Barbiecore – nichts als weiße Nostalgie?
Von Dominique Grisard
Artwork: Stella Richter
Mehr als ein ganzes Jahr vor seiner Veröffentlichung begann im April 2022 der breit angelegte Werbefeldzug für Greta Gerwigs „Barbie“-Film. Etwa zeitgleich verschrieben sich Celebritys wie Hailey Bieber und Lizzo sowie Modedesigner wie Valentino, Balenciaga und Alexander McQueen der hot pinken Farbe. Diese wiederum ließen sich von der TikTok-Ästhetik des sogenannten Barbiecore inspirieren: pink, Plastik, perfekt – wie Barbie halt. Etsy-Trendexpertin Dayna Isom Johnson erklärt, weshalb Barbiecore – die mittlerweile unzähligen Core-Ästhetiken im Netz leiten sich vom englischen Begriff „hardcore“ ab und bezeichnen damit (ironisch) eine „heftige“, bis an den Kern gehende Hingabe zum jeweiligen Trend – den Nerv der Zeit trifft: Nach den schwierigen vergangenen Jahren versprühe die leuchtend bunte Barbiecore-Ästhetik gute Laune, ein Gefühl von Leichtigkeit.
Sie bediene unsere Sehnsucht nach unbeschwertem Fun. Ihre Erklärung leuchtet mir ein. Doch für Stylistin Shea Daspin ist Barbiecore mehr als eine Wohlfühlkiste. Barbiecore sei auch eine Kampfansage an den im Frühjahr 2022 gefällten Entscheid des US-amerikanischen Supreme Courts, das Meilensteinurteil Roe v. Wade zu kippen und damit das in den USA seit gut fünfzig Jahren geltende Recht auf Abtreibung zu beenden. Hmmm. In Europa habe ich von dieser expliziten Politisierung von Barbiecore noch nicht viel mitbekommen. Für mich klingt der Barbiecore-Trend vor allem nach weißer Nostalgie. Eine rückwärtsgewandte Ode an eine bessere, unbeschwerte Zeit, die es nie gab. Die mythischen 1980er- und 1990er-Jahre stehen für einen hedonistischen Lifestyle: sorgenfrei, clean, fit, immer gut drauf und feinsäuberlich weißgewaschen von Ungleichheiten, Ausbeutungsverhältnissen, Konflikten und Kriegen. Aidskrise? Golfkriege? Reagonomics? Race Riots? Oder doch lieber sentimentale Kindheitserinnerungen an das Spielen mit Barbie?
Auch ich erzähle gerne, wie ich der weißblonden Prinzessinnen-Barbie meiner fünf Jahre älteren Schwester die Krone vom Kopf riss. Ich war neidisch, denn selbst durfte ich noch keine Barbie haben. Das sollte sich zwar bald ändern, doch meine Lieblings-Barbie blieb die Prinzessinnen-Barbie. Dass sie statt Krone ein großes Loch im Kopf trug, änderte nichts. Das war in den 1980ern. Seit über zehn Jahren setze ich mich nun auch wissenschaftlich mit Barbie und Pink auseinander. Ich bin nicht die Einzige: Barbie spielt eine tragende Rolle in den kulturwissenschaftlichen Doll Studies und Thing Theories. Ja, die gibt es und es ist zu vermuten, dass auch Gerwig sich mit diesen auseinandergesetzt hat. Denn der Barbie-Film erweckt ein vermeintlich passives Ding – Barbie – zum Leben. Dargestellt von Margot Robbie wird eine Puppe mit Handlungsmacht und Eigensinn ausgestattet. Wie in den Dingtheorien von Jane Bennett, Bruno Latour oder Bill Brown wird die für unsere Gesellschaft zentrale Unterscheidung zwischen aktiven, handlungsmächtigen, ja rational-maskulinen Subjekten und passiv-weiblichen Objekten infrage gestellt und stattdessen auf die komplexen Interaktionen zwischen Dingen und Menschen hingewiesen. Schenken wir Donald Winnicotts Objektbeziehungstheorie Glauben, so haben Plüschtiere, Puppen und andere frühkindliche Spielsachen eine nachhaltige Wirkmächtigkeit, unterstützen sie doch die Ablösung von unseren engsten Bezugspersonen und prägen unsere erste Wahrnehmung des Selbst in der Welt. Diese „weiche“ Macht von Kinderdingen wird gespeist durch lebenslange Beziehungen und Erinnerungen an Spielsachen unserer Kindheit. Wer indes daran erinnert, dass nur eine kleine privilegierte Minderheit eine unbeschwerte, erfüllte Kindheit(-serinnerung) hat, dem*der wird unterstellt, er*sie wolle Fun und Style gegen Politik ausspielen. Und überhaupt: Barbie sei doch nur ein Kinderspielzeug.
Als 1959 die erste Barbie auf den Markt kam, stellte sie eine modische Frau von Welt dar – blasse Haut, blonde oder dunkle zusammengebundene Haare, städtisch chic, mit einem distanzierten Blick und: ernster Miene. Ein Grund, weshalb Barbie mit ihren 64 Jahren an Popularität nichts eingebüßt hat, ist ihre Wandlungsfähigkeit. Ab 1977 versuchte Mattel, jüngere Mädchen ab drei Jahren anzusprechen: Barbies Augen wurden größer, die Wangen runder, die langen Haare wandel- und frisierbar. Barbies blasse Haut wich einem ganzjährigen California Tan. Erst zu diesem Zeitpunkt erhielt Barbie ihr breites Lächeln. Pink wurde zu ihrer Signature-Farbe. Denken wir an Barbie, sehen wir diese pinke, blonde, leicht gebräunte Barbie vor unserem geistigen Auge. Und das trotz der Vielfalt, auf die Mattel seit 2015 setzt. Barbies mit körperlichen Einschränkungen, verschiedenen Körperformen, Haut- und Augenfarben sind nun Teil des Sortiments, seit Mai 2022 auch Barbie-Fashionistas-Puppen mit Hinter-dem-Ohr-Hörgerät, Vitiligo und Beinprothese. Dem neunjährigen Schwarzen Mädchen Claudia in Toni Morrisons 1970 erschienenem Roman „Sehr blaue Augen“ wurde schon früh klar: „Adults, older girls, shops, magazines, newspapers, window signs – all the world had agreed that a blue-eyed, yellow-haired, pink-skinned doll was what every girl child treasured.“ Heute gibt es eine Barbie-Vielfalt, aber was hat sich tatsächlich verändert?
Auf der ästhetischen Ebene kann das exzessive, knallige Barbiecore-Pink als queere Gegenästhetik gelesen werden zur „dezenten“, zurückgenommenen weißen bürgerlichen Sensibilität und ihrem Gebot, immerzu authentisch, natürlich und seriös zu sein, versinnbildlicht in den Farben Beige und Greige. Wobei das Nicki Minaj auf ihrem 2010 erschienenen „Pink Friday“-Album viel besser gelingt, gerade weil Minaj etwas für Schwarze Performer*innen reklamiert, das sonst nur weißen Frauen zusteht: Anerkennung für die ästhetisch-kreative Inszenierung des Kunstkörpers, nicht wie herkömmlich auf die vermeintlich hypersexuelle Natur und Wahrheit der Schwarzen Frau festgeschrieben zu werden. Wer darf sich Barbie nennen? Wer darf Barbie spielen?
Was das Narrativ des Films anbelangt, verspricht uns der Trailer: Barbie bricht aus ihrer Verpackungsschachtel aus und emanzipiert sich von ihrem Hersteller Mattel. Mit dem Schritt von der Puppenwelt in die „Realität“ passiert Barbie das Undenkbare: flat feet! Ihre für High Heels vorgeformten Füße – im weißen Feminismus der Zweiten Frauenbewegung Sinnbild der Verdinglichung und Einschränkung der Frau – werden nicht nur flach und beweglich (neoliberal flexibel?), sondern Birkenstock-kompatibel, in den USA Code für den maskulinen Anti-Stil weißer lesbischer Feministinnen. Birkenstock-Barbie braust also in ihrem pinken Cabrio – in den mythischen 1980er- und 1990er-Jahren ist das noch bedenkenlos möglich – durch die Weiten Kaliforniens und singt dabei lautstark mit den Indigo Girls mit, einer der ersten offen lesbisch lebenden US-Bands. Ist Gerwigs Barbie nicht nur feministisch, sondern auch lesbisch? Ist Barbies Befreiung aus dem Verpackungskarton gar als Metapher für ihr „coming out of the closet“ zu verstehen? Wer weiß, aber ja: weiß, das ist sie und ein Großteil der intertextuellen Referenzen, mit denen der Trailer gespickt ist. Americana-, Queer-, Gender- und Doll-Studies-Nerds werden viel Spaß haben, diese zu entschlüsseln. Aber lässt Gerwigs Barbie das Korsett weißer Weiblichkeit hinter sich? Es wäre schon viel erreicht, wenn der Barbie-Film dazu anregt, neu über die „weiche“ Macht von Kinderdingen (Barbie) und Farben (Pink) nachzudenken. Also genau über die Art und Weise, wie Emotionen und Erinnerungen an die eigene Kindheit dazu beitragen, gesellschaftliche Ungleichheiten aktiv aufrechtzuerhalten.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 04/23.