Allgemein ist von Genuss die Rede, wenn mindestens ein Sinnesorgan positiv stimuliert wird, bspw. gustatorisch durch Essen, auditiv durch Musik oder taktil durch eine Massage oder Sex. Dabei genießen nicht alle Menschen gleich. Wie genussfähig jemand ist, kann kulturell oder regional variieren oder aber psychisch bedingt sein: Genussunfähigkeit gilt als eine Begleiterscheinung schwerer Depressionen. Das Nürnberger Institut für Genussforschung fand im Jahr 2000 im Rahmen einer Studie heraus, dass das Genussverhalten geschlechterspezifische Unterschiede aufweisen kann und weibliches Genussempfinden differenzierter und anspruchsvoller ist. Psychoaktive Substanzen wie Tabak, Alkohol, aber auch Kaffee gelten als Genussmittel. Apropos Konsum: Die Zentrierung von Genuss, Vergnügen und Lust findet in einer ganzen Reihe von hedonistischen Theorien statt. Bereits in der traditionellen psychoanalytischen Theorie nach Sigmund Freud wird von einem „Lustprinzip“ ausgegangen, das nach der möglichst schnellen Befriedigung aller Bedürfnisse und Triebe strebt und „Unlust“ zu vermeiden versucht. Und beim ästhetischen Hedonismus geht es um die Wertschätzung des Schönen fernab von Sinnhaftigkeit, beim psychologischen darum, was uns motiviert.

Während ein Leben nach dem Lustprinzip häufig als egoistisch gilt, gibt es auch linke Positionen, die für mehr Genuss plädieren – aus gutem Grund, hatte doch schon 1973 z. B. Jacques Lacan darauf hingewiesen, dass die Weigerung, den „Anderen“ ihre eigene, von „unserer“ abweichende „Jouissance“ (frz. für – auch sexuell konnotierten – Genuss) zuzugestehen, eine der Triebfedern für Rassismus ist. Linker Hedonismus fordert das gute Leben für alle – und zwar jetzt sofort. Dabei soll es zwischen politischem Handeln und Theorie auch Platz fürs Genießen geben, bspw. durch Partykultur, Drogenkonsum und Sexualität. Freilich, manch faden KüFa-Gerichten würde ein bisschen Gourmetvorsatz nicht schaden, denn Genüsse sollten schließlich nicht nur den Reichen und Privilegierten vorbehalten sein. In den letzten 15 Jahren gab es einige Vorwürfe dem Missy Magazine gegenüber, zu „bunt“, zu „glossy“, zu „schön“ zu sein. Dabei haben wir nach wie vor die Haltung, dass politische Inhalte durchaus genussvoll serviert werden dürfen und Feminismus geil ist – und somit auch Spaß machen darf. Der traditionellen „GraubrotÄsthetik“ linker Publikationen, die Wert darauf legen, den Inhalt über die Form zu stellen, und somit wenig Wert auf die Aufmachung, setzte unsere Artdirektion seit jeher ein so prall lustvolles wie gut durchdachtes Design entgegen. Das ist besonders wichtig, weil in der Abwertung von Genuss häufig auch eine Femininitätsfeindlichkeit steckt, da die Liebe für das Angenehme, Frivole als (ver-) weiblich(t), geistlos und damit illegitim gilt. Freude an Schönheit und Kunst muss keine Einbußen an politischer Radikalität bedeuten. Einige linke Denker*innen waren und sind regelrechte Genussikonen. Adrienne Maree Brown hat über Pleasure Activism sogar ein ganzes Buch geschrieben, in dem es um einen lustzentrierten Aktivismus geht.

Das Schlimme an Genuss ist nicht seine Existenz, sondern, dass er nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Übrigens: Ursprünglich bedeutete Genuss etwas viel Allgemeineres, nämlich etwas zu nutzen, im Sinne von „Nutznießung“. „Genossen“ finden wir nicht nur in der Vergangenheitsform von „genießen“, sondern „Genoss*in“ leitet sich tatsächlich davon ab – war doch ein*e solche*r Teil einer Community, die Dinge gemeinsam nutzte. So lasst uns, liebe Genoss*innen, die Welt zu einem besseren, genussvolleren Ort für alle machen! Die Redaktion

Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/23.