Beziehungsweise queer und Việt Kiều von Phương Nguyễn

Über das Dazwischenliegen, innere Zerrissenheit, Finden eines Zuhauses, Mehrdimensionalität, Lieben und Trauern, Hinterfragen und Neugierig-Bleiben.

Im Flugzeug sitzen zwei kleine Kinder im Grundschulalter vor mir. Es sind die letzten Stunden, bevor wir am Frankfurter Flughafen landen und sich alle Passagier*innen in ganz Deutschland verteilen werden. Die Kinder sind unruhig, die Frau neben mir sagt: „Hai đứa này nghịch quá.“ Ich höre, wie sie miteinander reden, auf Tiếng việt und auf Deutsch.

Im Verlauf ihres Gesprächs höre ich, wie sich die deutschen Wörter und Klänge häufen, als würden sie die Unterhaltung dominieren. Als das Flugzeug landet und alle Passagier*innen ungeduldig warten, kann ich erkennen, dass es sich um eine junge vietnamesische Familie handelt, deren Geschichte zwar von Migration, aber nicht von Gastarbeit bestimmt zu sein scheint. Die beiden Jungen sind laut und albern herum, woraufhin der Vater rhetorisch fragt: „Có ai nói to như con không?“ Das Rumalbern geht weiter und der Vater ermahnt sie wieder: „Chỗ đông người phải. Ruhig. Leise.“ Ich ertappe meinen voyeuristischen Blick, als würde sich vor mir meine eigene Kindheit abspielen.

Hà Phương Nguyễn

Phương ist nicht-binär transmännlich, queer, neurodivers, of Color und vietnamesisch-deutsch. Geboren im Element Wasser und im Jahr der Katze betritt Phương durchs Schreiben, Malen und Bewegen den Bereich der eigenen Scham und der Vergebung; übt sich in Selbstehrlichkeit, bedingungsloser Liebe und sucht Wege aus der Selbstsabotage. Kunst ist für Phương wie Wasser: heilend, fließend, immer in Bewegung, kraftvoll, (über-) lebensnotwendig und zerstörerisch. Phương liebt beziehungsanarchistisch, ist intensiv, schüchtern und verträumt.

Ich muss in ähnlichem Alter wie die beiden Jungen gewesen sein, als die deutsche Sprache sich langsam, aber sicher in meinem Körper einnistete. Die Zeit, in der sich mein Körper allein im Fluss der vietnamesischen Melodie bewegte, liegt sehr weit zurück. In der Diaspora zu leben, bedeutet, die Muttersprache verlieren zu können und damit einen spirituellen, kulturellen und lebhaften Teil des Selbst. Die deutsche Sprache, ihre Phonetik und Geschichte hat mich deformiert, sich in meine Gestikulation und Körpersprache eingeschrieben. Ich denke, schreibe, lese und träume ausschließlich auf Deutsch, ich bin wütend auf Deutsch, ich bin traurig auf Deutsch, ich bin glücklich auf Deutsch, ich drücke meine Frustration auf Deutsch aus, wenn mir die vietnamesischen Vokabeln in Diskussionen mit meinen Eltern fehlen. Wenn ich Deutsch spreche, ist meine Phonetik teilweise sächsisch angehaucht und mein Sprachgebrauch entlarvt mich als Gen Z. Wenn ich Englisch spreche, habe ich statt eines vietnamesischen Akzents einen deutschen.

© Viki Mladenovski

Mein Körper spricht „model minor“, weil die Rassifizierung meines Körpers mich als „angepasst“ und als „Vorzeigemigrant*in“ innerhalb der weiß-deutschen Dominanzgesellschaft konstruiert, und meine Zunge klingt „việt kiều“.

Vietnamesisch ist meine Erstsprache, der erste Klang, den ich hörte, als ich auf die Welt kam. Und obwohl sie für mich eine sehr intime Sprache ist, ist sie zeitgleich eine mir weit entfernte Sprache.

Was machen wir also, wenn wir uns dazu entschieden haben, das Sprechen miteinander zu verlernen?

Wir passen uns der Verdeutschung an, akzeptieren, dass sie das „Ng“ in „Nguyễn“ nicht aussprechen können,  aber in „Schlange“ schon. Wir akzeptieren, dass sie uns neue Namen geben, damit wir nicht mehr gemobbt werden, akzeptieren, dass wir immer auf verschiedene Namen reagieren müssen, akzeptieren, dass Briefe nicht ankommen „können“ und wir mit anderen Personen verwechselt oder gar als verwandt eingestuft werden. Wir akzeptieren, dass es „Hanoi“ heißt, statt „Hà Nội“, dass „Phở“ heute eine „vegane Reisbandnudelsuppe“ ist, dass unser „Danke“ und unsere „Entschuldigung“ eine Unterwerfung symbolisieren.

Sprache ist persönlich, besonders für Menschen, die in der Diaspora leben. Sie schreibt sich in die eigene Identität ein und kann Räume innerhalb der Marginalisierung schaffen, wenn die Dominanzsprache betroffene Personen in Isolation drückt.

Für Menschen, die multilingual aufwachsen, ist die Frage nach der Identität multidimensional, denn sie setzt sich mit Sprachbrücken und -barrieren auseinander, mit Zugehörigkeit  und mehrfachen sozialen Ein- und Ausschlüssen.