Beziehungsweise queer und Việt Kiều von Phương Nguyễn

Über das Dazwischenliegen, innere Zerrissenheit, Finden eines Zuhauses, Mehrdimensionalität, Lieben und Trauern, Hinterfragen und Neugierig-Bleiben.

Jedes Mal das Gleiche, denke ich mir heute. Der Moment, in dem ich zurück nach Deutschland komme, ist jedes Mal intensiv und für mich mit vielen starken Emotionen verbunden. So auch 2018 auf der Rückreise aus Việt Nam im Zug Richtung nach Hause.  Eine Frau nimmt provokativ ihre Ohropax zur Hand, atmet genervt aus, denn wir, meine Schwester, ich und meine kleine Nichte, sind ihr zu laut. Als sie uns in ihrem passiv-aggressiven Ton auffordert, leise zu sein, wehren wir uns: „Wir lassen uns nicht von der weißen Frau stören.“ Sie fühlt sich angegriffen, ein wenig verletzt und beschimpft uns als „Frühlingsrolle“. Auf der Zugtoilette weine ich. Als wir wieder bei meiner Mama sitzen, läuft die weiße Frau an uns vorbei. Meine Mama lästert auf Tiếng việt und schiebt auf Deutsch „Hexe“ nach und wir lachen.

Dieses Ereignis hat mich – trotz der vielen Tränen, die ich in diesem Moment und in vielen anderen Momenten vergossen habe – vieles gelehrt. Sich sprachlich im Alltag nicht wehren zu können, was bei vielen Migrant*innen der ersten Generation der Fall zu sein scheint, macht einsam. Im ständigen Schweigen und Gehorchen zu leben ist auf Dauer psychisch belastend und hat tiefe Auswirkungen auf die eigene Lebensqualität. Ich war froh, dass meine Mama nicht leise geblieben ist, und ich denke, für sie war dieser Moment auch etwas empowernd.

Hà Phương Nguyễn

Phương ist nicht-binär transmännlich, queer, neurodivers, of Color und vietnamesisch-deutsch. Geboren im Element Wasser und im Jahr der Katze betritt Phương durchs Schreiben, Malen und Bewegen den Bereich der eigenen Scham und der Vergebung; übt sich in Selbstehrlichkeit, bedingungsloser Liebe und sucht Wege aus der Selbstsabotage. Kunst ist für Phương wie Wasser: heilend, fließend, immer in Bewegung, kraftvoll, (über-) lebensnotwendig und zerstörerisch. Phương liebt beziehungsanarchistisch, ist intensiv, schüchtern und verträumt.
© Viki Mladenovski

In meinem Prozess, mich selbst zu finden, und einen Umgang mit meinen Identitätskrisen zu finden, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass mehrsprachig aufgewachsen zu sein, ein Privileg ist. Denn obwohl ich mich noch oft dafür schäme, gebrochenes Vietnamesisch zu sprechen, zelebriere ich die Momente, in denen ich im Alltag rastlos durch die Straßen laufe oder an der Haltestelle warte und vietnamesische Wörter höre. Die Momente, in denen ich Viets sehe, die diskutieren, weil sie den Weg nicht wissen, oder wenn ich Mitarbeitende im Asia-Markt auf Vietnamesisch lästern höre. Dabei ist es egal, ob ich den Inhalt verstehe, denn der Ton, die Laute, holen mich raus und erinnern mich an einen eigenen Raum in Räumen, zu dem ich in dem Moment Zugang habe. In vietnamesischen Restaurants auf Vietnamesisch zu bestellen und dadurch einen besonderen Kund*innenstatus zu bekommen, einen besonderen Tisch oder eine Extrazitrone, macht mich oft stolz. Lange konnte ich diesen Stolz nicht tragen, denn mich verfolgt noch immer die immense Scham über mein Vietnamesisch-Sein. Mir fällt es leichter, Wertschätzung für andere, nicht-europäische Kulturen zu verspüren, den Klang ihrer Sprache schön zu finden und das Essen zu lieben. Doch wenn es um meinen eigenen kulturellen Hintergrund geht, weiß ich eigentlich gar nicht, was Vietnamesisch-Sein für mich bedeutet. Von allen Seiten werden mir Dinge zugeschrieben – sei es verbal oder non-verbal: zu westlich, zu ausländisch, „exotisch“, PoC, aber privilegiert, weiß, süß, zu leise oder zu laut, zu deutsch, zu vietnamesisch. Ich habe noch immer das Gefühl, dass andere immer besser wissen, wer ich bin. Und für dieses Gefühl habe ich oft kaum oder eher gar keine Worte. Es fällt mir schwer zu beschreiben, wie es mir dabei und damit geht. Und mich selbst als vietnamesisch zu bezeichnen, fühlt sich noch nicht richtig für mich an. Es fühlt sich an, als würde ich mir etwas aneignen, als wäre ich mir der Privilegien, die meine europäische Sozialisation mit sich bringt, nicht bewusst. Doch dieser innere Dialog ist auch schwer in Worte zu fassen und es gibt wenig bis gar keine Räume, in denen ich aufrichtig über diese Gedanken reden kann. Um mit meinen Eltern zu reden, fehlt mir einfach das Vokabular. Mit anderen europäischen oder deutschen BiPoC zu reden, löst gegenseitig viel Wut und Schmerz aus und beinahe fühlt es sich an, als würde es ein Wettkampf sein, wer nun mehr oder weniger weiß ist. Mit akademischen BiPoC und Migrant*innen sehe ich mich erst gar nicht in der Position, etwas von meinen Gedanken zu teilen.

Auch wenn das alles oft sehr schwer ist und ich mich manchmal sehr traurig und dazwischen fühle, trösten mich die  Momente im Alltag, wenn ich auf andere Viets treffe, sie an ihrer Lautstärke erkenne oder an ihrem Laufstil.

Mich verfolgt eine andere Erinnerung, die mir zeigt, dass auch meine Eltern einen Umgang mit dem diasporischen Leben gefunden haben:

An einem Nachmittag kam unsere Verwandtschaft zu Besuch, die ich weder vom Sehen noch vom Namen kannte. Meine Mama war gestresst und zögerte sehr, die Rolle einer gehorsamen Frau und guten Gastgeberin einzunehmen. In einem kurzen Moment, als sie und ich das Essen vorbereiten, konnten wir auf Deutsch „keine Lust“ sagen und etwas schmunzeln. Solche Momente überlagern Erinnerungen an die neun Jahre, in denen ich meinen Namen abgelegte und mich alle „Phu“ statt „Phương“ nannten. Erinnerungen an meine Schulzeit, in denen das Lachen und Hänseln der Mitschüler*innen mir ein Kleid tiefer Scham und voller Selbsthass überstülpte. Die Dominanzsprache eines Landes nicht fließend, akzentfrei und selbstbewusst zu sprechen, drückte mich nicht nur in Einsamkeit, sondern auch in Ohnmacht.

Neben der Körper- und Schriftsprache ist die verbale Sprache in beinahe allen Kulturen die Norm. Wie sollst du sonst gesehen werden, wenn du nicht sprichst? Das habe ich in meinen zwei Monaten in Viêt Nam gelernt, als ich viel schwieg, unbeholfen in meinem Ausdruck war und der Anschluss zu meiner Verwandtschaft dadurch nicht möglich wurde. Wir begegneten uns mit gegenseitiger Unsicherheit und ich empfand darüber hinaus Scham, weil ich Angst hatte, nicht verstanden zu werden oder den Satzbau nicht richtig gewählt zu haben. Ich fühlte mich schnell isoliert, gefangen in meiner eigenen Zerrissenheit über meine mehrdimensionale Identität. So konnte ich verstehen, was zu mir gesagt wird, doch war es mir nicht möglich, eine Konversation zu führen. So entfremdet fühle ich mich, da ich nicht weiß, ob es den Codes des Vietnamesischen entspricht, meine Cousine zu fragen: „Was ist deine Leidenschaft? Warst du schon mal verliebt?“, oder ob es vielleicht unangemessen und respektlos ist.

Nicht die Nähe zu erreichen, die ich suche, frustriert mich oft. Trotz der Kluft zwischen uns kommen wir beim gemeinsam „ăn cỗ“ und dem gemeinsamen Mittagsschlaf immer wieder zusammen.

In der Diaspora habe ich gelernt, mich von der Eindimensionalität meiner Selbst und der kolonialen Vorstellung einer Universalsprache zu verabschieden, die sich darin äußert, sich auf eine einzige bestimmte Art und Weise auszudrücken.  In „con ăn chưa?“ nicht nur „Hast du schon gegessen, Kind?“ zu lesen, sondern auch „Es tut mir leid“, „Egal, was ist, du musst etwas essen“ und „Ich sorge mich um dich und deine Gesundheit, bedingungslos“. Während die erste und zweite Generation glaubt, dass wir uns gegenseitig verloren haben und uns gegenseitig als Menschen gar nicht kennen, lernen wir auch, dass Sprache nicht bedeutend ist, um füreinander zu sorgen. Lange habe ich an der Liebe meiner Eltern für mich gezweifelt, wie sehr ich mir wünsche, „Mẹ yêu con“ zu hören, und habe mir die Art von Liebe und Zuneigung gewünscht, die ich in weißen Familien beobachtet und beneidet habe. Für meine Eltern muss das Verlangen von uns Kindern nach bestimmten Gesten, nach einem bestimmten Verhalten irritierend gewesen sein. Schließlich forderten wir bei unseren Eltern Verhaltensweisen ein, die wir durch unsere Sozialisierung in der weißen deutschen Dominanzgesellschaft als Sprache der Liebe erlernt hatten. Während es für meine Eltern komisch und irritierend war, welche Dinge und welches Verhalten wir Kinder uns von ihnen erwartet haben, habe ich sie als Norm verstanden, weil ich primär mit weißer Liebessprache vertraut. Das viele Anfassen und Streicheln und die sogenannten westlichen „words of affirmations“ – all das ist in vielen asiatischen Kulturen nicht die Art und Weise, wie Zuneigung ausgedrückt wird. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, um mich von der Dominanz einer weißen Liebessprache zu verabschieden.

Im Vietnamesischen sagen wir nicht: Wie geht es dir? Sondern wir sagen: „Có gỉ mới không?“ (Gibt es was Neues?) oder: „Lâu không gặp nhau!“ (Lange nicht gesehen!)

Bei gemeinsamen Abendessen mit vietnamesischen Sendungen im Hintergrund begegnen wir uns mit Liebe, wir sind unterschiedlich sehnsüchtig nach zu Hause.

Wir fließen durch Welten und springen von Sprache von Sprache, weil die deutsche Sprache nicht so reich und fruchtvoll wie Tiếng việt ist. Wir kreieren unsere eigenen Sprachen der Familie, der Akzeptanz für die Unterschiede zwischen uns, des Widerstands, des Vietnamesisch-Seins, des Eltern-Kind-Seins, des Überlebens, des Verzeihen, des Liebens.