*Advertorial

Von Dr. Johanne Hoppe, Elena Baumeister und Inga Selck (TOP GIRL KOLLEKTIV)

Sie hätte es satt mit Sanftmut und Liebe, sagt Irene Rakowitz: „Irgendwann schlägt Deine Liebe in Hilflosigkeit um.“ Irene hat sich nach 20 Jahren Ehe mit vier Kindern scheiden lassen und die Erziehung allein übernommen. Helga Reidemeisters Film „Von wegen, Schicksal“ (1979) ist Teil der Online-Reihe „Was macht uns frei? Feministisches Kino aus der BRD“, die aktuell beim Streamingdienst MUBI zu sehen ist. Die Filmreihe mit ​Filmen von Reidemeister sowie Helke Sander und Ula Stöckl​​​​​​ zeigt Themen und Forderungen der damaligen feministischen Bewegung wie Vereinbarkeit von Mutterschaft und selbstbestimmtem Leben, Alternativen zur heteronormativen Paarbeziehung, § 218, Prekarität oder weibliches Begehren auf. Seit dem Ende der 1960er Jahre produzierten Filmemacherinnen in West- und später auch in Ostdeutschland Spiel- und Dokumentarfilme, die diese Themen vielfältig verarbeiten und bis heute feministische Inspiration sind.

„Von wegen, Schicksal“ war Reidemeisters Abschlussfilm an der Deutschen Akademie für Film und Fernsehen Berlin und wurde beim Forum der Berlinale 1979 uraufgeführt. Helga Reidemeister, die nicht nur Regisseurin, sondern auch Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel in Berlin war, warf dem zeitgenössischen Feminismus vor, Klassenfragen nicht genügend mitzudenken. Entsprechend beschäftigen sich viele ihrer Filme auf, aus heutiger Sicht, intersektionaler Grundlage mit den Wechselwirkungen von Patriarchat und Kapitalismus.

Ihr Dokumentarfilm porträtiert die ambivalente Persönlichkeit Irenes in ihrer ganzen Zerrissenheit. Ihr Kampf um Autonomie und selbstbestimmtes Lieben und Leben wird von ihren Kindern teils hasserfüllt abgelehnt. Gleichzeitig übt auch Irene immer wieder verbale Gewalt aus, beschämt ihre Kinder und findet trotz ihren guten Vorsätzen einer zeitgenössisch aufgeklärten Erziehung aus dieser Gewaltspirale keinen Ausstieg. Die Regisseurin greift regelmäßig in das konflikthafte Geschehen vor der Kamera ein, sie befragt die Protagonist*innen und versucht gelegentlich zu vermitteln. Diese Konflikte sind oft schwer auszuhalten – gerade aufgrund der persönlichen Nähe der Regisseurin, die schon für andere Filme mit der Familie arbeitete. Als Zuschauer*in gerät eine so mitunter in die unbequeme Situation einer Voyeur*in, die Situationen miterlebt, die zu privat erscheinen. Erleichterung schaffen die Credits, die zeigen, dass Rakowitz gemeinsam mit Reidemeister für das Drehbuch verantwortlich war. Auch an der Montage des Films hat sie mitgearbeitet. Ihr Mitbestimmungsrecht ging so weit, dass sie bis zum Ende der Produktion die Möglichkeit hatte, den Film zu verbieten – eine hierarchiekritische Vorgehensweise, die in heutigen Zeiten von Reality TV nicht vorstellbar ist. So werden diese privaten Situationen zu etwas Hochpolitischem, die die Auswirkungen von strukturellem Klassismus und patriarchaler Prägung der Zeit gründlich entlarven.

„Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ von Helke Sander entstand ein Jahr vor Reidemeisters Film und befasst sich mit ähnlichen Themen: Die Protagonistin Edda ist alleinerziehend und steht permanent zwischen der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, dem Bedürfnis nach politischem Engagement und künstlerischer Selbstverwirklichung und dem Wunsch, das eigene Kind bedürfnisgerecht zu versorgen. Sie ist Fotografin in West-Berlin und arbeitet mit ihrer Frauengruppe an einem Fotoprojekt, das die Stadt aus ihrer Perspektive portraitieren soll. Gleichzeitig muss sie mit ihren Fotos genug Geld verdienen. Die klare Benennung ihrer Einnahmen und Ausgaben – eine Information, die auch bei „Von wegen ‚Schicksal‘“ gegeben wird – macht ihre prekäre finanzielle Situation transparent. Edda lebt im links-intellektuellen Milieu und wohnt mit ihrem Kind in einer WG. Sie nimmt an Demos teil und führt eine lose Beziehung zu einem jüngeren Mann. Beruflich und künstlerisch bekommt sie die Welt regelmäßig von Männern erklärt; ein Stern-Redakteur fragt sie mit Blick auf ihr Berlin-Projekt: „Sie haben sich was dabei gedacht, ja?“

Regisseurin Helke Sander spielt selbst die Rolle der Edda und auch sonst hat der Spielfilm klare autobiographische Bezüge. Sander spricht 1968 für den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen als einzige Frau bei der Delegiertenversammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes: „Warum sprecht ihr denn vom Klassenkampf hier und von Orgasmus-Schwierigkeiten zu Hause?“ Kommentarlos wollen die anwesenden Männer auf diese Forderung, das sogenannte Private zu politisieren, zum nächsten Tagungspunkt übergehen. Sanders Genossin Sigrid Rüger wirft als Reaktion Tomaten auf das Podium. Dieser Tomatenwurf gilt als Initialzündung der nun verstärkt einsetzenden zweiten Welle Frauenbewegung in der BRD. „Redupers“ illustriert Problemlagen der Frauen dieser Zeit: Mutterschaft und Berufstätigkeit, alleinerziehende Mütter sowie männliche Vorherrschaft in Politik, Kunst und Kultur. Der Film zitiert dabei auch internationale Feministinnen und Künstlerinnen wie Valie Export oder Yvonne Rainer. Die Uraufführung fand 1978 im Forum der Berlinale statt.

Helke Sander, ebenfalls Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), veranstaltete gemeinsam mit der feministischen Filmemacherin Claudia von Alemann das „1. internationales Frauen-Filmseminar“ in Berlin, das als wichtige Entwicklungs- und Austauschplattform für Filmemacherinnen fungierte. Im November 2023 wird das Festival „feminist elsewheres“ im Kino Arsenal in Berlin das 50. Jubiläum dieses Ereignisses feiern, das feministische Fragen mit Filmkultur zusammenbrachte. In der Folge des Festivals von 1973 gründete 1974 Helke Sander die erste feministische Filmzeitschrift Europas, „Frauen und Film“, die bis heute erscheint.

Bereits gute zehn Jahre zuvor drehte 1968 die Regisseurin Ula Stöckl „Neun Leben hat die Katze“ über berufstätige Frauen in männlich dominierten Berufen, Freundinnenschaft und Beziehungsmodelle jenseits der heteronormativen Kleinfamilie. Der Spielfilm mit experimentellen Sequenzen gilt als erster deutscher feministischer Film und erzählt die Geschichten fünf weiblicher Figuren. Im Zentrum stehen die alltäglichen Erfahrungen von Katharina und Anne, ihr Begehren und ihre Lust. Während diverse Beziehungen mehr oder weniger sexueller Prägung mit verschiedenen Männern an den beiden vorüberziehen, ist ihre Freundinnenschaft die Konstante, um die sich die Handlung des Filmes entwickelt.

„Neun Leben hat die Katze“ wurde beim Internationalen Filmfestival Mannheim 1968 uraufgeführt, führte beim überforderten Publikum zu vielen Kontroversen und fand deshalb, wie viele ambitionierte Filme der Zeit, keinen Kinoverleih. Er wird seit einigen Jahren wiederentdeckt und ist ein Schlüsselfilm der damaligen Frauenbewegung. Noch vor Beginn der Zweiten Welle Feminismus zeigt Ula Stöckl nicht nur weibliche, emanzipatorische Perspektiven auf Beziehungen auf, sondern ist auch formal ihrer Zeit weit voraus. Traumsequenzen, die assoziative Montage und die farbliche Ausgestaltung ergänzen sich zu einem Gesamtbild, das die Befriedigung weiblicher Bedürfnisse in der zeitgenössischen Gesellschaft radikal in Frage stellt. Während ein männlicher Nebendarsteller lakonisch feststellt: „Wir leben nun mal in einer patriarchalen Erotik“, erklärt die Journalistin Katharina sehr deutlich: „Scheidung ist keine Lösung. Heiraten übrigens auch nicht.“ Nicht direkt politisch analysierend, ist „Neun Leben hat die Katze“ vielmehr einer radikalen Subjektivität verschrieben, die das Begehren seiner Protagonistinnen in den Mittelpunkt stellt.

Ula Stöckl selbst sah die Zeitumstände eher positiv: „Nie hatten Frauen so viele Möglichkeiten, zu tun, was sie wollten. Aber wussten sie, was sie wollen? Erzogen wurden sie zum Heiraten, Kinderkriegen und ‚Selbstlos‘ sein. Eine ganze Generation von Filmemacherinnen, meine Generation, machte sich auf die Suche nach der eigenen Identität.“ (aus: Wie haben Sie das gemacht? Aufzeichnungen zu Frauen und Filmen) Ula Stöckl studierte als erste Frau an der Hochschule für Gestaltung in Ulm Film. Ihre Filme befassen sich mit weiblichem Begehren und unterschiedlichsten Beziehungsgeflechten, Abweichungen und alternativen Modellen. Sie verwendet eine unverwechselbare Bildsprache jenseits konventioneller Erzählformen, die eine eigene, komplexe, manchmal traumhafte Wirklichkeit entstehen lässt. Stöckl war mit ihren Filmen ihrer Zeit stets voraus. Seit einigen Jahren wird ihr avantgardistisches Werk wiederentdeckt. Sie ist heute Professorin für Film an der University of Central Florida in den USA.

Der Filmverleih und Streamingdienst MUBI verschreibt sich der Förderung solch großartiger Filme und kuratiert regelmäßig entsprechend spannende Reihen. MUBI zeigt alle drei Filme in der Reihe „Was macht uns frei? Feministisches Kino aus der BRD“. Alle Filme erzählen, von heute betrachtet, aus einer weißen cis Perspektive. Sie sind das Zeugnis eines immer mehr erstarkenden Feminismus in den 1960er und 1970er Jahren und nur selten im Kino zu sehen. Sie stammen aus einer Zeit, in der Vergewaltigung in der Ehe nicht strafbar war – das ist erst seit 1997 der Fall. Aus einer Zeit, in der eine Ehefrau nur berufstätig sein durfte, wenn sie ihre Pflichten in Ehe und Familie nicht vernachlässigte, worüber bis 1977 der Ehemann entschied. Aus einer Zeit, in der Abtreibung zunächst unter Gefängnisstrafe verboten war und schließlich nur in Ausnahmefällen straffrei blieb. Die Abschaffung des § 218 Strafgesetzbuch ist bis heute eine feministische Grundsatzforderung. Die Vergegenwärtigung solcher vergangener Missstände, ihrer Auswirkungen sowie der Kämpfe dagegen, kann heutige feministische Debatten fördern und erleichtern. Denn die historische Perspektive einzunehmen, heißt auch, den Blick für aktuelle Diskurse zu schärfen.

„Neun Leben hat die Katze“, „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ sowie „Von wegen, Schicksal“ und ihre Regisseurinnen Ula Stöckl, Helke Sander und Helga Reidemeister sind Pionierinnen des feministischen Films und haben mit ihren Werken dazu beigetragen, feministische Kämpfe und ihre Ursachen langfristig sichtbar zu machen. Sie alle wurden zur Zeit des Nationalsozialismus geboren und haben den Zweiten Weltkrieg als Kinder miterleben müssen. Die Auswirkungen der transgenerationalen Traumata auf ihre und die folgenden Generationen werden in ihren Filmen immer wieder deutlich und finden durch künstlerische Verarbeitung sowie politische Analyse eine frühe Aufarbeitung.

Ihre Filme sind mittlerweile zu großen Teilen digital gesichert. Nach wie vor gibt es weitere relevante Werke des feministischen Filmerbes zu entdecken, zugänglich zu machen und zu sichern. Dazu leistet eine Reihe wie „Was macht uns frei?“ einen wichtigen Beitrag. Sie könnte weitergeführt werden mit anderen wichtigen Filmemacherinnen, die in dieser Zeit oder später ihre filmische Arbeit begonnen haben, beispielsweise Monika Treut, Ulrike Ottinger oder Helma Sanders-Brahms, ebenso DDR-Filmemacherinnen wie Helke Misselwitz, Evelyn Schmidt oder Petra Tschörtner. Die feministische Schlagkraft aller erwähnten Filmemacherinnen und die drängende Intensivität ihrer Filme ist bis heute ungebrochen. Die Auseinandersetzung mit ihrem filmischen Erbe ist ein wichtiger Tribut an feministische Wegbereiterinnen. Feiert Eure Wurzeln!

Auf MUBI bereits zu sehen sind „Neun Leben hat die Katze“ und „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“, ab dem 6. Juni 2023 folgt „Von wegen, Schicksal“.

Unter diesem Link, kannst du jetzt MUBI 30 Tage kostenlos testen und dir die Filmreihe „Was macht uns frei? Feministisches Kino aus der BRD“ anschauen.