© Bär Kittelmann

#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik

#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.

„Wir leben im Kapitalismus. Seine Macht scheint unentrinnbar zu sein. Aber so war es auch mit dem göttlichen Recht der Könige“, sagte mal die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin. Dieses Zitat kommt mir oft in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wie ich angefangen habe, mich für Geschichte zu interessieren. In der Schule war Geschichte mein Hassfach und gefährdete fast jedes Jahr meine Versetzung. Ich konnte mir keine Daten und Fakten merken und wahrscheinlich langweilte mich auch die Tatsache, dass sich gefühlt alles um Herrschaft und die Herrschenden drehte statt um Menschen und ihre Lebenswelten. Mein Interesse an Geschichte begann damit, dass ich politisch aktiv wurde. Ich lernte von Genoss*innen, dass die Machtverhältnisse, die uns als unausweichlich und natürlich erscheinen, nicht immer existiert haben und nicht in Stein gemeißelt sind, also überwunden und bekämpft werden können.

„Die Möglichkeit, das Gefühl von Ohnmacht zu durchbrechen, das mit diesen Annahmen einherging, machte Geschichte auf einmal interessant.“

In einem Gespräch mit einigen kurdischen Frauen hörte ich als Teenagerin zum ersten Mal davon, dass das Patriarchat innerhalb der gesamten Menschheitsgeschichte eigentlich so lange existiert wie ein einziger Wimpernschlag und es davor klassenlose Gesellschaften und Gesellschaftsordnungen gegeben hat, die nicht auf Herrschaft und Eigentum gegründet waren. Und ich lernte, dass es immer Widerstände gegen patriarchale Strukturen und Ausbeutung gab. Ich erinnere mich daran, wie befreiend diese Erkenntnis für mich und andere Genoss*innen war, vor allem angesichts dessen, dass der Kapitalismus immer wieder als alternativlose und „der menschlichen Natur entsprechende“ Wirtschaftsordnung dargestellt wird. Oder dass vermittelt wird, dass das Patriarchat schon immer da gewesen und natürlich sei. Die Möglichkeit, das Gefühl von Ohnmacht zu durchbrechen, das mit diesen Annahmen einherging, machte Geschichte auf einmal interessant. Geschichte war nicht mehr eine bloße Erforschung der Vergangenheit aus Sicht der Herrschenden. Ich verstand nun die Zusammenhänge zwischen Gegenwart, Widerstand und Kritik an Machtsystemen. Und was noch wichtiger ist: Ich lernte, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte nicht elitär, akademisch und trocken sein muss. Sie muss nicht allein am Tisch einer Unibibliothek mit einem fünfhundertseitigen Sachbuch in der Hand stattfinden. Zumal die Geschichten von kolonisierten Völkern, von Arbeiter*innen, von Frauen und von queeren Menschen in vielen dieser Sachbücher sowieso kaum oder nur oberflächlich auftauchen. Geschichte zu erforschen, zu schreiben und festzuhalten kann ein kollektiver Prozess sein, der auch durch Gespräche, Gedichte, Geschichten, Lieder und Kunst zustande kommt. Ich begann, Geschichte auch in den Deq-Tattoos älterer kurdischen Frauen zu sehen oder in alevitischen Deyiş-Gesängen und in Tänzen, Stickereien und Erzählungen.

Hêlîn Dirik

Hêlîn beschäftigt sich mit revolutionären feministischen Kämpfen und Ideen und ist Herausgeberin des feministischen Newsletters @dengnewsletter. Sie hat Geschichte und Philosophie studiert, lebt und arbeitet in Bologna und Offenbach.

„Ob Stonewall, Rojava, Pariser Kommune oder die unzähligen Arbeiter*innenkämpfe und antikolonialen Widerstände der letzten Jahrhunderte – die Befreiungskämpfe von heute leben auch von den Aufständen von gestern.“

Es mag in diesen Zeiten „Wichtigeres“ geben, als sich mit Geschichte zu beschäftigen. Aber ich glaube, dass gerade jetzt, wo viele von uns sich angesichts Klimakrise, Kapitalismus und zunehmender patriarchaler und rechter Gewalt machtlos fühlen, eine kollektive Auseinandersetzung mit Geschichte für linke und feministische Kämpfe extrem befreiend und wertvoll sein kann. Nicht nur, weil wir dadurch erkennen, dass in Ursula K. Le Guins Worten „alle menschliche Macht von Menschen aufgehalten werden kann“, sondern auch, dass heutige Widerstände gegen patriarchale Gewalt, Ausbeutung, Rassismus, Polizeigewalt und Kapitalismus auf einem Erbe beruhen: Ob Stonewall, Rojava, Pariser Kommune oder die unzähligen Arbeiter*innenkämpfe und antikolonialen Widerstände der letzten Jahrhunderte – die Befreiungskämpfe von heute leben auch von den Aufständen von gestern. Uns an sie zu erinnern, sie festzuhalten und sie weiterzuführen ist Widerstand.