Movement beim Münchner Theaterfestival SPIELART
Von
Interview: Sophie Becker
Interview: Sonja Eismann

Die diesjährige Devise des SPIELART-Festivals könnte man mit „ins Tun kommen als Bewältigungsstrategie“ umschreiben. Inwieweit wird hier die Trennung „aktive Bühne vs. passives Publikum“ aufgebrochen?
Wir zeigen zahlreiche Produktionen, deren Intention es ist, nicht nur künstlerisch spannend zu sein, sondern aktiv Missstände zu beheben. Wie mit der GROUP50:50, die Skelette rückführen möchte, die in den 1950er-Jahren zu „Wissenschaftszwecken“ aus Kongo nach Genf entführt wurden. Oder dem Five Art Center aus Kuala Lumpur, das fordert, malaysische Geschichtsbücher zu korrigieren, die die Phase der Dekolonialisierung einseitig darstellen. Das Kollektiv God’s Entertainment gestaltet mit Münchner Initiativen und NGOs in ihrem aufblasbaren „Guggenheim“ vor der Staatsoper unter dem Titel
Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/23.
„Deutschstunde“ ein kritisches Programm zum Thema Arbeitsmigration. Im Vorfeld lädt das Kollektiv Menschen dazu ein, Erfahrungen und Absurditäten zu teilen, die sie im Zuge ihrer eigenen Migration gemacht haben.
Ihr stellt Bewegung in den Mittelpunkt, bspw. als Migration oder als Gegenstrategie zur Einschränkung von behinderten Körpern. Ist das ein bewusster Kontrapunkt zur neoliberalen Anrufung zur ständigen Geschäftigkeit und Betriebsamkeit?
Als SPIELART-Team stellen wir nicht unbedingt Bewegung in den Mittelpunkt: Vielmehr haben wir uns für Künstler*innen entschieden, von denen viele zu dem Thema arbeiten – weil es schlicht ihre Realität ist. Gerade heute war ich mit drei Künstler*innen in Kontakt, die zunehmend gestresst versuchen, bei den jeweiligen Botschaften und Konsulaten Termine für die Visa-Beantragung zu bekommen. Mein deutscher Pass macht da ungleich weniger Probleme. Uns interessiert der Zusammenhang zwischen Stillstand, erzwungener und erwünschter Mobilität im Neoliberalismus.
Was war euch bei der Auswahl der Produktionen dieses Jahr besonders wichtig?
Im kuratorischen Team mit Betty Yi-Chun Chen, Eva Neklyaeva und Boyzie Cekwana haben wir viel über die gegenwärtige „Verfasstheit“ in Deutschland gesprochen. Viele sind erschöpft – nach der Pandemie und angesichts wirtschaftlicher Sorgen durch die Inflation. Unsere Frage war, wie erreichen wir das Publikum momentan am besten? Das betrifft nicht nur die Auswahl der Produktionen, sondern generell die Konzeption des Festivals. Gleichzeitig sind wir hier in der Regel immer noch sehr privilegiert im Vergleich zu den meisten der Künstler*innen, mit denen wir zusammenarbeiten.
Im Stück „Prophétique (on est déjà né.es)“ von Nadia Beugré geht es um die trans Community in Abidjan und um die von ihr erfundene Tanzmélange aus Voguing und Coupé Decalé. Wer wird hier wie bewegt?
In erster Linie bewegen sich die sechs umwerfenden Performer*innen, aber im Publikum wird wohl niemand ruhig sitzen bleiben … Anhand persönlicher Geschichten zeichnet „Prophétique“ ein intimes Porträt dieser Community und formuliert zugleich eine fundamentale Kritik an zugeschriebenen Rollenbildern.
Chiara Bersani koppelt in „Sottobosco“ das Setting eines märchenhaften Unterholzes mit Überlegungen über motorische Einschränkungen von Körpern. Was wird hier für die Zuschauer*innen zu sehen und zu spüren sein?
Chiara Bersani berichtet sehr eindrücklich, dass Natur – für viele ein Zufluchtsort (nicht nur) im Alltag, gerade auch während der Pandemie – für sie in der Regel nicht zugänglich ist. Um der Einsamkeit zu begegnen, war sie schon als Kind auf der Suche nach einer „Gang“. So finden im Vorfeld der Vorstellungen von „Sottobosco“ Workshops mit Münchner Jugendlichen statt, die selbst motorische Einschränkungen haben. Gemeinsam wird eine gestische Geheimsprache entwickelt. Den Moment, in dem die kleine Gruppe auf die Bühne kommt und sich in dieser Sprache „unterhält“, finde ich extrem berührend.
„She was a friend of someone else“ von Gosia Wdowik nimmt sich des Themas „Bewegung“ aus einer völlig anderen Perspektive an, in Bezug auf feministischen Aktivismus im Kampf um das Recht auf Abtreibung in Polen.
Gosia Wdowik fragt danach, wie wir politische Kämpfe in unseren Alltag integrieren können, ohne dass auf eine kurze, aktivistische Phase ein langer Burn-out folgt. Mich hat sehr fasziniert, dass sie nicht von Erschöpfung erzählen, sondern sie darstellen, erlebbar machen möchte. Ihr Stück ist in unserem sonst sehr extrovertierten Programm eine stille, nachdenkliche Ausnahme.
Sophie Becker studierte von 1994 bis 2000 Dramaturgie an der Theateraka-demie August Everding und war zwischen 2000 und 2008 Dramaturgin am Theater Aachen, an der Sächsischen Staatsoper Dresden und an der Bayeri-schen Staatsoper München, bevor sie ab 2008 die Kuration des SPIELART-Festivals übernahm. Das Festival findet dieses Jahr von 20.10.–04.11. an zwölf verschiedenen Spielorten in München statt. spielart.org