Beziehungsweise queer und Việt Kiều von Phương Nguyễn

© Viki Mladenovski

Über das Dazwischenliegen, innere Zerrissenheit, Finden eines Zuhauses, Mehrdimensionalität, Lieben und Trauern, Hinterfragen und Neugierigbleiben.

Die Annahme, dass wir alle Sex haben und wollen, ist in vielen Kreisen und Kulturen weitverbreitet. Ob hetero, queer, cis, trans, nicht-binär – wir alle begegnen dieser Vorstellung von sexueller Intimität als Ziel und Beweis für Verbundenheit oder aus reiner Lust. Was nämlich eine monogame heterosexuell und cisgeschlechtliche Ordnung einschließt, ist Allosexualität. Zu selten bis gar nicht sieht man Personen auf Online-Dating-Apps, die asexuell, greysexuell oder demisexuell sind. Noch seltener wird darüber gesprochen, ob wir überhaupt sexuelle Anziehung und Lust verspüren, da dies stets angenommen wird. Manchmal gehen wir enttäuscht aus einem Date, weil wir unausgesprochen gehofft haben, die Nacht zusammen zu verbringen. Wir daten, weil wir gesehen, gehalten, nicht alleine und einsam sein möchten. Auch in Gesprächen mit Freund*innen geht es oft darum, ob wir gerade jemanden daten oder einen Crush haben, wir gerade überlegen, unsere Beziehung zu öffnen, oder dass wir uns manchmal einsam fühlen, weil wir kaum Menschen um uns haben, die poly sind.

„Dating in unserer modernen Welt hat nicht zwangsläufig etwas mit Liebe oder Romantik zu tun.“

Apps wie Tinder oder Grindr sind dafür gemacht, um sich für spontane (und) sexuelle Begegnungen zu treffen. Nicht nur sind wir in unserer modernen Welt so sehr darauf getrimmt, immer mehr und so viel wie möglich zu wollen, wir lernen auch, dass casual dating, Hook-ups, One-Night-Stands oder fucking without consequences geradezu Bestandteile unseres Lebens und unseres Erwachsenwerdens sind. Es pusht unser Ego, wenn wir mit vielen Leuten schreiben, es zerfrisst unser Selbstbild, wenn wir keine Likes bekommen oder niemand mit uns flirtet. Wir haben unausgesprochene Erwartungen an unser Gegenüber, wir sehnen uns nach körperlicher Nähe und verwechseln diese zu oft mit sexuellen Praktiken. So hat Dating in unserer modernen Welt nicht zwangsläufig etwas mit Liebe oder Romantik zu tun. Auch in sexpositiven und feministischen Kreisen heißt es mittlerweile: Be a proud slut. Zum einen wurden weiblich sozialisierte Personen lange Zeit für ihre sexuelle Lust stigmatisiert, wenn sie dann aber nicht offen damit umgingen, galten sie wiederum als prüde, langweilig, leise und unterwürfig. Mittlerweile lieben viele offen Sex. Wer emanzipiert sein und sich aus der Unterdrückung befreien möchte, sollte so viel Sex wie möglich haben, kinky Sex haben, Gruppensex haben, auf Sexpartys gehen. Sex ist nämlich cool und du kannst jetzt Sex haben, ohne emotionally attached zu sein und eine ernste Beziehung zu führen. Diese Form der sexuellen Befreiung hat nicht nur dazu geführt, dass weiblich sozialisierte Personen schamloser sind, sondern auch dass wir eine sexuelle Performance an den Tag legen müssen, um den social codes zu entsprechen und mitreden zu können. Wie sieht es aber aus, wenn du keinen Sex möchtest und kein sexuelles Verlangen hast und dies kein Symptom von patriarchaler Unterdrückung ist?

Hà Phương Nguyễn

Phương ist nicht-binär transmännlich, queer, neurodivers, of Color und vietnamesisch-deutsch. Geboren im Element Wasser und im Jahr der Katze betritt Phương durchs Schreiben, Malen und Bewegen den Bereich der eigenen Scham und der Vergebung; übt sich in Selbstehrlichkeit, bedingungsloser Liebe und sucht Wege aus der Selbstsabotage. Kunst ist für Phương wie Wasser: heilend, fließend, immer in Bewegung, kraftvoll, (über-) lebensnotwendig und zerstörerisch. Phương liebt beziehungsanarchistisch, ist intensiv, schüchtern und verträumt.

Am I desireable?

Wenn Verlangen und Vergnügen der Durst nach tiefer Verbundenheit mit einer anderen Person bedeutet, frage ich mich, warum dieses Gefühl so sehr auf Sex beschränkt ist. Der Wert, welcher Sex zugeschrieben wird, kann oft schädlich und limitierend auf unser Selbstbild und auf die Art und Weise, wie wir einander Zuneigung zeigen, wirken. Er kann sich derart auswirken, dass Personen entweder hypersexualisiert, sexualisiert und fetischisiert werden. Kleidung, Bewegung und Sprache werden sexualisiert. Wer gesehen und begehrt werden möchte, muss sich den Spielregeln anpassen und sexuell performen. Wer mehrfach marginalisiert ist, muss sich entweder doppelt anstrengen oder besonders vorsichtig sein, wie sie von außen wahrgenommen werden. Doch weil Dating und Sex so sehr normgetrimmt sind, erfahren wir immer wieder Zurückweisung, wenn wir den Normen nicht entsprechen (können oder wollen). Das tut nicht nur weh, sondern kratzt am eigenen Selbstwertgefühl und hinterlässt uns mit dem Gedanken, wir seien nicht liebenswert. Denn auch in queeren Kreisen geht es oft um das eine: Sex. Wir hypersexualisieren uns gegenseitig, weil queeren Sex zu zelebrieren und offen über Sex zu reden radikal, widerständig, sexpositiv und politisch ist. Doch wie weit geht unsere Sexpositivität, wenn asexuelle Menschen als defizitär oder nicht der Norm entsprechend und nicht queer genug gesehen werden? Welche Form von Liebe und Zuneigung können wir einander entgegenbringen, wenn sie sich außerhalb von Allosexualität bewegt? Keinen Sex zu wollen, ist die normalste Sache der Welt und macht Mensch nicht weniger begehrenswert. Keinen Sex zu wollen, heißt nicht, dein Gegenüber nicht zu begehren oder gar keine Verbindung mit ihr einzugehen zu wollen. Viele Menschen ziehen nämlich ihren Selbstwert aus Sex. Sich aufrichtig und ohne Verurteilung zu begegnen, hat verschiedene Formen und Sprachen. Wenn Intimität und Pleasure also nicht allein Sex bedeuten, frage ich mich, was Sex dann eigentlich ist und welche Rolle Sex in unserer Gesellschaft und in unseren Beziehungen zugeschrieben wird?

Asexuell sein heißt queer und feministisch sein

Wenn Sex cool und normal ist, frage ich mich, welche Rolle Asexualität in sexpositiven Bewegungen hat. Angela Chen führt in ihrem Buch „Ace: What Asexuality Reveals About Desire, Society and the Meaning of Sex“ an, dass cis Männer sich so sehr von der Lust und Sexualität von cis Frauen bedroht fühlten, dass sie das Konzept der Asexualität missbrauchten, um Frauen in ihrer sexuellen Befreiung zu unterdrücken. Jetzt wo sich Menschen befreit haben, stellt sich immer noch die Frage: Wie und wo finden asexuelle Menschen ihren Platz? Denn sowohl in feministischen, queeren oder sexpositiven Kreisen wird noch viel zu wenig über Asexualität gesprochen. Viele wissen nicht einmal, was das ist und dass es sich um ein Spektrum mit so vielen Nuancen handelt. Das Einzige, was vielleicht common sense ist, ist die Haltung, niemals asexuelle Personen daten zu können, weil man dann sexuell inkompatibel sein könnte. Ich frage mich, was daran emanzipiert und politisch sein soll, sich aufgrund von Annahmen gegenseitig aus dem Dating-Pool auszuschließen, und welche Kriterien wir eigentlich verfolgen, wenn es ums Dating an sich geht. Mir scheint das alles etwas bizarr und es verwirrt mich, dass (kein) Sex ein Ausschlusskriterium sein kann, um einen Menschen nicht (weiter) kennenlernen zu wollen.

Für mich ist es nämlich auch feministisch, sich ehrlich zu fragen, welche Intentionen mensch im Dating und im Lieben generell hat. Was braucht mensch, um emotional nah zu einer Person zu sein? Was bedeutet Intimität für dich und wie drückt es sich für dich aus? Welche Formen von Intimität wünschst du dir und warum? Wie gehst du damit um, wenn deine Bedürfnisse nicht erfüllt (werden können)? Was macht eine (zwischenmenschliche) Beziehung für dich aus? Welche Rolle spielt Sex in (nahen) Beziehungen für dich? Was bedeutet Slut sein für dich überhaupt? Was kann und möchte ich geben und nehmen? Wie würde sich deine Beziehung zu deiner/n Partnerperson/en verändern/sein, wenn ihr keinen Sex hättet? Welchen anderen Herausforderungen begegnest du in zwischenmenschlichen Beziehungen? Wann fühlst du dich einem Menschen nah und warum? Wann fühlst du dich nackt und warum? Und aus diesen Gründen finde ich Asexualität so schön, weil sie nicht nur eine Sexualität wie jede andere ist, sondern einer (sexobsessiven) Kultur und queeren Personen helfen kann, starre und limitierende Vorstellungen von Sexualität aufzubrechen und Beziehungen mehrdimensional zu führen.