Sprechen zwischen verschiedenen Generationen
Kolumnist*in:
Beziehungsweise queer und Việt Kiều von Phương Nguyễn
Über das Dazwischenliegen, innere Zerrissenheit, Finden eines Zuhauses, Mehrdimensionalität, Lieben und Trauern, Hinterfragen und Neugierig-Bleiben.
Am Tag meiner Abreise nach Việt Nam sitze ich im Zug mit einer bekannten Person meiner Mama. Er redet mit mir, erzählt mir davon, dass seine Tochter dieses Mal nicht mit ihm nach Việt Nam kommen, sondern stattdessen ein Auslandsjahr in den USA machen möchte. Aus seinen Worten klingt Traurigkeit und Verletzlichkeit – sein Schmerz stimmt mit dem meiner Eltern überein. Ich bin unbeholfen, angemessen zu reagieren. Bei seiner Reaktion auf mein „Ja“ und „Hm“ erkenne ich, dass diese Art des deutschen Reagierens gewohnt für ihn ist. Er kennt es sicher von seiner eigenen Tochter. Er weiß inzwischen, dass es nichts mit Respektlosigkeit zu tun hat.
Wie viele andere viet-deutsche Personen spreche auch ich mit meinen Eltern eine Mischung aus Vietnamesisch und Deutsch. Sie sind die Einzigen, die mein Vietnamesisch verstehen, die den deutschen Satzbau in meinem gebrochenen Vietnamesisch entschlüsseln und für sich verständlich machen können.
Während meine Eltern das akzeptiert haben und es für mich eine Selbstverständlichkeit ist, ist meine Verwandtschaft in Việt Nam eher verwirrt. Während sie uns als vietnamesisch sehen, reden wir Geschwister untereinander Deutsch, verhalten und bewegen uns deutsch. Auch meine Vietnamesischlehrerin in Việt Nam war verwirrt, wie es möglich sein konnte, kein tiếng viết zu sprechen und so weiß sein zu können.
Die weiße deutsche Gesellschaft ist auch verwirrt darüber, dass mein Deutsch perfekt und fließend ist. Viele BIPoCs der zweiten oder nachfolgenden Generationen genießen das Privileg, die Dominanzsprache des jeweiligen Landes zu beherrschen. Doch wer in der Diaspora lebt und rassifiziert ist, weiß auch, dass das Sprechen im öffentlichen Raum nicht immer auf Gehör und Empathie stößt. Gehört zu werden ist für viele rassifizierte Menschen eine Sehnsucht, für die sie oft Opfer bringen müssen. Unter der Bedingung, weiß zu sprechen, bestimmte Wörter, auf die die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu empfindlich reagiert, zu vermeiden, kann dieser Sehnsucht ihr Dienst erbracht werden.
Zu Hause zu Besuch sind im Hintergrund durchgängig vietnamesisches Fernsehen, vietnamesische Hörbücher, vietnamesische Musik, vietnamesische Nachrichten über das aktuelle Weltgeschehen und vietnamesisches Reality-TV zu hören. Hinter geschlossenen Türen koexistieren zwei verschiedene Welten, die für die Außenwelt nicht sichtbar sind. Beim Abendessen finden zwei Dialoge parallel statt, mein Bruder und ich sprechen Deutsch miteinander, meine Eltern sprechen Vietnamesisch. Wenn wir untereinander einen Dialog führen, sprechen wir einen Mix aus beiden Sprachen.
Kinder von Migrant*innen übernehmen Übersetzungsarbeit für bürokratische Angelegenheiten, die von vornherein nicht nur für jede*n, vor allem nicht für Kinder gemacht sind. In Diskussionen fehlen die Wörter, Missverständnisse sind resistent und die Kluft zwischen Generationen wird größer und größer – so groß, dass wir beinahe von kulturellen Unterschieden sprechen könnten. Ob wir uns unterordnen oder nicht, entscheidet sich, je nachdem welche Sprache dominiert: Wenn meine Geschwister und ich Deutsch miteinander sprechen, verlieren unsere Eltern den Bezug zu uns – und andersrum auch. Während die erste Generation sich ihre Muttersprache bewahrt, haben viele Personen der zweiten Generation Schwierigkeiten, ihre Erstsprache zu sprechen, und tragen Scham und internalisierten Rassismus in sich, der sich gegen sich selbst, andere rassifizierte Gruppen und nicht-europäische Sprachen und auch gegen die eigenen Eltern bzw. Familienmitglieder richtet. Aufgrund des Drucks, sich anzupassen, lebt die zweite Generation nicht nur zwischen „zwei Welten“, sondern verdrängt auch ihre eigene Kultur, indem sie sich für das weiße Sprechen entscheidet.
Die meisten Migrant*innen, die ich kenne, sind zum Studieren nach Europa gekommen und dementsprechend gebildet und akademisch, sprechen neben ihrer Muttersprache noch fließend Englisch und/oder Deutsch – im Gegensatz zu meinen Eltern, die nur Vietnamesisch sprechen können.
Migration hat verschiedene Beweggründe: Viele suchen in Europa nach Freiheit, welche sie in ihrem Heimatland nicht finden können; andere sind neugierig. Was meine Eltern angeht, sind sie als Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen, gleichzeitig zählen sie zur Nachkriegsgeneration des sogenannten Vietnam-Krieges. Sie sind in Armut aufgewachsen und leben auch in Deutschland ein prekäres und ressourcenschwaches Leben. Sie haben aufgrund der Umstände und klassistischen Ungerechtigkeit auch keinen Zugang zu (westlichen) antirassistischen Diskursen.
Wenn ich Bücher von vietnamesischen diasporischen Autor*innen lese, denke ich oft an den Satz, den Sinthujan Varatharajah in der Lesung zum Buch „an alle orte, die hinter uns liegen“ gesagt hat: „Ja, es mag auf Deutsch geschrieben sein, aber es ist (dennoch) ein tamilisches Buch.“ Ich lese Ocean Vuongs Buch „Auf Erden sind wir kurz grandios“ auf Deutsch, obwohl die Originalsprache Englisch ist. Das Buch „Der Gesang der Berge“ von Nguyễn Phan Quế Mai ist auch auf Deutsch. Beide Autor*innen sind in Việt Nam geboren und in jungen Jahren in eine weiße Mehrheitsgesellschaft migriert, wo sie bis heute leben. Mein Artikel übers Sprechen ist auch auf Deutsch und ich bin mir noch nicht sicher, ob dieser Artikel vietnamesisch ist.