#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik

#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Februar steht der Türkei eine historische Wahl bevor. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die am 14. Mai stattfinden sollen, könnten das Ende der zwanzigjährigen islamistischen, antikurdischen und patriarchalen Regierung Erdoğans bedeuten. Patriarchale Gewalt, Kriegstreiberei und Repressionen sind in der Türkei unter Erdoğans AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) an einen neuen Höhepunkt gelangt.

Ihre zunehmend autoritäre Politik baute sie dabei maßgeblich entlang einer frauen- und queerfeindlichen Agenda auf – weshalb ich in dieser Kolumne die letzten zwanzig Jahre aus feministischer Perspektive rekonstruieren will. Welche Auswirkungen hatte die patriarchale AKP-Politik auf Frauen und queere Menschen sowie auf Menschen außerhalb der Türkei? Und welche Rolle spielte Deutschland als enger Verbündeter der Türkei dabei?

Hêlîn Dirik

Hêlîn beschäftigt sich mit revolutionären feministischen Kämpfen und Ideen und ist Herausgeberin des feministischen Newsletters @dengnewsletter. Sie hat Geschichte und Philosophie studiert, lebt und arbeitet in Bologna und Offenbach.

Eine antifeministische Partei
Die 1980er- und 1990er-Jahre waren in der Türkei von einem Militärputsch, blutiger staatlicher Gewalt gegen Kurd*innen und einer korrupten, instabilen und ständig wechselnden Regierung geprägt. Um die Jahrtausendwende wurde das Misstrauen gegenüber der damaligen (ebenfalls rechten) Regierung nach den zwei schweren Erdbeben 1999 und einer Wirtschaftskrise 2001 noch verstärkt. Die AKP, die sich 2001 aus islamistischen und rechten Politikern zusammenschloss, machte sich diese Umstände zunutze und zog 2002 mit dem Versprechen von Transparenz, Demokratisierung, Stabilität und dem Aufbau der Wirtschaft in das Parlament ein.

Unter ihrer Regierung wurden anfangs sogar einige Reformen im Zivilgesetzbuch durchgesetzt, die die Stellung von Frauen verbessern sollten (z. B. galt der Mann gesetzlich nicht mehr als Oberhaupt der Familie und Ehegatten wurden in der Ehe gleichgestellt). Auch Kopftuchverbote wurden abgeschafft. Damit konnte die AKP, die über die Jahre sogar eigene Frauenstrukturen in Form von Vereinen und Flügelpartei aufbaute, insbesondere muslimische Frauen mobilisieren. Die Frauen aus ihren Reihen hatten mit ihrer politischen Arbeit im Hintergrund zuvor maßgeblich zum Wahlsieg der AKP beigetragen. Frauenpolitik, wie sich mit der Zeit zeigte, war jedoch nur in einem Rahmen möglich, der der konservativen und antifeministischen Ideologie der Partei entsprach. Der AKP-nahe Frauenverein KADEM lud Erdoğan 2014 zu einer Rede ein, in der er sagte, man könne Frauen und Männer nicht gleichstellen, wie es „in kommunistischen Regimes“ der Fall sei. Feminist*innen würden einfach nicht verstehen, dass das „gegen die menschliche Natur“ sei.

© Bär Kittelmann

Angriffe gegen sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung
Während die Regierung feministische Bewegungen und Ideen attackierte, hob sie die „besondere Rolle“ von Frauen in seiner konservativen Geschlechterpolitik hervor: Erdoğan sprach sich über die Jahre etwa immer wieder gegen Abtreibung, Verhütung und sexuelle Selbstbestimmung aus, um dann an Frauen zu appellieren, sie seien die Einzigen, die die „Kastration des türkischen Volkes“ aufhalten könnten, indem sie mindestens drei Kinder bekommen sollten. Viele Aktivist*innen sprechen mittlerweile von einem faktischen Abtreibungsverbot, da sich aufgrund von staatlichem Druck viele Krankenhäuser weigern, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.

In Erdoğans Weltanschauung müssten alle ihre von Gott bestimmte Rolle in der traditionellen Kernfamilie ausüben, weshalb er in all den Jahren – wenig überraschend – besonders queeren Menschen den Krieg erklärt hat. „Sie sind darauf aus, unsere Familienstruktur zu verwahrlosen. Wir werden tun, was nötig ist“, sagte Erdoğan noch vor einigen Monaten gegenüber Journalist*innen. Und um für die kommenden Wahlen Stimmen aus extrem rechten und konservativen Kreisen zu gewinnen, erklärte er im April außerdem: „Wir lassen nicht zu, dass perverse Bewegungen wie LGBT in unserem Land existieren und unserer Nation aufgezwungen werden.“ Dieses Narrativ griff die Regierung im Laufe der letzten Jahre immer wieder auf: Als die Türkei 2021 aus dem völkerrechtlichen „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ – kurz Istanbul-Konvention – zurücktrat, war die absurde Begründung, dass die Istanbul-Konvention die „Normalisierung von Homosexualität“ fördere und die „familiären Werte der Türkei“ gefährde.

Femizidale und queerfeindliche Politik
Welche Taten diese Politik  bewirkte, ist verheerend: Die Anzahl von Feminiziden ist in der Türkei während der AKP-Periode enorm gestiegen. Allein innerhalb der ersten sieben Jahre der AKP-Regierung war die Zahl laut Angaben des Justizministeriums aus 2009 um 1400 Prozent gestiegen. Die Plattform Wir werden Feminizide stoppen meldet seit 2010 jährlich Hunderte von Fällen, mit steigender Tendenz, in denen Frauen ermordet oder unter verdächtigen Umständen tot aufgefunden wurden. Und trotz der sich jährlich vermehrenden Zahlen ist die AKP, die seit einigen Jahren mit der rechtsextremen MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, dt: Partei der Nationalistischen Bewegung) regiert, 2021 aus der Istanbul-Konvention ausgetreten. Damit wurde Betroffenen ein weiterer Schlag versetzt und noch mehr patriarchaler Gewalt der Weg geebnet, denn seit dem Austritt sind die Femizidfälle nochmals deutlich angestiegen.

Das Übereinkommen verpflichtete ebenfalls zum Schutz von queeren Menschen. Mit dem Rücktritt der Türkei aus dem Abkommen sind auch wieder Hasskampagnen gegen die queere Community gestiegen. In den Jahren zuvor wurden queere Menschen zunehmend attackiert: Auf den Pride-Demos, die seit 2015 verboten werden, kommt es jedes Jahr zu Polizeigewalt und Festnahmen. Letzten September organisierten der Regierung nahestehende Gruppen eine rechte, queerfeindliche Demo, auf der zum Verbot von „LGBTQ-Propaganda“ und zum „Schutz der Familie“ aufgerufen wurde.

Zu nennen sind außerdem die staatlichen Feminizide, die sich insbesondere gegen kurdische Frauen und politische Gefangene richten. Ein bekannter Fall ist der Tod von Garibe Gezer – die kurdische politische Gefangene starb im Dezember 2021, nachdem sie in Einzelhaft gefoltert wurde. Dass so viele Frauen unter der AKP-Regierung durch die türkische Polizei und Armee oder durch ihnen nahestehende Milizen ermordet wurden, ist kein Zufall. Die Angriffe richten sich gezielt gegen Aktivist*innen und Schlüsselfiguren revolutionärer Bewegungen, z. B. die kurdische Politikerin Hevrîn Xelef, die 2019 bei einer Besatzungsoperation der Türkei in Rojava/Nordsyrien ermordet wurde.

Staatliche Gewalt und Kriminalisierung über Grenzen hinweg
Angriffe an den türkischen Außengrenzen waren ein weiterer zentraler Aspekt der patriarchalen Politik Erdoğans: Die Selbstverwaltung in Rojava/Nordsyrien etwa, die sich basierend auf Feminismus und Rätedemokratie organisiert, wird seit Jahren immer wieder von der türkischen Armee angegriffen. Die Türkei ist aktiv mit  islamistischen und patriarchalen Milizen in Syrien verbündet, die besetzte Gebiete wie Afrîn kontrollieren, und festigt damit deren Macht in der Region. Zuvor unterstützte sie jahrelang den IS, der für die Ermordung Tausender Zivilist*innen, Genozide an den Êzîd*innen und die Entführung und den sexuellen Missbrauch an Tausenden Frauen und Mädchen in der Region verantwortlich ist.

Parallel zu diesen Ereignissen wurden kurdische, linke und feministische Aktivist*innen und Politiker*innen im Inland massiv kriminalisiert. In den Knästen sitzen Tausende politische Gefangene, darunter wichtige Persönlichkeiten der kurdischen Frauenbewegung und der linken HDP (Halkların Demokratik Partisi, dt.: Demokratische Partei der Völker), die unter Terrorismusvorwürfen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

Deutsche Rüstungsexporte im Wert von Milliarden von Euro flossen in den letzten Jahren in die Türkei, während die Türkei den IS unterstützte und die Frauenrevolution in Rojava angriff. Allein 2018, in dem Jahr, in dem die Türkei völkerrechtswidrig im nordsyrischen Afrîn einmarschierte, machten die Lieferungen an die Türkei mit 242,8 Millionen Euro nahezu ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte aus. In Deutschland wurden kurdische Aktivist*innen abgeschoben und zu Haftstrafen verurteilt, Fahnen von Frauenorganisationen verboten und sogar kurdische Verlagshäuser wie der Mezopotamien Verlag geschlossen, in welchem unter anderem wichtige Literatur der kurdischen Frauenbewegung veröffentlicht wurde. Das jüngste Beispiel der Kriminalisierung der kurdischen Bewegung ist die Streichung der Räumlichkeiten für die Konferenz „Die kapitalistische Moderne herausfordern – Wir wollen unsere Welt zurück“ im April durch die Uni Hamburg – veranlasst durch den Verfassungsschutz mit der Begründung, es sei eine extremistische Veranstaltung. Auch die jetzige Ampel-Regierung hält an engen Beziehungen mit ihrem NATO-Verbündeten fest trotz ihrer sogenannten feministischen Außenpolitik.

Trotz allem: Unbeugsamer Widerstand und Hoffnung
Die türkische Regierung hat seit Jahren ihren Krieg in Kurdistan verschärft, eine Zunahme patriarchaler Gewalt bewirkt und Hunderttausende Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit getrieben. Spätestens mit dem schweren Erdbeben im Februar mit Hunderttausenden Opfern hat die AKP ihr Gesicht verloren – jahrelang wurden Bauvorschriften missachtet, billiges Material verwendet sowie Profite vor Menschenleben gestellt. In vielen alevitischen, arabischen und kurdischen Gemeinden und Dörfern wurde Hilfe verweigert. Mit der kommenden Wahl hoffen viele auf ein Ende der AKP-Herrschaft, einen Wiederaufbau des Landes und bessere Zeiten.

Aus revolutionärer linker Perspektive muss aber auch betont werden: Die Republik Türkei, die jetzt seit hundert Jahren existiert, wurde auf einer elitären, nationalistischen und antikommunistischen Ideologie gegründet. Dementsprechend waren sich alle Regierungen in der Geschichte der Republik in ihrer Politik gegen Minderheiten und in der Verfolgung von Arbeiter*innenbewegungen und linken Revolutionären einig. Das derzeit stärkste oppositionelle Wahlbündnis namens „Allianz der Nation“ ist – wer hätte es gedacht – ebenfalls rechts.

Die zwei Jahrzehnte unter der AKP waren dennoch von beispiellos patriarchaler und staatlicher Gewalt geprägt. Mit dem Sturz Erdoğans kann man zumindest auf ein Ende der extremen Repressionen und Einschüchterung hoffen, die es den Menschen im Land fast unmöglich gemacht hat, sich zu organisieren.

Feministischer Widerstand gegen den Staat findet seit Jahren unter Kriminalisierung, aus dem Exil oder von den Gefängnissen aus statt. Trotz enormen staatlichen Drucks organisieren sich Feminist*innen, Frauenbewegungen und queere Bewegungen weiterhin gegen patriarchale und staatliche Gewalt. Trotz Verboten gehen jährlich Zehntausende am 08. März, dem feministischen Kampftag, oder während der Pride auf die Straßen. Trotz Invasionen und psychologischer Kriegsführung hören kurdische Frauen nicht auf, sich gegen Besatzung zu wehren und ihre Utopien zu verteidigen. Es ist ihnen zu verdanken, wenn die Erdoğan-Regierung bald auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.

Und, wer weiß, vielleicht landet irgendwann das ganze System der nationalistischen, antikurdischen Republik Türkei auf dem Müllhaufen der Geschichte. Und vielleicht wird der Weg frei gekämpft zu einer Gesellschaft, in der kapitalistische und patriarchale Ausbeutung und Gewalt der Vergangenheit angehören und Minderheiten, Frauen, Queers, Arbeiter*innen und alle Unterdrückten selbstorganisiert und in Frieden leben.