Literaturtipps 04/23
Von MissyRedaktion
Nichts Besonderes
Mae beginnt bereits in jungen Jahren, für Andy Warhol in seiner „Factory“ zu arbeiten, denn zu Hause und in der Schule eckt sie an. Beim Versuch, diesem Leben zu entfliehen, lernt sie die gleichaltrige Shelley kennen, die mit ihr zusammen die Gespräche Warhols mit seinen berühmten Freund*innen abtippen soll. Mae taucht in eine scheinbar freie, exzentrische Welt ein, die sie aus ihrem Leben davor so nicht kennt. Die Gespräche, die die beiden transkribieren, schweißen sie auf eine besondere Art zusammen. Sie ziehen Mae jedoch auch so stark in ihren Bann, dass sie beginnt, sich in deren dunkler Seite zu verlieren – und auch Shelley ist nicht die, für die Mae sie hält. Nicole Flatterys Debütroman „Nichts Besonderes“ ist eine wundervolle Coming-of-Age-Geschichte über das Leben zweier Frauen im New York der Sechziger Jahre. Neben der unglaublich authentischen Darstellung von Mae und Shelly, die beide auf ihre ganz eigene Art in einem patriarchalen System gegen gesellschaftliche Normen rebellieren, gelingt Flattery eine beeindruckend reale Warhol-Darstellung, sodass das Buch spielend leicht die Grenze zwischen Roman und Biografie verschwimmen lässt. Dieser Roman ist für alle, die auch auf der Suche sind, so wie Mae, Shelly und auch Andy Warhol – nach dem Sinn, einem Platz oder einem Weg, die Welt zu verändern. Anna-Marie Eisenbeis
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Nicole Flattery „Nichts Besonderes“ ( Aus dem Englischen von Tanja Handels. Hanser Berlin, 267 S., 24 Euro )
Backlash
Das „feministische Paradox“: So bringt Susanne Kaiser auf den Punkt, dass feministischer Fortschritt und männliche Gewalt gemeinsam wachsen. Je gleichberechtigter Frauen sind, je mehr Macht sie erlangen, desto mehr nehmen Hass und Gewalt gegen sie zu. Kaiser versammelt dafür viele Belege aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die sie überzeugend verbindet. Etwa das Internet, wo misogyne Gewalt normalisiert werde und in die „reale Wirklichkeit“ zurückwirke. Sie schreibt von der Zunahme „häuslicher Gewalt“, auch gegenüber Akademikerinnen, deren ebenso gebildete Partner nach außen progressiv auftreten, im Privaten aber um die Wiedererlangung der im öffentlichen Raum verlorenen Kontrolle ringen. Natürlich geht es auch um die politische Agenda, mit der Frauenrechte vielerorts strategisch zurückgeschraubt werden, maßgeblich durch (erneute) Kontrolle über den Körper. Zentral ist die Spannung zwischen faktischem Patriarchat und dessen diskursiver Überwindung: „Weil das Männliche nicht mehr die Norm sein soll, es aber auch keine neue gibt, ist eine Art Vakuum entstanden, das mit Gewalt gefüllt wird.“ Kaiser schreibt klar und sehr kenntnisreich. Sie schließt mit einem differenzierten Blick auf die strategischen Möglichkeiten von Identitätspolitik, um die Geschlechterkategorien letztlich zu überwinden. Carola Ebeling
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Susanne Kaiser „Backlash.
Die neue Gewalt gegen Frauen“
( Tropen, 222 S., 22 Euro )
All die Liebenden der Nacht
Sie ist immer still, oft hat sie noch nicht mal eine eigene Meinung. Nur wenige bekommen Zugang zu ihr, den meisten Leuten ist ihre Existenz aber gleichgültig. Mehr als dreißig Jahre lang führt Fuyuko Irie dieses Leben, sie selbst kommt damit gut zurecht. Als freiberufliche Korrekturleserin ist der einzige Kontakt, den sie pflegt, der zu ihrer Kollegin. Fuyuko ist fasziniert von dieser Frau, deren Ausstrahlung und Lebensfreude in starkem Kontrast zu ihrem eigenen Leben stehen. Denn es gibt nichts, das ihr Genuss bereitet – abgesehen vom Abendspaziergang, einmal im Jahr, alleine, zu ihrem Geburtstag. Eines Tages fängt Fuyuko grundlos an, Alkohol zu konsumieren. Sehr schnell wird der Schnaps zum treuen Begleiter ihres Alltags – so sehr, dass sie nicht mehr aus dem Haus geht, ohne vorher einen gebechert zu haben. Zeitgleich lernt Fuyuko einen Mann kennen, der sie ungewöhnlich rücksichtsvoll behandelt. Irritiert von ihren neuen Gefühlen versucht Fuyuko, mit ihrem exzessiven Alkoholkonsum klarzukommen und dabei ihre Träume nicht aus dem Blick zu verlieren. Mit „All die Liebenden der Nacht“ ist Mieko Kawakami ein großartiger Roman gelungen. Behutsam nimmt die Autorin die Lesenden an die Hand, um ihnen unaufdringlich einen Blick ins Innere der Protagonistin zu verschaffen – die zwar verschlossen, aber voller sehnsuchtsvoller Träume ist. Shoko Bethke
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Mieko Kawakami „All die Liebenden der Nacht“ ( Aus dem Japanischen von
Katja Busson. Dumont, 260 S., 24 Euro )
Wo alles beginnt
Der Uterus ist ein mythenreiches Organ. Lange hielten ihn Ärzte für reizbar, waren überzeugt, dass er im Körper herumwandert und Hysterie auslöst. Was dagegen wirklich in der Gebärmutter vor sich geht? Darüber war lange sehr wenig bekannt und auch heute noch bedarf es dringend weiterer Forschung – das wird bei der Lektüre von Leah Hazards Sachbuch schnell klar. Die US-amerikanische Journalistin und Hebamme widmet sich darin Aufbau und Funktion des Uterus von Periode über Empfängnis bis zu Menopause. Sie forscht nach den Gründen einer Hysterektomie, untersucht Myome und berichtet über Zwangssterilisationen. Kritisch versucht sie, auf die Strukturen zu blicken, in denen Wissenschaft betrieben wird und in denen Ärzt*innen praktizieren, und bemüht sich um Perspektivenvielfalt. Was sie zu berichten hat, macht oft fassungslos: schwer zu finanzierende Endometriosestudien oder Gewalt im Kreißsaal, wovon am häufigsten Schwarze, arme oder behinderte Personen in den USA betroffen sind. Deutlich wird dabei, wie viel Schaden das medizinische Nicht-Wissen bei Menschen mit Uterus anrichten kann und wie wichtig der Kampf um reproduktive und gesundheitliche Rechte bleibt. Enttäuschend dagegen, dass in der deutschen Übersetzung nicht einheitlich gegendert ist. Und wer alles gemeint wird, wenn von „Frauen“ die Rede ist, wird zwar angerissen, eine klare Definition hätte dem Buch aber nicht geschadet. Hanna Kopp
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Leah Hazard „Wo alles beginnt. Die ungeahnte Power der Gebärmutter“ ( Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hoffmann und Campe, 416 S., 24 Euro )
Die Zukunft ist nicht binär
In Zeiten zunehmender Transfeindlichkeit in Medien und Politik ist Lydia Meyers neues Buch ein wichtiger, haltungsstarker und dabei unaufgeregter Diskursbeitrag. Vor allem aber ist „Die Zukunft ist nicht binär“ eine Art Aufklärungsbuch für alle, die jenseits der gesellschaftlich konstruierten Geschlechterbinaritäten blicken wollen, aber einfach nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Klug verbindet Meyer die eigene Biografie, das Unwohlsein, als Kind ab einem gewissen Alter in eine Geschlechterrolle gedrängt zu werden wie in einen kratzenden unbequemen Pulli, mit dem Medien- und Politikdiskurs der letzten Jahre, Popkultur und Gendertheorie. Wer nach einer theoretischen Abhandlung Ausschau hält, wird allerdings enttäuscht, ebenso wie Fans von emotionalen Anklagetexten und vielleicht auch Leser*innen, die schon tief im Thema stecken. Eher ist „Die Zukunft ist nicht binär“ ein flüssig zu lesender Band, der einen informativen Gesamtüberblick über das Thema Nichtbinarität und Trans gibt – und gleichzeitig eine empathische Streitschrift für mehr Freiheit von Zuschreibungen und beengenden Rollenbildern. Und damit vielleicht genau die richtige Publikation in Zeiten von menschenfeindlichen Mediendebatten. Aida Baghernejad
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Lydia Meyer „Die Zukunft ist nicht binär“ ( Rowohlt, 224 S., 14 Euro )
Idol in Flammen
„Idol in Flammen“ gibt einen Einblick in das Leben eines „Stans“. Diese Bezeichnung eines obsessiven Fans ist angelehnt an den Protagonisten des gleichnamigen Eminem-Songs. Und er ist nicht nur Teenagern vorbehalten. Die Objekte der weltweiten Begierde: vornehmlich südkoreanische oder japanische Idols. In Akaris Fall ist es das Bandmitglied Masaki. Er hilft ihr, der „Schwere in ihrem Körper“ zu entkommen. Der jungen Sprache in Akaris Blog oder im Kontakt mit ihrer BFF entgegen stehen die emotionalen, plastischen Beschreibungen, die Rin Usami, selbst japanischer Literaturshootingstar, nutzt. Bereits als Vierjährige schwärmte Akari für den acht Jahre älteren Sänger. Hervorragend übersetzt beschreibt die 1999 geborene Autorin, was Masaki in Akari auslöst, die jeden Fanartikel mehrfach von ihm kauft. Akari möchte Masaki völlig verstehen und die Welt aus seinen Augen sehen – weil er selbst einmal in einem Interview sagte, dass jeder Mensch ihm in seinem Leben nur oberflächlich begegnet. Nun soll also Masaki einen Fan geschlagen haben. Und auch Akaris Leben, bestehend aus schlechten Noten und dem Versagen beim Jobben, gerät ins Wanken. Der 128-seitige Roman erzählt aber nicht nur von Fankultur, Depression und Essstörung, sondern auch von Familiendynamiken. „Idol in Flammen“ lässt eine*n so schnell nicht los. Simone Bauer
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Rin Usami „Idol in Flammen“ ( Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz. Kiepenheuer & Witsch, 128 S., 18 Euro )
Know Your Flow
Die Anzahl an gesellschaftlich verbreiteten positiven Konnotationen mit dem Thema Zyklus ist ungefähr so hoch wie der Anteil an FLINTA-Acts bei Rock am Ring. Geht besser, sagt Rena Föhr in ihrer persönlichen Rolle als Person mit Uterus, aber auch als Paar- und Sexualberaterin. „Know Your Flow“ räumt nun ohne erhobenen Zeigefinger mit Mythen rund um Zyklus und Sexualität auf. Die zwanzig Kapitel gehen alle synchron vor: Föhr führt an das nächste Thema mit autobiografischen Anekdoten heran, gibt dann auf wissenschaftlichen Fakten basierende Tipps und Einsichten und spickt das Ganze noch mit Erfahrungsberichten von Klient*innen. Von den biologischen Prozessen des Zyklus über die Unterschiede von Zervix- und Erregungsschleim bis zu Sex während der Menstruation wird dabei kaum ein Thema ausgelassen. Zwei große Pluspunkte: Menstruierende fern der hetero cis Frau werden sprachlich und thematisch zu jeder Zeit inkludiert. Und auch die individuellen Körper- und Lebensrealitäten werden bei jedem noch so kleinen Tipp betont. Die Verallgemeinerung gibt’s ja schon bei dem*der Gynäkolog*in nebenan. Am Ende geht es Föhr mit diesem Buch vor allem darum, Menstruierende zu einem „achtsamen Umgang mit dem Zyklus“ aufzurufen. Und das zu lesen, wird den meisten (Nicht-)Betroffenen zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Julia Köhler
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Rena Föhr „Know Your Flow. Unseren Zyklus verstehen für ein gutes
Körpergefühl und besseren Sex“
( Piper, 240 S., 18 Euro )
überLIEBEn
In „Poetry Is Not a Luxury“ schrieb Audrey Lorde 1985, wie unverzichtbar Poesie ist, um als marginalisierte Person zu überleben – wie Dichtung jeden feministischen Kampf beginnt, wie unabdingbar sie ist, um unsere Sprache zu finden und endlich etwas zu verändern. Heute, fast vierzig Jahre später, schreiben im Lyrikband „überLIEBEn“ 38 Autor*innen zärtlich gegen die normative Kraft der Liebe an. Sie fragen, wie jene Lieben, die sich nicht allabendlich auf großen Leinwänden ihrer Macht versichern, überleben – was sie unterdrückt und was sie bedingt. Taudy Pathmanathan schreibt darüber, wie sich gemeinschaftliche Liebe und Solidarität anfühlen – wie sie uns freund*innenschaftlich auffangen, wenn alle Gefühle einstürzen. Bei Serpil Temiz Unvar politisiert sich das lyrische Ich, als geliebte Menschen rassistisch ermordet werden. Ein paar Seiten weiter dichtet Schirin Rajabi davon, wie die Angst, den Namen einer vergangenen Liebe zu lesen, einen Menschen zermürbt. Sie endet schließlich mit „Ich starre heimlich / ich bin ein Eisblock / vor Scham – / All das Vergangenheit. / Was für ein Glück.“ Wie der Wortspieltitel ist das Vorwort etwas platt geraten. Die Gedichte sind aber liebevoll kuratiert und bringen Stimmen wie die großartige Özlem Özgül Dündar mit noch unbekannten Autor*innen zusammen. Ganz im Sinne unserer autofiktionalen literarischen Gegenwart begleitet dabei eine kurze biografische Notiz jedes Gedicht. So entmonopolisiert diese Blütenlese heterosexuelle, monogame, romantische, weiße Liebe und öffnet einen Blick auf all die Schönheit, die auf den anderen Seiten wartet. Regine Eurydike Hader
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Tamer Düzyol & Taudy Pathmanathan (Hg.) „überLIEBEn“ ( Edition Assemblage/Haymatlos, 142 S., 14,80 Euro )
Ich wünsch’ dir nur das Beste
Ben ist 18 und hat ein Geheimnis, das endlich ausgesprochen werden muss: Ben ist nicht-binär. Nach monatelangem Hadern sollen es die Eltern endlich erfahren, doch anstatt unterstützend oder wenigstens verständnisvoll zu reagieren, schmeißen sie Ben kurzerhand raus. Als einzige Anlaufstelle bleibt nur noch Bens Schwester Hannah, die vor zehn Jahren von zu Hause abgehauen ist. Sie nimmt Ben ohne Zögern auf und kümmert sich in kürzester Zeit um eine neue Schule und einen Therapieplatz, damit Ben die Möglichkeit bekommt, sowohl den Abschluss noch zu schaffen, als auch das Erlebte zu verarbeiten. Das ist allerdings einfacher gesagt als getan, denn zum einen lernt Ben auf der neuen Schule Nathan kennen und hadert mit einem erneuten Coming-out. Zum anderen will Ben wissen, warum die Eltern so gehandelt haben, geht dieser Frage aber ohne Hannahs Wissen nach. „Ich wünsch’ dir nur das Beste“ war 2019 das Debüt von Mason Deaver und wurde bei Erscheinen zu Recht hoch gelobt. Dey hat einen Young-Adult-Roman geschrieben, der beim Lesen gleichzeitig schmerzhaft und heilend ist und für viele trans und nicht-binäre Jugendliche die dringend nötige Repräsentation und Identifikationsmöglichkeit liefern kann. Ein wichtiges Buch, das sogar just unter der Regie von Tommy Dorfman verfilmt wurde und als Film hoffentlich noch mehr Menschen erreicht. Avan Weis
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Mason Deaver „Ich wünsch’ dir
nur das Beste“ ( Aus dem
Englischen von Charlotte Milsch.
Katalyst/Zuckersüß Verlag,
390 S., 22 Euro )
Kami und Mika.
Die phantastische Reise nach Wolkenhain
Regina Feldmann war auf der Suche nach Vorlesestoff für ihre eigenen drei Kinder: Bücher, in denen zum einen Diversität eine Rolle spielt und die andererseits spannende und gute Abenteuergeschichten erzählen. Weil sie nicht fündig wurde, hat die gelernte Touristikerin selbst eins geschrieben – und ihre neue berufliche Heimat in der Kinder- und Jugendliteratur gefunden. „Kami und Mika. Die phantastische Reise nach Wolkenhain“ erzählt von den ungleichen Zwillingen Kami (eigentlich Kazimir) und Mika (eigentlich Malika), die eines Tages mithilfe einer magischen Chamäleonzunge nach Wolkenhain reisen. Dort lernen sie die zufriedenen Bewohner*innen des Landes in den Wolken kennen (denn hier dürfen alle so sein, wie sie wollen), außerdem allerhand spezielle Tiere (wie die Pegasuskuh, Glühbienchen und Wuppis) und lebendige Häuser. Auf ihrer Reise schließen die beiden Kinder Freund*innenschaften und erleben allerhand Abenteuer. Regina Feldmann erzählt davon so fantasievoll, spannend, lebendig und lustig, dass sowohl das Vorlesen als auch das Zuhören Spaß macht. Die genauso wundervollen Bilder stammen von der Hamburger Illustratorin Ayşe Klinge und passen perfekt zur Geschichte. Ich behaupte, dass es sich bei diesem Buch um einen zukünftigen Kinderbuchklassiker handelt! Auf Klassiker einer neuen Generation haben wir sowieso schon viel zu lange gewartet. Carla Heher
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Regina Feldmann „Kami und Mika.
Die phantastische Reise
nach Wolkenhain“ ( Illustriert von
Ayşe Klinge. S. Fischer, 160 S.,
15 Euro, ab 7 Jahren )
Paradiesische Zustände
Der Musiker, Schauspieler und Backenthusiast Henri Maximilian Jakobs hat seinen Debütroman geschrieben. Mit Ironie, Humor und Charme beschreibt er den holprigen Weg seines Protagonisten Johann durch verschiedene Phasen des Erwachsenwerdens und Er-Werdens. Johanns Leben ist zunächst einmal alles andere als ein paradiesischer Zustand. Er ist in einem Körper mit weiblich gelesenen Merkmalen zur Welt gekommen und fühlt sich nie ganz zu Hause in der Welt. Zwischen schichtenweise Klamotten im Sommer und einem diffusen Gefühl des Andersseins verbringt er seine Jahre nach dem Abitur mit dem Versuch, sich irgendwo einzuordnen. So recht mag ihm das nicht gelingen, er fühlt sich fremd in seinem Körper und in seiner Rolle als Frau. Zwischen dem Abi, einem abgebrochenen Schauspielstudium in der heteronormativ geprägten bayrischen Provinz und dem Job in einer Berliner Wurstbude struggelt er und versteht nicht, was genau ihn so plagt. Liebe, Freund*innenschaft und Zufriedenheit sind für ihn noch größere Herausforderungen, als sie es während des Heranwachsens sowieso schon sind. „Paradiesische Zustände“ ist trotz seiner Tiefe ein humorvolles Buch. Denn wie Jakobs schreibt: „(S)o traurig sein, wie die Dinge scheiße sind, kann man gar nicht“. Irgendwann wird dann alles anders und Pommes im Freibad oder das mit der Liebe macht auch mehr Sinn, so ohne den Selbsthass. Und somit ist dieses Buch nicht nur unterhaltsam und bildend, sondern auch empowernd für jedes Individuum mit Selbstzweifeln. Vanessa Sonnenfroh
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Henri Maximilian Jakobs
„Paradiesische Zustände“
( Kiepenheuer & Witsch,
352 S., 22 Euro )
Undemokratische Emotionen
Allen, die verstehen möchten, welche politischen Gefühle den Rechtspopulismus nähren, sei dieses Sachbuch ans Herz gelegt. Am Beispiel von Israel zeigt Soziologieprofessorin Eva Illouz, wie Furcht, Hass, Abscheu und Ressentiment Gesellschaften spalten und Feind*innenbilder erschaffen. „Der Kern der israelischen Seele ist die Angst“, schreibt Illouz über das Selbstverständnis der Nation, die das Trauma der Shoah in sich trägt und die sich durch den Konflikt mit den Palästinenser*innen permanent bedroht fühlt. Nicht nur Benjamin Netanjahu, sondern auch Marine Le Pen oder Donald Trump nutzen die Furcht als effizientes Mittel, um Macht zu sichern und zentrale liberale Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Gewaltenteilung auszuhöhlen. In ihrer klugen Analyse greift Illouz soziologische Theorien von Macchiavelli, Adorno, Aristoteles und vielen anderen Denker*innen auf und überträgt sie auf die israelische Situation. Die Lebensrealitäten von israelischen Bürger*innen und Aktivist*innen untermauern in eingestreuten Interviewsequenzen Illouz’ theoretischen Rahmen. Leser*innen lernen viel über Israel. Etwas politisches und soziologisches Vorwissen ist jedoch vorausgesetzt, denn „Undemokratische Emotionen“ ist keine entspannte Nachttischlektüre – intellektuell fordernd und hochaktuell. Katrin Börsch
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Eva Illouz „Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel“
( Aus dem Englischen von Michael Adrian. Suhrkamp Verlag, 259 S., 18 Euro )
Die Patriarchen
In „Die Patriarchen“ begibt sich Angela Saini auf die Suche nach dem Ursprung männlicher Herrschaft und reist dabei von den Anfängen der Menschheit ins Jetzt sowie durch große Teile der Welt, um herauszufinden, ob das patriarchale System, in dem wir leben, überhaupt allgemeingültig ist und eine faktisch belegte Daseinsberechtigung besitzt. Spoiler Alert: Das Patriarchat ist weder selbstverständlich noch selbsterklärend. Saini trägt sorgfältig verschiedene Beweise zusammen, die belegen, dass das patrilineare Familienleben keinesfalls unausweichlich ist. So beschäftigt sich das Buch ausführlich mit der Existenz matriarchaler Gesellschaften wie jener der Nayara in Kerala, Indien, der Mosuo in Südwestchina oder der jungsteinzeitlichen Siedlung Çatalhöyük. Auch in der Tierwelt findet Saini bei ihren Nachforschungen keinen Nachweis für eine vorherrschende männliche Überlegenheit. Auf ihrer Suche nach den Ursprüngen und Gründen für das Patriarchat tut sich für Saini jedoch ebenfalls keine klare Antwort auf. Ihr Buch bietet dafür aber eine sehr verständliche und detaillierte Übersicht über die Geschichte männlicher Herrschaft – von 13 Millionen Jahren v. Chr. bis 2022 zur Aufhebung von Roe v. Wade in den USA. Übersichtlich veranschaulicht mit Weltkarte und Zeitrahmen. Ann Toma-Toader
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Angela Saini „Die Patriarchen. Auf
der Suche nach dem Ursprung
männlicher Herrschaft“ ( Aus dem
Englischen von Simoné Goldschmidt-Lechner. Hanser, 352 S., 25 Euro )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 04/23.