© mindjazz pictures UG

Feminism WTF
Mit „Feminism WTF“ bringt Katharina Mückstein den intersektionalen Feminismus als verspielte Dokumentation auf die Kinoleinwand. Die österreichische Regisseurin setzt den Schwerpunkt auf die Wissenschaftslage, die relativ niedrigschwellig von einem diversen Forscher*innenteam wiedergegeben wird. Dabei geht es um die aktuellen Debatten des heutigen Feminismus: Warum sprechen in der Gesellschaft immer noch so viele von nur zwei Geschlechtern? Wieso passen Feminismus und Kapitalismus nicht zusammen? Was hat der Feminismus mit dem Klima­wandel und was der Kolonialismus mit sexueller Freiheit zu tun? Bei dieser Themenvielfalt verliert die Dokumentation nie ihren roten Faden. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus diversen Forschungsfeldern greifen ineinander und schlüsseln auf, wie komplex das Thema Feminismus eigentlich ist. Durch die Einbeziehung von Queer Theory und trans Forschung sowie die Diversität der Sprechenden ist die Dokumentation am Zahn der Zeit. Zusätzlich zum filmischen Dialog liefert Mückstein bunt leuchtende, musikvideoartige Fragmente und zeigt soziale Experimente. „Feminism WTF“ ist ermutigend. Da die im Film aufgezeigten Zukunftsperspektiven auf Forschungsergebnissen basieren, hat die Hoffnung hier Substanz. Vanessa Sonnenfroh

„Feminism WTF“ AT 2023 ( Regie: Katharina Mückstein. Mit Maisha Auma, Persson Perry Baumgartinger, Nikita Dhawan, Sigrid Schmitz u. a., 96 Min., Start: 07.09. )

© Drop-Out Cinema

Be Water – Voices From Hong Kong
„Hope is a collective action“, sagt die aus Hongkong stammende Protagonistin in Lia Erbals Dokumentation im Berliner Exil. Sie demonstrierte 2019 in der Sonderverwaltungszone Hongkong, als das chinesische Regime begann, die Demokratie vor Ort zu untergraben, und kommentiert den Verlauf der Bewegung mit persönlichen Erinnerungen. Besonders erschütternd zu sehen ist, wie die anfängliche Hoffnung auf Veränderung ausgebremst wird, als die Polizei die Polytechnische Universität im November 2019 belagert und es so zum vorläufigen Ende der Bewegung kommt. Neben den Protesten wird Chinas politischer Werdegang zur Weltmacht dargestellt. Dazu äußert sich auch Reinhard Bütikofer, der Mitglied des Europäischen Parlaments sowie Vorsitzender der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China ist und für die Doku begleitet wird. Ein Gespräch mit einem chinesischen Diplomaten zeigt, dass hiesige Politiker*innen die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Verletzung von Menschenrechten von China mit zunehmender Besorgnis wahrnehmen, aber auf ein Einlenken Chinas hoffen. Hier ist die Hongkonger Protagonistin schon weiter. Sie ist sich des David-und-Goliath-Kampfes in Hongkong bewusst und hat die dokumentierte Polizeigewalt selbst erlebt. Durch ihre Aussagen und die gezeigten Handyvideos wird die Dokumentation ein wichtiger Beleg für Chinas politisches Selbstverständnis und die brutale Repression, die davon ausgehen kann und oft zu gut versteckt wird. Lorina Speder

„Be Water – Voices From Hong Kong“ DE 2023 ( Regie: Lia ­Erbal. 92 Min., Start: 07.09. )

Total Trust
Der Scheinprozess gegen den chinesischen Menschenrechtsanwalt Weiping Chang ging im vergangenen Jahr weltweit durch die Medien. Der Hintergrund: Chang setzte sich gegen die Diskriminierung von Menschen mit HIV und queeren Personen ein, das Regime reagierte mit Arbeitsverbot, Folter und Inhaftierung. „Total Trust“ gibt nun intime Einblicke in den alltäglichen Kampf politisch verfolgter Chines*innen gegen die staatliche Kontrolle, die durch die heutigen digitalen Möglichkeiten neue Dimensionen erreicht. Neben Chang fokussiert sich die Dokumentation auf die Journalistin und #MeToo-Aktivistin Sophia Xueqin Huang und die Familie des Menschenrechtsanwalts Quanzhang Wang. Die in den USA lebende Regisseurin Jialing Zhang konnte wegen ihrer Beteiligung an der 2019 erschienenen regimekritischen Dokumentation „One Child Nation“ selbst nicht nach China reisen und drehte „Total Trust“ stattdessen mithilfe von Material, das die Protagonist*innen heimlich in ihrem Alltag aufnahmen – ob zu Hause, auf Demonstrationen oder am Gefängniseingang. Das Ergebnis ist bedrückend: „Total Trust“ zeigt, wie der Staat durch seinen Überwachungsapparat, die konstante Analyse der gesammelten Daten und das soziale Punktesystem die totale Kontrolle über das Leben der Bürger*innen gewinnt – und fühlt sich wie eine Warnung an den Rest der Welt an, die Gefahren hinter Big Data ernst zu nehmen. Lena Mändlen

„Total Trust“ DE/NL 2023 ( Regie: Jialing Zhang. 97 Min., Start: 05.10. )

Tótem
Zimmer für Zimmer durchwandert die siebenjährige Sol die Enge des halbdunklen Hauses, in dem ihr Vater Tona lebt. Im Flur hängen keine Gemälde mehr von ihm. In der Küche fängt ein Kuchen Feuer, im Wohnzimmer wird der Teppichboden gesaugt. Haare werden neu gefärbt, Ohrringe angezogen, eine Geisteraustreiberin inspiziert die Aura der Räume. Ameisen krabbeln die Tapete entlang, in den Zimmerpflanzen findet Sol eine Schnecke und eine Gottesanbeterin. Sie durchstreift die Garage und die Werkstatt. Nur die Zimmertür ihres Vaters bleibt verschlossen. Tona ist schwer an Krebs erkrankt. Am Abend wird im Haus seiner Familie gleichzeitig sein Leben gefeiert und Abschied genommen. Denn sein heutiger Geburtstag wird sein letzter sein. Um über das von Sol gefürchtete Ende der Welt zu erzählen, folgt der filmische Blick von „Tótem“ Tonas Schwestern, ihren Kindern und seinem Vater, die alle geschäftig den Vorbereitungen der Feier nachgehen und ihren jeweils eigenen Umgang mit seinem Tod zu finden versuchen. Im Mittelpunkt aber steht Sol, die mit ihren Fragen, ihrer Verlorenheit und Sehnsucht nach ihrem Vater fast überall im Weg zu sein scheint. Mit symbolhafter Bildsprache erzählt die mexikanische Regisseurin Lila Avilés in ihrem zweiten Film intensiv und atmosphärisch von der Liebe zu einem sterbenden Menschen und der Magie von Gesten und Dingen. Hanna Kopp

„Tótem“ MX/DK/FR 2023 ( Regie: Lila Avilés. Mit Naíma Sentíes, Montserrat Marañón u. a., 95 Min., Start: 09.11. )

© Salzgeber

Anhell69
Dieser Film ist alles: politisch, poetisch, sanft, wütend, sexy – und darin so desillusionierend wie hoffnungsfroh. Wobei die Hoffnung, die „Anhell69“ schürt, eine ist, die eher in der Kraft der Kunst selbst liegt als in den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Produktion. So fährt gleich zu Beginn ein Bestattungswagen durch Medellín; der Tod begleitet das Publikum. Theo Montoyas Langfilmdebüt porträtiert die kolumbianische Stadt und ihre queere Community: Es geht um Proteste und Partys, um Leidenschaft und Gewalt. Und um Freund*innen, die zu früh sterben. Junge Queers, Anfang oder Mitte zwanzig, sitzen vor der Kamera und erzählen aus ihrem Leben. Der Regisseur hatte sie vor Jahren zum Casting eingeladen; er wollte einst einen ganz anderen Film drehen, ein B-Movie über Geister. Die Geister blieben, doch die Freund*innen sind gegangen. Mit dem Filmmaterial hat Theo Montoya ein queeres Feuerwerk geschaffen, für das er 2022 völlig zu Recht den Hauptpreis des Leizpiger Dokumentarfilmfestivals gewonnen hat. Fiktionale, experimentelle und dokumentarische Elemente verbinden sich zu einer dichten Montage, die noch lange nachhallt. „Anhell69“, so erzählt es die Stimme aus dem Off, „träumt von einem Kino für jene, die an nichts glauben und nirgends hingehören.“ Merle Groneweg

„Anhell69“ CO/RO/FR/DE 2022 ( Regie: Theo Montoya. 72 Min., Start: 28.09. )

© Salzgeber

Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste
Nachdem Margarethe von Trotta sich in vergangenen Werken bereits den Biografien von Hannah Arendt und Rosa Luxemburg widmete, beschäftigt sich ihr neuer Film mit dem Leben und vor allem dem Lieben von Ingeborg Bachmann. Die Filmemacherin konzentriert sich stark auf die zunächst monogame, später offene Beziehung zwischen der Star­autorin und dem Schriftsteller Max Frisch: ein toxischer Mix aus Eifersucht, Leidenschaft und Zerstörung. Von Trotta erzählt die Verbindung der beiden in Rückblenden und hangelt sich entlang an den eigenen Reflexionen Bachmanns über die Partnerschaft und deren schmerzhaftes Ende, das sie in eine tiefe Krise stürzte. Ihre Gedanken hielt sie auf einer Reise nach Ägypten mit dem jungen Autor Adolf Opels fest. In der Wüste scheint Bachmann erstmals post Frisch wieder auf die Beine zu kommen und neuen Lebensmut zu entwickeln. Besonders präsent ist durchweg die innere Unruhe der Autorin, die sich nur in Rom endlich legt – dem Ort, an dem Bachmann eine Heimat gefunden hat. Jede Szene in der Ewigen Stadt ist in sanftes Abendlicht getaucht und die tiefe Sonne umspielt das wohlige Lächeln von Hauptdarstellerin Vicky Krieps. Da das Biopic wenig mit Personenvorstellungen, Namen oder Eckdaten arbeitet, muss man sich die sozialen Verbindungen und auch die Hintergründe einiger Dialoge teilweise selbst erarbeiten. ­Rosalie Ernst

„Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste“ CH/AT/DE/LUX 2023 ( Regie: Margarethe von Trotta. Mit Vicky Krieps, ­Ronald Zehrfeld u. a., 110 Min., Start: 19.10. )

© Pallas Film

Tel Aviv – Beirut
Zwei Familien im Libanonkrieg 1984: Myriam und Yossi auf der israelischen Seite; Nour, Fouad und deren Tochter Tanya auf der libanesischen. Fouad kollaboriert mit Yossi, Soldat der israelischen Armee, weshalb ihm und seiner Familie Verachtung seitens der libanesischen Bevölkerung entgegenschlägt. Weiter geht’s im Jahr 2000 mit dem Abzug der israelischen Truppen, das filmische Triptychon endet 2006. Ein Drama, das versucht, auf Mikroebene am Beispiel der im Grenzgebiet lebenden Familien die Komplexität des Krieges darzustellen. Drehort war Zypern, damit libanesische und israelische Darsteller*innen auf neutralem Boden zusammenarbeiten, so die französisch-israelische Regisseurin Michale Boganim. Leider gelingt ihr im Film die erhoffte Neutralität nicht: Die libanesischen Hauptcharaktere werden französisiert und der Soundtrack ist von dem begnadeten israelischen Musiker Avishai Cohen, während keine zeitgenössische libanesische Musik verwendet wird. An manchen Stellen wirkt der Film wie ein Rechtfertigungsversuch dafür, dass sich bspw. junge Männer gezwungen sehen, der israelischen Armee beizutreten. Positiv zu erwähnen ist die Fokussierung auf die Frauenperspektive: „Ich wollte zeigen, dass es neben den Männern auch andere Opfer dieses Krieges gibt“, so Boganim beim Tokyo International Film Festival. Ein biografisch angehauchtes, viele Themen anschneidendes Familiendrama für ein europäisches Publikum. Carina Scherer

„Tel Aviv – Beirut“ FR/DE/CY 2022 ( Regie: Michale Boganim. Mit Sarah Adler, Zalfa Seurat, Younes Bouab, Shlomi Elkabetz u. a., 116 Min., Start: 14.09. )

© Filmperlen

Joyland
Haider (Ali Junejo) ist seit Jahren arbeitslos und genießt in seiner auf engstem Raum zusammenlebenden patriarchalen Großfamilie daher kein hohes Ansehen. Zusätzlich verdient seine Frau Mumtaz (Rasti Farooq) ihr eigenes Geld, und Kinder haben die beiden auch keine – im Gegensatz zu seinem Bruder Saleem und dessen Frau Nucchi. Sein Vater ist eigentlich nur enttäuscht, während er streng über die Familie herrscht. Als Haider endlich einen Job findet, hält sich die Freude in Grenzen, da es eine Stelle im erotischen Tanztheater ist. Dort tanzt er nicht nur für Biba (Alina Khan), eine trans Frau, sondern verliebt sich auch noch in sie. Das starre Gefüge aus Regeln und Hörigkeit gerät dadurch für alle ins Wanken. Mit seinem Debütfilm „Joyland“ hat Regisseur Saim Sadiq ein Stück queerer pakistanischer Filmgeschichte geschrieben. Ruhig und empathisch geht er neben Haiders Geschichte auch auf die der Nebenfiguren ein und zeigt, wie jede einzelne Figur unter dem Patriarchat leidet. Mit Alina Khan hat darüber hinaus das erste Mal eine trans Schauspielerin eine Hauptrolle in einem pakistanischen Film, der, nachdem er für einige Zeit verboten wurde, nun auch in Pakistan selbst laufen darf. Avan Weis

„Joyland“ PAK/USA 2022 ( Regie: Saim Sadiq. Mit Ali Junejo, Alina Khan, Rasti Farooq u. a., 126 Min., Start: 09.11. )

Blue Jean

Großbritannien, 1988. Seit knapp zehn Jahren regieren die Tories das Land unter der Führung Margaret Thatchers: marktliberal und konservativ. Nun haben sie „Section 28“ verabschiedet, ein Gesetz, das „die Förderung von Homosexualität“ verbietet – und gewissermaßen eine Reaktion auf die Sichtbarkeit und Stigmatisierung der LGBT-Community seit der HIV/Aids-Krise ist. In eben diesem Spannungsfeld aus queerem Empowerment und gesellschaftlicher Repression lebt Jean, eine Sportlehrerin, in Newcastle. Am Wochenende spielt sie mit ihren Freund*innen und ihrer Partnerin, Vic, Billard in einer lesbischen Bar; die Abende sind ein wiederkehrendes Highlight. Doch in ihrer Familie wird Jean eher toleriert als akzeptiert – und in der Schule ist sie nicht geoutet. Als dann eine ihrer Schülerinnen in besagter Bar auftaucht, stellen sich Jean immer größere Herausforderungen. Dabei war es eine kluge Entscheidung der Regisseurin Georgia Oakley, die auch das Drehbuch geschrieben hat, in ihrem Spielfilm-Debüt eine sehr nahbare Protagonistin zu porträtieren, die weder widerständige Aktivistin ist noch unter massiven Repressionen zu leiden hat. So wird sich weder dem Motiv der Heroisierung noch dem der Viktimisierung queerer Figuren bedient. Jean versucht in eben diesem Jahrzehnt und an eben diesem Ort einfach nur ihr Leben zu leben – und macht am Ende dann doch eine kleine Held*innenreise. Merle Groneweg­

„Blue Jean“ GB 2022 ( Regie: Georgia Oakley. Mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday u.a., 97 Min., Start: 05.10. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/23.