Dein Taxi ist da
Damani schuftet jeden Tag bis zur Erschöpfung für eine Taxi-App als Fahrerin. Nachdem sie ihren Vater verloren hat, muss sie nicht nur die Miete für ihre Kellerwohnung eintreiben, sondern sich auch um ihre pflegebedürftige Mutter zu Hause kümmern. Autorin Priya Guns schildert am Fall ihrer Protagonistin in ihrem Debütroman „Dein Taxi ist da“ die prekäre Lebenssituation einer großen Masse von Menschen, die im System Kapitalismus einfach nicht gewinnen kann. Geldnot, unangenehme Kund*innen und sexuelle Belästigung sind nur ein paar Dinge, mit denen Damani tagtäglich in der Großstadt zu kämpfen hat. Nur ihre Freund*innen und der alternative Ortstreff lassen sie ihren Verstand behalten. Doch als Damani anfängt, die mysteriöse Jolene zu daten, ändert sich ihr Lebensgefühl. Jolene ist wohlhabend, privilegiert und weiß – und damit alles, was Damani nicht ist. Sie scheint ein neues Leben für Damani bereitzuhalten, doch die Dinge können gar nicht so gut sein, wie man es sich für die Protagonistin wünscht. Genau durch Jolene passiert etwas Schreckliches und die schon zuvor dramatische Situation in Damanis Leben spitzt sich zu. Hier nimmt das Buch ordentlich Fahrt auf und Guns lässt die Grenzen von Aktivismus, linker Szene und Damanis Wut und Emotionalität auf gekonnte Weise verschwimmen. Lorina Speder

Priya Guns „Dein Taxi ist da“ ( Aus dem Englischen von Mayela Gerhardt. Blumenbar, 329 S., 23 Euro )

Femi(ni)zide
Die Wiener Vernetzung Claim the Space verkündet unter dem Slogan „Nehmt ihr uns eine*, antworten wir alle“ im öffentlichen Raum lautstark ihre Wut über vergeschlechtlichte Gewalt, und sie hat den Vorsatz, keinen Mord an FLINTA unbeantwortet zu lassen. Das in diesem Umfeld entstandene Buch „Femi(ni)zide“ thematisiert, ausgehend von den Kämpfen in Lateinamerika und der Karibik, die den Morden zugrunde liegenden patriarchalen Gewaltverhältnisse. Feministisch-kritisch werden Institutionen und Normen hinterfragt, die diese Gewalt ermöglichen. Misogyne Gewalt darf nicht als individualisierte Erfahrung verharmlost oder gar den Betroffenen zugeschoben werden. Das Autor*innenkollektiv Biwi Kefempom will die zugrunde liegenden Strukturen begreifbar machen und zu solidarischem Handeln inspirieren. Angst und Gewalt sollten niemals normal sein. Das postulieren die Verfasser*innen in klarer Sprache, wenngleich sich die akademische Herkunft stets mitliest. „Femi(ni)zide“ ist eine umfassende Abhandlung, die patriarchale Gewalt als solche benennt, Intersektionalität mitdenkt, Zusammenhänge sichtbar macht, vielfältige Protestformen darstellt und zu Aktivismus anstiften will – „bis wir keinen einzigen Femi(ni)zid mehr politisieren müssen!“. Daniela Chmelik

Autor*innenkollektiv Biwi Kefempom „Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ ( Verbrecher Verlag, 300 S., 19 Euro )

Hass
Eben noch radikale Zärtlichkeit, jetzt Hass. Dass und wie das zusammengeht, beschreibt Şeyda Kurt in ihrem neuen Buch, dem Nachfolger von „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“. Wie schon in ihrem Erstling interessiert Kurt sich für die Widerständigkeit des Gefühls, das in der neoliberalen „Friede Freude Eierkuchen“-Gesellschaft vor allem eins ist: verpönt. Und nicht nur das. Wer hasst, wird verachtet. Denn dass die Fähigkeit zu hassen rassifiziert ist und entsprechend abgewertet wird, hat nicht nur in Deutschland faschistische Tradition. Verachtung wiederum identifiziert Kurt als die unbeteiligte Haltung der Privilegierten, die gar nicht erst hassen müssen und denen ein pikiertes „Hass? – Das ist aber ein starkes Wort!“ nur allzu leicht von den Lippen geht. Solchen gefährlichen Naivitäten stellt Kurt auf knapp 200 Seiten zahlreiche Notizen, Gedanken und Erinnerungen entgegen. Neben Autobiografischem wird sie bei Philosoph*innen wie Frantz Fanon und Elsa Dorlin oder in der Geschichte des Widerstands von Romn:ja und Sinti:zze, kurdischen Kämpfer*innen und dem Topos der jüdischen Rache fündig. Ohne Verbindungen zu ziehen, wo keine sind, nähert Kurt sich auf diesem Weg dem Hass als revolutionäre Strategie, die zuweilen so hoffnungsvoll leuchtet wie das grün-lila Cover des Buches. Eva Königshofen

Şeyda Kurt „Hass. Von der Macht eines widerständigen Gefühls“ ( Harper Collins, 200 S., 18 Euro )

I’m A Fan
Eine namenlose Ich-Erzählerin hat eine Affäre mit einem berühmten Künstler. Er ist älter, hat Geld und Einfluss und vor allem hat er eine Ehefrau und neben One-Night-Stands eine Affäre, die ihm wichtiger ist als die mit der Protagonistin. Diese Hauptaffäre nennt die Ich-Erzählerin nur „die Frau, von der ich besessen bin“. Die Protagonistin stalkt sie. Verfolgt ihr ganzes Leben in den Sozialen Medien – was nicht weiter schwer ist. Denn die Frau ist Influencerin und stellt alles bereitwillig ins Netz. Der Roman „I’m A Fan“ handelt von einer toxischen Abhängigkeit. Die Protagonistin verliert sich völlig in ihrer Obsession für den Künstler, der sie schlecht behandelt. Außerdem entwickelt sie eine ungesunde Fixierung auf ihre „Konkurrentin“. Weiß, reich, absolut privilegiert – alles das, was die Protagonistin nicht ist. Sheena Patel geht in ihrem Debüt gleichzeitig unterhaltsam, aber auch differenziert mit Themen unserer Zeit um: ungleiche Machtverhältnisse, soziale Herkunft, Race und der Einfluss Sozialer Medien. Geschrieben ist das Buch in sehr kurzen Kapiteln mit humorvollen Titeln. Das liest sich fast schon wie die Caption unter einem Instagram-Post. Dadurch entwickelt Patels Roman ein krasses Tempo, einen Sog – ganz wie beim Scrollen eines Feeds. Tamara Marszalkowski

Sheena Patel „I’m A Fan“ ( Aus dem Englischen von Anabelle Assaf. Hanser blau, 236 S., 20 Euro )

Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne
„Mal eben die Welt ändern? Vergiss es! Wir Oldies über fünfzig machen überhaupt nichts mehr schnell. Höchstens abends das Licht aus“, kalauert Stevie Schmiedel, Jahrgang 1971, in ihrem Buch. Die Gründerin der feministischen Organisation Pinkstinks plädiert darin für mehr Verständnis unter Feminist*innen und einen entspannteren Umgang mit Gendersprache. Schmiedel dröselt die wichtigsten Debatten für alle verständlich auf, um einen Diskurs anzustoßen – „egal, ob man eher links steht oder konservative Positionen vertritt“. Sie bedauert, dass Pinkstinks nie den Mainstream erreichen konnte, „weil wir dauernd damit beschäftigt waren, die feministische Szene zufriedenzustellen“. Dabei gab es doch Wichtigeres (nicht nur) in Deutschland, dem Land, „in dem jede 7. Frau schon sexualisierte Gewalt erlebt hat, jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner ermordet wird, Altersarmut vorrangig weiblich ist“. Schmiedels Buch, ein Mix aus Fakten und Betrachtungen einer prominenten Fachfrau, für die sich „das Miteinander viel besser und produktiver anfühlte, als immer ‚anti‘ sein zu müssen“, macht dank schwarzen Humors auch Spaß. Toll wäre, wenn Martin Schröder, der in seinem Buch „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ behauptet, die Emanzipation sei im Wesentlichen abgeschlossen, da es Frauen und Männern gleich gut ginge, mal im TV auf Schmiedel treffen würde. Voll peacig natürlich. Barbara Schulz

Stevie Schmiedel „Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne. Warum uns ein bisschen Genderwahn guttut“ ( Kösel, 256 S., 22 Euro )

Nach Trans
Nicht vom Alter der Autorin aufs Glatteis führen lassen. Elisabeth Duval (*2000) hat mit „Nach Trans. Sex, Gender und die Linke“ einen äußerst diskursiven und akademischen Text geschrieben – es ist übrigens nicht ihr erstes Buch. Hier nun handelt es sich weder um ein Einstiegswerk noch um einen persönlichen Erfahrungsbericht, sondern setzt Grundwissen voraus, was den Stand des Diskurses und die Verortung von trans Personen im Rahmen von Gender und Gesellschaft betrifft. Ebenso sollten Leser*innen eine gewisse Affinität zu Fremdwörtern und theoretischen Auseinandersetzungen haben. Nicht umsonst heißt Duvals Buch „Nach Trans“ – die spanische Autorin und Philosophin denkt bekannte Thesen und Analysen weiter. Sie untersucht unter anderem, was Gender konstituiert, argumentiert mit der Begründung, trans sei keine freie Entscheidung, gegen den Begriff „Selbstbestimmung“, sie nimmt Texte des trans Philosophen Paul B. Preciado wie auch der trans-ausschließenden Feministin (Duval lehnt die Bezeichnung TERF ab) Kathleen Stock auseinander, kritisiert (zumindest teilweise) das spanische Trans-Gesetz und plädiert dafür, Brücken zu schlagen. Man mag Duval nicht in jeder ihrer Meinungen – die sie fundiert argumentiert – zustimmen und dass sie sich in Duktus und vorausgesetztem Wissen ausschließlich an ein sehr belesenes Publikum richtet, ist schade. Aber: „Nach Trans“ ist definitiv ein Buch, das den Diskurs vorantreibt. Isabella Caldart

Elizabeth Duval „Nach Trans. Sex, Gender und die Linke“ ( Aus dem Spanischen von Luisa Donnerberg. Wagenbach Verlag, 224 S., 24 Euro )

 

Untenrum
Das queerfeministische Kunstkollektiv glitterclit hat bisher mit kuscheligen Geschlechtsmodellen für sexuelle Aufklärung gesorgt. Nun haben Noa Lovis Peifer und Linu Lätitia Blatt ihr erstes Bilderbuch geschrieben: „Untenrum. Und wie sagst du?“ klärt auf über Geschlechtsteile in allen Variationen. Erzählt wird die Geschichte anhand der Perspektive des Kindes Lo, das allerhand wissen will: Wie Untenrums aussehen und heißen, ob die Periode wehtut oder wie ein Baby entsteht. Peifer und Blatt schaffen es dabei nicht nur, Lo als nicht-gegenderte*n Entdecker*in zu entwerfen, der*die alles ganz unverkrampft erforscht. Sie integrieren auch die trans Figur Onte Stef, zeigen die Analogie von Penis und Klitoris auf und schreiben über inter* Untenrums. Wie nebenbei thematisieren sie zudem Konsens, Grenzen und Scham. Die Bezugspersonen in diesem Buch erklären bereitwillig und alltäglich – ob am Strand, in der Kita oder beim Wäschemachen. Yayo Kawamura hat diesen unverkrampften Stil in humorvolle, diversitätsbewusste Illustrationen übersetzt. „Untenrum“ ist ganz nah dran an kindlicher Neugier und klärt genauso vielfältig wie ermächtigend auf. Was für ein Glück für alle, die zu Untenrums noch etwas lernen wollen, denn hier ist endlich ein Bilderbuch, in dem Aufklärung untenrum, äh, rundum gelungen ist! Laura Schiemann

Noa Lovis Pfeifer, Linu Lätitia Blatt & Yayo Kawamura „Untenrum. Und wie sagst du?“ ( Beltz & Gelberg, 38 S., 16 Euro, ab 4 Jahren )

Empusion
Neun Romane und drei Erzählbände hat die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk bislang veröffentlicht. Seit dieser Auszeichnung wird die in Breslau lebende Erfolgsautorin zunehmend auch außerhalb ihres Heimatlands mit Begeisterung gelesen, obwohl ihr literarisches Œuvre sowohl sprachlich als auch formal alles andere als leichte Kost ist. In „Empusion“ – der Titel verweist auf ein weibliches Schreckgespenst in der griechischen Mythologie – knüpft sie sich jetzt einen echten Literaturklassiker vor. Schauplatz der auf ein Minimum beschränkten Handlung ist ein Sanatorium für Tuberkulosekranke in Schlesien – das erste der Welt. Dort trifft der im Herbst 1913 angereiste Student Wojnicz auf Kurgäste aus dem europäischen Bürgertum, die den großen Fragen der menschlichen Existenz nachgehen. Wer jetzt an den „Zauberberg“ denkt, liegt damit nicht falsch. Tokarczuks jüngstes Werk spielt unverhohlen auf Thomas Manns Opus magnum an, das zu ihren Lieblingsbüchern zählt. Präzise legt sie die Schwächen des Originals offen und kommentiert die Abwesenheit von Frauen, die entweder als „konturlose flüchtige Wesen“ oder als „Gefäß, dem Menschen entspringen“, wahrgenommen werden. Gewitzt listet sie im Nachwort all jene Autoren der Weltliteratur auf, deren misogyne Ansichten im Verlauf der Handlung paraphrasiert oder zitiert wurden. Nimm das, Shakespeare! Katja Peglow

Olga Tokarczuk „Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“ ( Aus dem Polnischen von Lisa Palmes & Lothar Quinkenstein. Kampa, 384 S., 26 Euro )

Böses Glück
Zu Lebzeiten schien die große dänische Autorin Tove Ditlevsen wie aus der Zeit gefallen. So geht es auch den Protagonist*innen ihrer Storys, die jetzt erstmals in deutscher Übersetzung im Band „Böses Glück“ erscheinen. In Kurzgeschichten skizziert die Autorin hier meistens Frauen, deren Rollen als Ehefrau, Partnerin oder Schwiegertochter durch schicksalhafte Ereignisse ins Bröckeln geraten. So wird eine Katze wichtig zum mentalen Überleben nach einer Fehlgeburt oder ein Regenschirm das Symbol für Unabhängigkeit und Freiheit in einer unglücklichen Beziehung. In den Geschichten brodelt es gewaltig unter dem kühlen literarischen Ton, den Ditlevsen so gut beherrscht. Emotionen werden zwar angesprochen, aber die Autorin entschlüsselt das Innenleben ihrer Protagonist*innen nie vollkommen, wodurch die Geschichten unerwartete Momente und Wandlungen enthalten. Das Format der Kurzgeschichte trägt außerdem dazu bei, dass die Charaktere nach dem kurzen Blick in ihr komplexes Beziehungsgeflecht im Gedächtnis bleiben und einen nicht verlassen. Nach Ditlevsens Werken der Kopenhagen-Trilogie, die vor zwei Jahren neu übersetzt erschienen und verdient zu Bestsellern wurden, ist die Wiederentdeckung der Autorin im deutschsprachigen Raum und das Erscheinen der Storys wahrhaftig ein „Glück“ für Lesende. Lorina Speder

Tove Ditlevsen „Böses Glück. Storys“ (Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau, 176 S., 20 Euro )

I’m Glad My Mom Died
Jennette McCurdy nimmt von ihrer Mutter Abschied – Debra erliegt ihrer zweiten Krebserkrankung. Am Totenbett möchte jedes ihrer Kinder ihr eine freudige, letzte Botschaft mitteilen. Jennette, Kinderstar, bekannt aus Serien wie „iCarly“ und „Sam & Cat“, denkt, sie kann all das toppen: „Mommy, ich bin jetzt so dünn, ich habe es endlich runter auf 40 Kilo geschafft.“ Mit Anfang zwanzig verliert sie mit dem Tod ihrer Mutter die Frau, die ihr bis vor Kurzem noch die Haare gewaschen hat. Jennette wurde nicht nur bis ins späte Teeniealter gemeinsam mit ihren Brüdern geduscht, sie wurde auch so kontrolliert, dass sie nicht einmal eine eigene Lieblingsfarbe wählen konnte. Debra war eine Hoarderin, auf deren noch so kleinste Gefühlsregung Jennette adäquat reagieren musste, um keinen Wutanfall auszulösen. Und dann sind da noch die Missbrauchsvorwürfe am Set der TV-Serien, in denen Jennette mitspielte. „I’m Glad My Mom Died“ ist deprimierend, wichtig – und richtig witzig, vor allem durch den speziellen Ton, der so manche*n Leser*in an Jennettes Paraderolle Sam Puckett erinnern dürfte. Vielleicht weiß sie selbst nicht, wo Jennette aufhört und Sam beginnt – weil sie erst nach dem Tod ihrer Mutter anfangen konnte, ihr eigenes Leben zu leben. Das verarbeitet sie in diesem, ihrem Befreiungsschlag. Simone Bauer

Jennette McCurdy „I’m Glad My Mom Died. Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung“ ( Aus dem Englischen von Sylvia Bieker & Henriette Zeltner-Shane. S. Fischer, 320 S., 18 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/23.