© PROKINO Filmverleih GmbH

L’Immensità
Im Rom der 1970er-Jahre versucht Clara (Penélope Cruz), sich gegen ihren gewalttätigen Ehemann (Vincenzo Amato) zu wehren und gleichzeitig ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten. Die hingebungsvolle Mutter von drei Kindern ist mit ihren Kräften am Limit, als ihr ältestes Kind Adri (Luana Giuliani) im Teenageralter anfängt, die Geschlechts­identität als Mädchen offen abzulehnen und sich anderen als Junge vorzustellen. Das französisch-italienische Drama „L’Immensità“ zeigt eindrucksvoll, wie Clara unter dem gesellschaftlichen Druck zerbricht: Zwischen einer gewaltvollen Beziehung, alleiniger Care-Arbeit und sozialen Verpflichtungen will sie ihr Kind schützen, dessen Bedürfnisse vom Umfeld der Familie kleingeredet und ignoriert werden. Adris Wunsch nach dem Ausleben der eigenen Identität findet Ausdruck in vereinzelten, die Handlung immer wieder unterbrechenden Musicalszenen, die jedoch deplatziert wirken und dem Film etwas von seiner Ausdruckskraft nehmen. Denn „L’Immensità“ kommt gut ohne Höhepunkte aus. Zwar zieht sich die Geschichte durch den flachen Spannungsbogen an manchen Stellen, gleichzeitig veranschaulicht der Regisseur Emanuele Crialese durch diese bewusste Monotonie auch die Tristesse und Orientierungslosigkeit, in der Mutter und Kind in einer konservativen Gesellschaft gefangen sind. Lena Mändlen

„L’Immensità“ IT/FR 2022 ( Regie: Emanuele Crialese. Mit: ­Penélope Cruz, Luana Giuliani, Vincenzo Amato u. a., 97 Min., Start: 27.07. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© mindjazz pictures UG

L’Amour du Monde
Es ist Sommer. Die 14-jährige Margaux (Clarisse Moussa) macht in ihrem Heimatort am Genfer See ein Praktikum im Kinderheim, wo sie auf die siebenjährige Heimbewohnerin Juliette (Esin Demircan) und auf den fernwehgeplagten jungen Fischer Joël (Marc Oosterhoff) trifft. Margaux leidet unter der emotionalen Abwesenheit ihres Vaters, die kleine rebellische Juliette unter dem Tod ihrer Mutter. Sie braucht dringend Liebe und Geborgenheit, und Joël weiß nicht genau, wo er eigentlich hingehört. Die drei grundverschiedenen Charaktere schaffen es nach und nach, sich Halt, kleine Fetzen Freiheit, ein wenig Leichtigkeit und Alltagsmagie zu schenken. „L’Amour du Monde“ zeigt das Konzept Wahlfamilie, ohne es laut auszusprechen. Dabei wird so zärtlich mit der Kamera umgegangen, dass dieser Debütspielfilm mit sehr spärlichen Dialogen auskommt – die meisten Emotionen, Entwicklungen und Handlungen spielen sich auf den Gesichtern der 
Protagonist*innen ab. Nie wird auf die Tränendrüse gedrückt, eher wird mit Stille, Ruhe und Sanftheit Platz für die Emotionen des Publikums geschaffen. Und alle drei Schauspieler*innen leisten wirklich Großartiges: „L’Amour du Monde“ wickelt die Zuschauer*innen ein, in einen Sog aus Nostalgie, Jugenderinnerungen und Sehnsucht nach der Welt. Vanessa Sonnenfroh

„L’Amour du Monde“ FR 2023 ( Regie: Jenna Hasse. Mit: ­Clarisse Moussa, Esin Demircan, Marc Oosterhoff u. a., 
76 Min., Start: 24.08. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© SBS DISTRIBUTION

Passages
Tomas (Franz Rogowski) ist Filmregisseur und lebt seit 15 Jahren mit seinem Partner Martin (Ben Whishaw) zusammen. Nach einer Premierenfeier landet er mit Agathe (Adèle Exarchopoulos) im Bett, was in ihm unbekannte Gefühle auslöst. Anfangs versucht Martin ihm noch Verständnis entgegenzubringen, da dies offensichtlich nicht das erste Mal ist, dass Tomas fremdgeht. Tomas hingegen wirft sich Hals über Kopf in die neue Beziehung, kann sich aber auch nicht von Martin lösen. Als Martin dann eine neue Liebe findet und Agathe auch noch schwanger wird, stürzt Tomas ins Chaos. Was wie eine spannende Ausgangssituation für die Annäherung an Polyamorie, (Wahl-)Familie und fluide Sexualität klingt, ist leider ein Film, der, entsprechend seiner Hauptfigur, nicht weiß, was er eigentlich will. Zudem ist Tomas von Anfang an ein so unausstehlicher, egozentrischer Mensch, dass die Geschichte bereits im ersten Drittel unerträglich wird. Da der Fokus des Filmes ganz auf ihm, auf unterkühlten Sexszenen, auf Tomas’ Halt- und Lieblosigkeit liegt, werden die anderen Charaktere nahezu gänzlich an den Rand gedrängt und ihre komplexen Emotionen gehen komplett unter. Ein rastloser und anstrengender Film, dem mehr Tiefe oder überhaupt irgendein Funken Gefühl gutgetan hätte. Avan Weis

„Passages“ FR 2023 ( Regie: Ira Sachs. Mit: Franz 
Rogowski, Ben Whishaw, Adèle Exarchopoulos u. a., 91 Min., 
Start: 24.08. )

© SquareOne Entertainment

Dalíland
New York, 1974. Für den zurückhaltenden Galerieassistenten James Linton (Christopher Briney) aus der Provinz wird unverhofft ein Traum wahr. Er bereitet mit Salvador Dalí (Ben Kingsley) seine nächste Ausstellung vor. Tagsüber reicht er ihm den Pinsel oder streicht in einer Druck­aktion die Ärsche schöner Frauen an, nachts feiert er mit Stars wie Alice Cooper und Dalís geheimnisvoller Muse Amanda Lear ausschweifende Glamrock-Partys. Dalí inszeniert sich im Prachtgewand mit Blätterkrone und herrschaftlichem Krummstab in seiner 20.000-Dollar-Suite. Doch die Scheinwelt im Dalíland bröckelt. Dalí kämpft mit ersten Anzeichen von Parkinson, während seine herrische Frau Gala (Barbara Sukowa) ihm langsam entschwindet und einem Musiker hoffnungslos verfällt. Und so träumt sich der Maler zurück zu einst schönen Momenten ihrer Liebe. Ben Kingsley spiegelt, seinen pechschwarzen Bart zurechtzwirbelnd und die Augen weit aufreißend, sowohl Dalís verletzliche Seite als auch seine voyeuristische. Susanne Gietl

„Dalíland“ GB/USA/FR 2022 ( Regie: Mary Harron. Mit: Ben Kingsley, Barbara Sukowa, Christopher Briney u. a., 104 Min., Start: 07.09. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© Arsenal Filmverleih

Mit Liebe und Entschlossenheit
In einem von der Pandemie erfassten Paris lebt die Radiomoderatorin Sara (Juliette Binoche) mit dem ehemaligen Rugbyspieler und entlassenen Häftling Jean (Vincent Lindon) zusammen. Als Jean seine Geschäftsbeziehung zu Saras Expartner François (Grégoire Colin) wieder aufnimmt, treten Erinnerungen bei ihr einen schweren Bewältigungsprozess los. Es entspinnt sich eine zehrende und ambivalente Dreiecksgeschichte, die sich auch auf Jeans Wiedereingliederung auswirkt. Für ihn stehen neben der Beziehung auch seine berufliche Zukunft und das Verhältnis zu seinem Sohn aus erster Ehe auf dem Spiel. Der neue Film von Claire Denis („High Life“, „Trouble Every Day“) verweigert sich gewohnt klug einfachen Narrativen und emotionaler Schlichtheit. Die Liebesgeschichte in ihrem Kern ist komplex und enthält ebenso persönliche Widersprüchlichkeit wie auch darin einsickernde gesellschaftliche Diskurse und Kämpfe. Denis’ Figuren sind gefangen in ihrer gegenseitigen Liebe, in Abhängigkeiten und Dimensionen selbstzerstörerischen Triebs. Am Ende steht ein hervorragender, zerreißender Film über die Qual, in pandemischer Vereinzelung die Schwere des Lebens nur privat, mit sich selbst und mit Geliebten aushandeln zu können, und darüber, Erlerntes abstreifen zu wollen und immer von sich selbst verfolgt zu werden. Linus Misera

„Mit Liebe und Entschlossenheit“ FR 2022 ( Regie: Claire ­Denis. Mit: Juliette Binoche, Vincent Lindon u. a., 116 Min. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© barnsteiner-film

Unser Fluss … Unser Himmel
Irak im Winter 2006. Die Situation in Bagdad ist unübersichtlich und gefährlich. Korruption, nächtliche Ausgangssperren, Schießereien, Attentate, Entführungen und Ermordungen bestimmen den Alltag der Menschen. Die alleinerziehende Mutter und Romanautorin Sara (Darina Al Joundi) klammert sich stoisch an ihre Welt, die zu zerbrechen droht, und will zugleich ihre kleine Tochter beschützen. Einfühlsam erzählt der Film die Geschichten der Familie und Nachbar*innen um Sara herum – Menschen, die bei all dem Leid und Elend ihren Humor nicht verlieren. „Unser Fluss … Unser Himmel“ ist ein vielschichtiger Film, der mehr als nur einen Handlungsstrang aufgreift und die Perspektiven der Menschen einer ganzen Nachbar*innenschaft wie in einem Kaleidoskop verbildlicht. Regisseurin Maysoon Pachachi gelingt es so, die individuellen Schicksale der Bürger*innen zu veranschaulichen und das Ausmaß des Chaos und der Gewalt begreifbar zu machen. Am Ende steht die Frage: ins Ausland flüchten oder bleiben? „Unser Fluss … Unser Himmel“ wirft einen schonungslosen Blick auf den Lebensalltag von Menschen, deren Zukunft ungewiss ist – ohne aber die Hoffnung zu verlieren. Katrin Börsch

„Unser Fluss … Unser Himmel“ IRQ/FR/KWT/GBR/DE/ARE/QAT 2021 ( Regie: Maysoon Pachachi. Mit: Mahmoud Abu Abbas, Myriam Abbas, Darina Al Joundi, Labwa Arab, Karam Thamer u. a., 117 Min. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© Neue Visionen Filmverleih GmbH

Forever Young
Junge, wild knutschende Menschen beschmieren sich mit Ketchup, weinen und toben. Sie kämpfen um einen der zwölf heiß begehrten Plätze an der renommierten Schauspielschule Théâtre des Amandiers in Paris. Der Film „Forever Young“ der Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi spielt Ende der 1980er-Jahre, als sie selbst dort studierte, und ist autobiografisch inspiriert. Zauberhaft spielt Nadia Tereszkiewicz Stella, die wir durch ihre Ausbildung begleiten. Unter ihren Kommiliton*innen findet sie eine schrille Freundin (Clara Bretheau) und sie verliebt sich in den drogensüchtigen Étienne (Sofiane Bennacer). Der von allen geforderte leidenschaftliche Einsatz auf der Probebühne setzt sich auch außerhalb des Theaters fort. Als bei einem Schüler Verdacht auf Aids besteht, breitet sich Panik aus. Im Ensemble wurde schon kreuz und quer ungeschützt miteinander geschlafen. Der Schauspiellehrer ist übergriffig, aber #MeToo ist noch Jahrzehnte weit weg. In „Forever Young“ erzählt Bruni Tedeschi vom Erwachsenwerden. Zigarettenrauch zieht sich wie ein roter Faden durch jede Szene dieses fast rauschhaften Films, der von gleich mehreren Anzeigen wegen sexueller Gewalt überschattet wird, die nach dem Erscheinen in Frankreich gegen einen Hauptdarsteller erstattet wurden. Das wäre in den 1980er-Jahren wahrscheinlich unter den Teppich gekehrt worden. Amelie Persson

„Forever Young“ FR 2022 ( Regie: Valeria Bruni Tedeschi. 
Mit: Nadia Tereszkiewicz, Sofiane Bennacer, Louis Garrel u. a., 126 Min., Start: 17.08. )

Missy Magazine 04/23, Filmrezis
© LEONINE Distribution GmbH

Joy Ride
Vier chinesisch-amerikanische Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, machen gemeinsam einen Trip ins „Mutterland“. Im Zentrum der Clique steht die karriereorientierte Audrey, die sich mit ihren Begleiterinnen auf die Fährte ihrer leiblichen Mutter begibt. Dabei kommt den jungen Frauen vieles in die Quere, vor allem aber ihre eigene Rivalität, stereotype Stutenbissigkeit und natürlich heiße Männer. Der Humor von „Joy Ride“ ist derb und nicht selten zotig, was wenig verwundert, bedenkt man, dass zwei der drei Drehbuchautor*innen vor allem bei der Comicserie „Family Guy“ Karriere machten und Seth Rogan eine*r der Produzent*innen war. Die Storyline wird ständig von aufgebauschten Zickereien, an den Haaren herbeigezogenen Zerwürfnissen oder von Sex- und Drogen­eskapaden durchbrochen. Die pompösen und großspurigen Montagen des Exzesses verpuffen dann allerdings einfach in der Luft. Die meisten Probleme der Reisegruppe lösen sich von Zauberhand, sodass sich die Figuren kaum entwickeln. Und sogar Audreys eigentlich spannende interkulturelle Identitätskrise wird gern auf dem Rücken ihrer Begleiterinnen ausgetragen – immer wieder enden Herausforderungen in emotionalen, plumpen, teils pathetischen Szenen. Am Ende glückt auch das auf Satire oder Zynismus ausgelegte Spiel des Filmes mit stereotypen Bildern und rassistischen Narrativen nicht so, wie es wohl gewünscht wurde. Während es Momente gibt, in denen Anstößiges direkt entlarvt und mit einem soliden Lacher aufgelöst wird, bleiben andere Szenen oder Figuren in ihrer Stereotypisierung nicht nur verhaftet, sondern dienen vielmehr, ganz unhinterfragt, dazu, die Handlung voranzutreiben. Das Einzige, was in diesem Film richtig sitzt, sind die ruppigen Punchlines. Rosalie Ernst

„Joy Ride“ USA 2023 ( Regie: Adele Lim. Mit: Ashley Park, ­Sherry Cola, Stephanie Hsu, Sabrina Wu u. a., 92 Min., 
Start: 31.08. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/23.