre Hörer*innen mit eigenem Rap auf Portugiesisch. Ihr gelingt der Spagat zwischen Radiosound und Clubbangern, perfekt ausgetüftelten Digitaltönen und analoger Kreativität. Sphärische Klänge, die einen schweben lassen, schmetternde Bässe zum Aufwachen und Stampfen. „Imagine a world / where all things were possible“, befiehlt die Stimme des US-Producers Roland Clark auf dem dritten Track „Imagine“. Die Utopie ist Programm. Laura Helene May

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Sabrina Bellaouel „Al Hadr“
( InFiné ) –

Die französisch-algerische Sängerin, Musikerin und Produzentin Sabrina Bellaouel mag zwar Newcomerin sein, wird aber jetzt schon von Tastemakern wie „METAL“, „Mixmag“ oder dem „Crack Magazine“ hochgelobt. Zu Recht – nach zwei selbst produzierten EPs veröffentlicht sie nun mit „Al Hadr“ ihre Debütplatte. Darauf vereint sie futuristischen R’n’B- Sound mit ihren smoothen und intimen Vocals. Auf „Al Hadr“, arabisch für „die Gegenwart“, verhandelt Sabrina Bellaouel ihre algerische Identität, die Bedeutung ihres muslimischen Glaubens, weibliche Selbstbestimmung und – einfach eine gute Zeit im Club. Zwischen verträumten Popmelodien, Loops aus dem HipHop und sakral anmutenden elektronischen Produktionen füttert sie ihre Songs mit Sounds, die vor allem in der Clublandschaft zu finden sind. Den Song „Trust“ hat sie dabei ihrer liebs- ten Disney-Figur gewidmet: Prinzessin Jasmin. Subtile Drum ’n’ Bass-Sounds verblenden mit Synthesizern und souligen Vocals. Nicht nur, dass Jasmin die einzige arabische Prinzessin in allen Verfilmungen ist, sondern dass sie als Person gehört und geliebt, nicht nur angeschaut werden will, ist Bellaouel in Erinnerung geblie- ben: „Als arabische Produzentin in der sehr männlichen, weißen Welt der französischen Musik kann ich mich gut in sie hineinversetzen.“ Sophie Boche

Missy Magazine 02/23, Musikrezis

Elle King „Come Get Your Wife“
( RCA Records / Sony Music ) –

Elle King ist seit ihrem Debüt „Love Stuff“ aus dem Jahr 2014 das Whiskey trinkende Wild Child der Countrymusik. Nun präsentiert sie mit ihrem dritten Album „Come Get Your Wife“ ein eher nostalgisch anmutendes Werk. Die insgesamt 13 Songs sind autobiografisch angehaucht, wenn auch nicht alle selbst geschrieben, und bieten in knapp 45 Minuten viel Selbsterkenntnis, eine Prise Herzschmerz und eine Einladung nach der anderen, sich zu betrinken. Eröffnet wird das Album mit dem Song „Ohio“, der eine bittersüße Mischung aus Liebeslied und Abrechnung mit ihrer Heimat ist. Ähnlich dual sind auch die folgenden Songs. Sei es, dass sie über sich selber zum einen als ehemaliges „trainwreck“ und zum anderen als „lucky“ singt oder sich überlegt, Jesus mal eine Chance zu geben, da alle anderen Männer bisher eine Enttäuschung waren. Dazu gesellen sich sowohl langsame als auch schnelle Abschiedssongs wie „Crawlin’ Mood“ oder „Blacked Out“, eine Auseinandersetzung in „Out Yonder“ mit Menschen, die lästern, und immer, wirklich immer wieder Hymnen ans Saufen. Alles in allem ist „Come Get Your Wife“ (welches
ihrem Partner einst zugeraunt wurde) ein solides, eher laid-back Countryalbum mit Einflüssen von Rock ’n’ Roll und Blues, welches eine Handvoll schöner Songs aufweist, die komplexe Themen interessant und mit rausgestreckter Zunge angehen. Avan Weis

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/23.