Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Comics
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Amalia
Was Aude Picault in ihrer zweiten ins Deutsche übersetzten Graphic Novel zu Papier bringt, ist so lebensnah, dass es schmerzt. Und trotzdem lustig. Die titelgebende Amalia hetzt zwischen den Bedürfnissen eines lebenslustigen, eigensinnigen Kleinkinds, einer Part-Time-Teenage Tochter mit Influencer-Ambitionen aus einer vorigen Beziehung ihres Partners Karim, einem Bullshit-Job mit endlosen Meetings und dem alltäglichen Haushaltsstress hin und her. Eigene Bedürfnisse? Keine Zeit, während nonstop Hiobsbotschaften über die Verpestung der Umwelt auf sie einprasseln. Ein Ohnmachtsanfall während einer Videokonferenz zwingt sie zur Pause – und lässt sie und ihre Familie ihre Verbindung zur Natur und damit auch zur kapitalistischen Produktionsweise überdenken. Auch wenn die „Lösung“, die Picault hier mit ihren bunt cartoonigen, fast kindlich rund gefüllten Panels vorschlägt, ein bisschen zu einfach anmutet – Karim sattelt von Brotfabrik auf Biobäckerei um, Amalia wechselt zu Teilzeit –, gelingt es ihr, mit wenigen Strichen große Themen von funny bis herzzerreißend auf den Punkt zu bringen. Sonja Eismann

Aude Picault „Amalia“ ( Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt, 148 S., 24 Euro )

Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Comics
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Im ewigen Kreis
Vielleicht ist es der Dunstkreis der Neuen Frankfurter Schule von Cartoon-Größen wie F.K. Waechter, F.W. Bernstein oder Chlodwig Poth, die einst Satiremagazine wie die „Titanic“ prägten. Jedenfalls weist die deutlich jüngere Frankfurter Zeichnerin und Autorin ganz ähnliche Merkmale subversiven Humors auf, den sie ebenfalls im alltäglichen Trott aufspürt und damit unsere Unvollkommenheit und Uncoolness entlarvt. Poetisch, jedoch gnadenlos stellt sie mit kritzeligem Strich die Ungereimtheiten dessen dar, was wir so machen – und wie das trotz eines philosophischen Gedankenüberbaus oft unbeholfen und peinlich ausfällt. In dieser Sammlung finden sich Einzelbilder, aber auch kleine Serien mit festen Charakteren, wie „zwei StudentInnen, die durch die Stadt marschieren“ oder „die Schwangere und spätere Mutter“. In kleinen Begebenheiten, die so wirken, als wären sie selbst erlebt, werden große Themen wie Weltuntergang, Tod und Weihnachten verhandelt. Auch der lockere, pointierte Zeichenstil mit den teilweise „uncoolen“ Buntstiftkolorierungen zeigt scharfe Beobachtungsgabe und erinnert an die „Letzte Ausfahrt Sossenheim“ von Chlodwig Poth. Imke Staats

Christiane Haas „Im ewigen Kreis“ ( Avant Verlag, 144 S., 18 Euro )

Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Comics
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Die große Leere
Manel lebt in einer Welt, in der die Menschen sterben, wenn man sie vergisst. Ja, sie wird sogar bezahlt dafür, den Namen von Fremden Aufmerksamkeit zu schenken, damit diese am Leben bleiben. Ihr eigenes Problem, das sie vehement ignoriert, ist aber: Sie teilt den Namen mit einer berühmten Sängerin. Manels Namensvetterin nennt ihr Album – natürlich – „Mein Name ist in aller Munde“. Dennoch wird das Manel nicht retten. Léa Murawiec studierte Grafikdesign und Comics in Paris, Angoulême und Shanghai. An Letzteres erinnern auch die Straßen, durch die Manel hechtet. Die Reklamen sind bunt, der Rest der Graphic Novel mit dickem Strich gezeichnet. Der Hintergrund ist sonst nicht sehr detailreich, aber die Bewegungen wirken dynamisch und trotz Minimalismus überzeugen die Gesichtsausdrücke. Manel und ihre Bezugsperson Ali wollen dieser aufmerksamkeitsheischenden Stadt entfliehen. Doch Manel erleidet einen Herzinfarkt, als man sich nur noch für die prominente Manel interessiert. Mediale Präsenz hat der Bücherwurm sowieso nicht. Ist ihr Unwillen, an diesem Zirkus teilzunehmen, also ihr Todesurteil? Und was wartet außerhalb der Stadt? Die sogenannte große Leere. Vom Weg dorthin erzählt Léa Murawiec humorvoll in ihrem gleichnamigen preisgekrönten Werk. Simone Bauer

 Léa Murawiec „Die große Leere“ ( Aus dem Französischen von Im ewigen Kreis Christoph Schuler. Edition Moderne, 208 S., 34 Euro )

Missy Magazine 03/23, Sonderausgabe, Comics
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Das Geheimnis meiner Superkraft
Der Titel von Alison Bechdels neuer Graphic Novel klingt nach Superheld*innencomic. Doch das aktuelle Werk der Zeichnerin und Autorin – nach „Fun Home“ und „Wer ist hier die Mutter?“ das dritte in der Reihe Vater, Mutter, Kind – hebt als schweißtriefende Muskelbibel an: Die Protagonistin stemmt darin verbissen Gewichte, radelt auf Berge, hängt in Advanced-Yoga-Posen von der Decke. Schon kommt beim Lesen die bange Frage auf, ob die Schöpferin des Comicstrips „Dykes To Watch Out For“, in dem sie in den 1980er-Jahren Basiskriterien für Filme vorstellte, die als Bechdel-Test sprichwörtlich geworden sind, sich hier wirklich ausschließlich mit dem Stählen des eigenen Körpers beschäftigt. Es bedarf einiger Gipfelbesteigungen, um dem, was die gepanzerte Hülle beschützt, näherzukommen. Beim Marathon durch ihre sechs Lebensjahrzehnte bearbeitet die autobiografische Hauptfigur hartnäckige Fragen wie die, ob das Bezwingen äußerer Gegebenheiten den Tod auf Abstand halten kann und wie Weiblichkeit und Autonomie in Einklang zu bringen sind. In souveräner Erzählweise, mit humorvollen Bildern und immens selbstironisch kann diese Fragen vielleicht nur eine feministische Superheldin beantworten. Katja Strube

Alison Bechdel „Das Geheimnis meiner Superkraft“ ( Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger & Tobias Schnettler. Kiepenheuer & Witsch, 240 S., 30 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/23.