Illustration: © Sophie Nicklas

Hypertext von Zain Salam Assaad

„Hypertext“ ist das Produkt aller möglichen Memes und Sad Songs des letzten Jahrhunderts. In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen – zwischen Pass und Smash. Dazu teilt Zain Memes oder eigene Mood-Playlists.

Als ich 2017 ganz entspannt durch die Dresdner Innenstadt schlenderte, stieß ich auf arabischsprachige Flyer von der Identitären Bewegung, auf denen die Worte prangten: „Beschützt eure Heimat! Geht zurück!“ Ich stieg daraufhin in den Zug und fuhr zurück nach Leipzig, wo ich in der Zeit gelebt habe. Ich war verwirrt, die Flyer riefen Gefühle in mir hoch, die ich schon lange tief vergraben hatte. Denn ich habe mich, wie viele andere Wehrpflichtige in Syrien, ganz bewusst dafür entschieden, dem syrischen Militär – einer Institution, die bereits in den ersten Tagen der syrischen Revolution mit dem Geheimdienst zusammenarbeitete, Propaganda und Angst verbreitete und die Wände meiner Schule mit Slogans wie „Assad oder keiner!“ besprühte – fernzubleiben. In Leipzig befand sich mein Zuhause direkt gegenüber eines ehemaligen NPD-Zentrums, das laut der Geschichten von Nachbar*innen im Haus immer noch regelmäßig von Neonazis aufgesucht wurde. In meiner Wohnung teilte ich das Bad kurze Zeit mit einem Menschen, der sich gerne mit Neonazisymbolik schmückte und mit viel Enthusiasmus darüber sprach, wie Deutschland „gesäubert“ werden müsse – „die Flüchtlinge“ kämen und würden alles nehmen: die Jobs, die Frauen, die Häuser und die Sozialleistungen. Ein Ostdeutschlandphänomen? Das bezweifle ich, obwohl ein migrantisches Leben im Osten zu führen nicht unbedingt einfach ist. Was bedeutet dieser West-Ost-Diskurs für Geflüchtete und Migrant*innen hierzulande?

Sogar im Osten findet man den Osten schlimm

Meinen Deutschkurs in Dresden habe ich damals abgebrochen und mich stattdessen dazu entschieden, alleine online weiter Deutsch zu lernen. Mein Zimmer fühlte sich wie der einzige Safe Space an. Zumindest gab es dort keine Flyer oder Sprüche, die mich dazu bewegen wollten, nach Syrien zurückzukehren. Heute amüsiere ich mich über die vielen Aussagen und Argumente, die jetzt wieder in der „Flüchtlingsdebatte“ auftauchen. Manche sagen, Rassismus und Anfeindungen gegenüber Geflüchteten seien Probleme, die es nur in Ostdeutschland gebe. Andere sprechen von „deutschem“ Unmut und Armut als Ursache. Dann gibt es Migrant*innen, die der deutschen Dominanzgesellschaft gefallen möchten und nur erzählen, dass es gerade viel besser sei als je zuvor – als ob solche Behauptungen irgendeine bedeutsame Wirkung auf das Leben von Menschen auf der Flucht hätte. Und dann gibt es noch diejenigen, die sich gegenseitig auf die Schulter klopfen möchten, weil sie alles versucht haben, um ihre migrationsfreundliche oder -feindliche Meinung vertretbar zu machen. Möglicherweise dient das dazu, ihr Gewissen zu beruhigen. Zusätzlich besteht aktuell eine Diversitätspolitik, die Interessen von Geflüchteten nur dann berücksichtigt, wenn es um individuellen Aufstieg oder Selbstbestätigung geht. Weiterhin werden viele dieser Meinungen rund um Asyl und Migration ständig durch den Ost-West-Vergleich geprägt, emotionalisiert und von der strukturellen Ebene, z. B. der Gesetzgebung, auf Probleme in den sogenannten neuen Bundesländern und Unruhen in den großen Aufnahmeländern außerhalb der EU reduziert. Ich verstand diesen Vergleich als Ausländer*in und Außenseiter*in lange Zeit nicht, denn wie viele andere Migrant*innen suche auch ich noch nach meinem Platz in der deutschen Gesellschaft. Früher übernahm ich Aussagen wie: „Der Osten ist schlecht“, ohne darüber nachzudenken, wer das sagt und was genau damit gemeint ist. Heute denke ich: „Ja, der Osten ist kein Paradies, aber wo ist es denn bitte in diesem Land besser, und für wen wäre es überhaupt besser?“

Zain Salam Assaad

Zain Salam Assaad studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig. Heute arbeitet Assaad als frei*e Journalist*in und Übersetzer*in, insbesondere für die Themen LSBTIQ*-Rechte, Migration und digitale Trends, wobei dey immer Dinge in einen Kontext setzt. In der Freizeit beschwert dey sich gerne über das Wetter in Deutschland, toxische Netzkulturen und empathiefreie Debatten.

„,Der schlechte Osten’ und der ,gute Westen’ existieren nicht.“

Es besteht zweifellos eine starke Verbreitung rechtsextremer Strukturen in Ostdeutschland sowie eine höhere Prävalenz rechtsextremer Gewalt und eine größere Zustimmung zur rechten Ideologie, wie sie beispielsweise von der AfD vertreten wird. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass Migrant*innen in Westdeutschland sicherer sind. Der deutsche Osten kann besonders schlimm sein. Dennoch leben dort auch Menschen, die von Rassismus betroffen sind, Migrant*innen und Geflüchtete, teilweise seit Generationen, die nicht von der Binarität dieses Diskurses profitieren. Sie müssen jeden Tag lernen, sich besonders abzuhärten, um Konsequenzen von politischen und historischen Entscheidungen anderer zu akkommodieren. „Der schlechte Osten“ und „der gute Westen“ existieren aber nicht – nicht in Deutschland und vor allem nicht für Geflüchtete, Migrant*innen und Menschen, die Rassismus erfahren. Denn die Herausforderungen sind groß, hier zu leben: Im Osten sowie im Westen werden sie alleine mit den materiellen Konsequenzen von alltäglichem und strukturellem Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert. Wenn man es schafft, genießt man vielleicht die besseren versprochenen Standards vom deutschen Traum. Dennoch trägt der Rassismus nicht zur Steigerung von Lebensqualität bei – ganz im Gegenteil. Der Osten sei besonders rassistisch, sagen meine westdeutschen Freund*innen und Bekanntschaften. Sogar in Leipzig selbst, wo ich lange gelebt habe, scheint man zu glauben, dass der Leipziger Osten gefährlicher sei. Im Osten lebe die Gefahr und die Schuld, und der Westen existiere außerhalb der Zeit: Gefahr durch Rechtsextremismus und Schuld, nicht mit dem Westen Schritt halten zu können. Wenn man in Deutschland den Osten dämonisiert, vermittelt das zugleich den Eindruck, dass man die Verantwortung für soziale Ungleichheiten von sich schieben möchte: Wenn die Menschen aus dem Osten nicht schuld sind, dann sind es bestimmt die anderen (die Nahossis?). Doch der „Ossi“ ist nicht das Problem. Es ist die deutsche sowie die europäische Politik und Geschichte in Bezug auf Asyl und Rassismusprävention, die unter anderem eine strukturelle Ursache darstellen.

„Man ist überall nicht willkommen und man fühlt und erlebt das auf der Arbeit, in den Schulen und auf der Straße!“

In Deutschland sind die Angriffe auf Geflüchtete und Unterkünfte seit 2021 drastisch angestiegen. Allein in den ersten drei Monaten von 2023 sind die Zahlen alarmierend um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Vorjahr angestiegen. Das einst viel genutzte Schlagwort „Willkommenskultur“ ist mittlerweile selten zu hören – und zwar nicht nur im Osten. Stattdessen wird vermehrt über Versuche gesprochen, Migration nach außen zu verlagern. EU-Staaten, einschließlich Deutschland und weite Teile seiner „diversen und progressiven“ Regierung, stellen sich jedoch quer und tragen eher zur Festung Europas durch Verschärfungen des Asylverfahrens bei, anstatt eine verbesserte Migrationspolitik zu betreiben. Heute stehen wir vor einem allgemeinen Rechtsruck, der sich jedoch nicht nur in der Kriminalstatistik des Ostens widerspiegelt. Der Rechtsruck lässt sich auch auf europäischer Ebene beobachten: von Schweden bis Polen oder Spanien bzw. Italien. Für Migrant*innen, Menschen mit Rassismuserfahrung oder Geflüchtete, die nicht die reiche und hochgebildete „Elite“ vertreten, wird die gesamte EU langsam zu einem „schlechten Osten“: Man ist überall nicht willkommen und man fühlt und erlebt das auf der Arbeit, in den Schulen und auf der Straße! Menschen versuchen weiterhin, nach Europa zu gelangen. Die tragischen Zahlen des gesunkenen Bootes in der Nacht vom 14. Juni 2023 sind weder ein Einzelfall noch eine Neuigkeit – sondern bedauerlicherweise zu einer Normalität geworden. Ich frage mich, ob im Falle dieses Bootes nicht vielleicht der Vergleich mit dem Vorfall des fancy „Titanic“-U-Boots dazu geführt hatte, dass das Thema kurz wieder stärker in den Fokus der internationalen Medien gerückt ist. Die Stimmung sei angespannt, meinen Journalist*innen. Die Zeiten seien schwer, betonen Politiker*innen. Als ob Geflüchtete und Migrant*innen nichts von dieser Schwere oder Spannung spüren würden …