Koloniale Relikte
Kolumnist*in: Hêlîn Dirik
#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik
#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.
Vor Kurzem behauptete eine Journalistin auf Twitter, dass außerhalb westlicher Länder komischerweise niemand über cis, trans und nicht-binäre Identitäten sprechen würde, und implizierte damit, dass das westliche Erfindungen seien. In den letzten Jahren wird Queerness in Internetdiskursen immer wieder mit „westlicher Ideologie“ in Verbindung gebracht. Auf der einen Seite behaupten etwa Politiker*innen nicht-westlicher Länder, die „westliche LGBT-Ideologie“ und Feminismus würden die Jugend verderben und zum moralischen Verfall der Gesellschaft führen. Auf der anderen Seite gibt es einen nicht geringen Anteil weißer Menschen, die Frauen- und Queerfeindlichkeit zu einem Problem nicht-westlicher Kulturen erklären, als seien Sexismus, Patriarchat und Geschlechterbinarität nicht tief im westlichen Denken verankert.
Die Vorstellung, Frauenbefreiung und Queerness seien etwas „Westliches“ oder gar eine Erfindung des „Westens“, ist nicht nur eine pure Verhöhnung der vielen kämpfenden Frauen und Queers in nicht-westlichen Ländern, die verfolgt und ermordet werden oder sich aufgrund von gesellschaftlichem Druck und repressiver Politik das Leben nehmen. Sie sind auch historisch gesehen falsch. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass europäischer Kolonialismus maßgeblich dazu beigetragen hat, queere Realität und Geschichte in großen Teilen der Welt auszuradieren und patriarchale monogame Strukturen, Heteronormativität und Geschlechterbinarität durch Zwang und Gewalt aufzuerlegen.
Hêlîn Dirik
Blicken wir ein paar Jahrhunderte zurück: Ab dem 16. Jahrhundert verstärkte sich im Zuge der Reformation in Europa der Fokus auf ein moralisches Leben, basierend auf Frömmigkeit und Selbstbeherrschung und damit einhergehend die Angst vor einem allgegenwärtigen, auflauernden „Teufel“. In diesem Zusammenhang wurden Individuen, die sich „vulgär“ und „unmoralisch“ verhielten, verfolgt. Als moralische Verstöße galten unter anderem Analsex, außerehelicher Sex und „Hurerei“. Viele Frauen, die in der frühen Neuzeit als Hexen verfolgt wurden, mussten Beschuldigungen erdulden, Sex mit dem Teufel oder verheiratete Männer durch „Hexerei“ zum Ehebruch verleitet zu haben.
In dieser Zeitperiode wurde die Gesellschaft entlang einer strengen Sexualmoral sowie strengen Anstandsregeln, die insbesondere für Frauen galten, restrukturiert. Die monogame heterosexuelle Ehe stand noch stärker als zuvor im Zentrum eines frommen Lebens, während außereheliche sexuelle Beziehungen zunehmend kriminalisiert und verteufelt wurden. Vor allem Frauen, die außerhalb der Ehe sexuell aktiv waren, nicht heirateten oder mit anderen Frauen zusammenlebten, wurden verachtet und gerieten in Verdacht.
Die Ehe gewann damals nicht zufällig an Bedeutung: Sie war eng verbunden mit dem etwa zeitgleichen Aufkommen des Kapitalismus. Frauen wurden in die häusliche, „private“ Sphäre gedrängt, wo sie Hausarbeit leisten und die Reproduktion der Arbeitskraft sicherstellen sollten. Verhütung und Abtreibungen wurden in dieser Phase ebenfalls zunehmend kriminalisiert. Sexualität und (Nicht-)Reproduktion wurde vom Staat immer strenger beobachtet und kontrolliert.
Diese Entwicklungen in Europa wirkten sich unmittelbar darauf aus, wie europäische Kolonialisten in den Kolonien versuchten, die gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse nach ihren Vorstellungen und zugunsten ihrer Interessen umzustrukturieren. Patriarchale Vorstellungen wurden regelrecht aus Europa in die Kolonien exportiert. Die Kolonialisten betrachteten es als ihre Mission, die „hypersexuelle“, „unzivilisierte“ Gesellschaft in den Kolonien von ihren Konzepten der Ehe, des Eigentums, der Monogamie und von patriarchalen Geschlechterrollen zu überzeugen. Paul Le Jeune, ein französischer Missionar, der sich im 17. Jahrhundert bei den indigenen Stämmen der Naskapi und Montagnais in Kanada aufhielt, dokumentierte sein Gespräch mit einem Angehörigen des Naskapi-Stammes folgendermaßen:
„Ich sagte ihm, dass es unehrenhaft für eine Frau sei, jemand anderen zu lieben als ihren Ehemann, und dass mit diesem Übel, mit dem sie leben, er selbst nicht sicher sein könne, ob sein Sohn, der daneben stand, wirklich sein Sohn ist.“[1]
Zusammen mit der Ausradierung nicht-monogamer Realitäten, die in der vorkolonialen Zeit verbreitet waren, wurden Frauen in den Kolonien zunehmend in die häusliche Sphäre gedrängt, ihrer relativen Autonomie beraubt und einer patriarchalen Ordnung unterworfen. Der Kolonialismus festigte darüber hinaus die Vorstellung eines binären Geschlechtermodells. In vielen vorkolonialen Gesellschaften wurden dritte Geschlechter anerkannt. Als Two-Spirit bezeichnen sich seit dreißig Jahren Angehörige indigener Gruppen in Nordamerika, die sich nicht im binären Geschlechtersystem verorten. Mit dem Sammelbegriff wird sich gleichzeitig auf Two-Spirits in der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas bezogen, von denen viele hohe Positionen in der Gemeinschaft innehatten und sehr respektiert wurden. Sie wurden im Zuge der Kolonisierung Nordamerikas verfolgt und bestraft.
Ein weiteres Beispiel sind Hijra in Indien, Pakistan und Bangladesch. Sie werden als drittes Geschlecht anerkannt und ihre Existenz ist seit Jahrhunderten dokumentiert. Während der britischen Kolonialzeit wurden sie als „unbändig“, als Gefahr für die Öffentlichkeit und als Bedrohung für die kolonialen Autoritäten gesehen. Die britischen Autoritäten versuchten aktiv, die Zahl der Hijras zu reduzieren, und verfolgten und kriminalisierten sie. Sie sind noch heute besonders stark von Armut, Gewalt und Marginalisierung betroffen.
Auch Homosexualität wurde unter der britischen Kolonialherrschaft verboten. Fast zwei Drittel der Länder, in denen Homosexualität heute illegal ist, waren in irgendeiner Form unter der Kontrolle der britischen Autoritäten. In Indien galt das Verbot von damals noch bis 2018. Die Aufhebung des Verbots wurde – obwohl es noch aus der britischen Kolonialzeit stammte – paradoxerweise als „Schritt Richtung Westen“ gesehen.
Dabei ist die Akzeptanz von Queerness und die Befreiung aus patriarchalen Strukturen, wie die Geschichte zeigt, nichts Westliches. Im Gegenteil: Europäischer Kolonialismus hatte einen großen Anteil daran, patriarchale Strukturen auf der ganzen Welt zu festigen und queere Existenzen und Geschichten auszuradieren. Heute zu behaupten, queere Themen seien westliche Themen, macht diese Geschichten und diese Realitäten, die jenseits kolonialer Herrschaft existierten und weiterhin existieren, unsichtbar.
Die Befreiung ist gewissermaßen Teil von Dekolonisierung und gleichzeitig ein Widerstand gegen den Kapitalismus, der mit Patriarchat und Kolonialismus Hand in Hand geht. Das Erzählen dieser unzähligen vergessenen Geschichten ist eine revolutionäre Aufgabe, die unsere Entschlossenheit stärkt, gegen diese Systeme zu kämpfen und sie zu überwinden.
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[1] Zitiert aus Thwaites, Reuben Gold (Hg.): The Jesuit Relations and Allied Documents; travels and explorations of the Jesuit Missionaries in New France, 1610–1791, Band VI. Cleveland: The Imperial Press 1897, S. 255.