Von Bahar Sheikh

Das Wort „verzichten“ kommt, laut Duden, vom mittelhochdeutschen „verziht“ und „verzeihen“. Dass diese beiden Wörter nah beieinanderliegen, verwundert nicht. Verzichten und verzeihen müssen vor allem diejenigen, die Lohn- und Sorgearbeit verrichten und Sozialleistungen empfangen, während von den Krisen der letzten Jahre die Unternehmen profitiert haben: etwa die milliardenschweren Gewinne der europäischen Energiekonzerne seit dem Ukrainekrieg.

Verzicht kann auch eine von außen auferlegte Entbehrung sein. Z. B., wenn wir wie im letzten Winter nicht mehr heizen sollen oder können, weil das akute Problem der Inflation und der Versorgung mit nachhaltiger und bezahlbarer Energie durch individuelle Sparmaßnahmen gelöst werden soll. Manchmal ist er aber auch selbst gewählt. Etwa, wenn Menschen aus Umweltbewusstsein aufs Fliegen oder auf Tierprodukte verzichten. Wenn man aber genauer hinschaut, wälzt auch letztere Art der Entbehrung die politische und wirtschaftliche Verantwortung aufs Individuum ab. Kann der Veganismus den Klimakollaps aufhalten, während Staaten ihre Klimaziele weiter bewusst unerreicht lassen? Und andere wegen Armut, Behinderungen und der Verwehrung von Zugängen auf Grundlegendes verzichten müssen?

Dabei verschleiert die zuletzt von Politiker*innen gepredigte Verzichtsethik, den Gürtel doch enger zu schnallen, die materiellen Verhältnisse. Sie impliziert, dass wirtschaftliche und politische Krisen, die Zerstörung unserer Umwelt, Pandemien und auch die Wohnraumkrise durch Selbstdisziplin, Aushalten und Askese seitens der Arbeiter*innen zu bewältigen seien anstatt bspw. durch wirtschaftliche Regulierung, das Ausbauen der Gesundheitssysteme und die Enteignung von Wohnungskonzernen.

Der Verzicht auf Profitmaximierung um jeden Preis, auf ausufernden Reichtum in Form von Privatjets und Immobilien würde der Welt hingegen im Sinne der Umverteilung, aber auch in der Klimabilanz guttun. Was wäre, wenn zur Abwechslung die Reichen verzichten müssten? Nicht nur hinsichtlich Klasse, sondern auch in Bezug auf Geschlecht sind verschiedene Verzichtsgebote zu beobachten. So wird besonders Frauen nahelegt, durch Diäten auf kulinarische Genüsse zu verzichten, durch ein konformes Verhalten umgänglich zu sein, keinen Raum einzunehmen und Freizeit oder Selbstverwirklichung zugunsten unbezahlter Sorgearbeit zu opfern. Oder etwa, wenn queeren Personen geraten wird, im Sinne ihrer eigenen Sicherheit und des Erhalts der Cis-Hetero-Ordnung darauf zu verzichten, sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit aller anderen Menschen zu sich selbst und ihrem Begehren zu bekennen.

Und was ist mit Verzicht, der „normalen“ Menschen individuell guttut? Manche praktizieren Minimalismus oder Social-Media Diäten zur Rückbesinnung auf Wesentliches. Wer ist man, wenn man weniger fliegt, kauft und scrollt? Wenn man sich von dem bürgerlichen Leben, das sich maßgeblich durch Konsum definiert, verabschiedet? Wenn man durch den Verzicht auf ohnehin brüchige Sicherheiten wie Ehe und Eigentum an Freiheit gewinnt? Auch bei Missy haben wir über die Jahre immer wieder auf manchen Genuss verzichtet und verzichten müssen: wegen Prekarität, Inflation und manchmal unrealistischen Anforderungen von innen und außen. Aber auch, weil – und dafür darf man auf die andere Seite dieses Wendehefts nicht verzichten – mancher Verzicht auch zu Eigensinn, Unabhängigkeit und Genuss führt, den wir uns sonst nicht leisten könnten.

 Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/23.