Musiktipps 05/23
Von MissyRedaktion
Jessy Lanza
„Love Hallucination“
( Hyperdub )
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Die Tracks der kanadischen Producerin klingen wie in Töne übersetzte Popart-Gemälde von Yoko Honda – auf dem neuen Album „Love Hallucination“ jedoch mit deutlicheren Konturen und in kräftigeren (Klang-)Farben. Sie habe noch nie über Orgasmen gesungen oder Saxofone eingesetzt, so Lanza, aber nun sei die Zeit reif dafür. Dementsprechend griffiger, weniger verhuscht-verträumt sind Lanzas neue Songs, die sie zum Teil mit ihrem Longtime-Partner Jeremy Greenspan (Junior Boys) produziert hat. „Drive“ z. B. ist ein lustig blubbernder Track, in dem die Freuden des Autofahrens gepriesen werden, „Limbo“ klingt wie für eine endlose Strandparty gemacht, bunte Cocktails inklusive. Dieser hedonistischen Stimmung steht ein Stück wie „Don’t Leave Me Now“, in dem es um einen schweren Unfall geht, gegenüber. Auch das mit Asia-Pop-Harmonien flirtende „I Hate Myself“ irritiert: Man bringt Lanzas zuckersüßen Gesang nur schwer mit den selbstzerstörerischen Lyrics zusammen. Aber es sind genau diese Brüche und scheinbaren Gegensätze, die „Love Hallucination“ zu Lanzas bisher interessantestem und bestem Album machen. Christina Mohr
Loraine James
„Gentle Confrontation“
( Hyperdub ) VÖ: 22.09.
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Mit „Gentle Confrontation“ bringt die britische Produzentin Loraine James ihr drittes Album beim Label Hyperdub heraus – auf der neuen Platte wird sie persönlich. In der Single „2003“, die mit offenen Ambientsounds beginnt, singt sie über ihre Unsicherheit nach dem Tod ihres Vaters als Siebenjährige. So direkt ist man das von James nicht gewohnt. Ihr Durchbruchsalbum „For You And I“ überzeugte 2019 durch den experimentellen Mix von IDM, Noise und Spoken Word. Im Vergleich dazu klingt das neue Album wie James’ Vision des modernen Pop. Hier mischt sie große Melodien mit Ambient und ASMR-Beats, wirbelt mit Bässen und lässt ihre Math-Rock-Vorliebe durch schwebende Takte aufleben. Auf „I DM U“ spielt Black-Midi-Drummer Morgan Simpson frei und jazzig und James steuert dazu vermehrt atmosphärische Klänge und Melodien bei, was trotz simplem Set-up innovativ klingt. Auch die Zusammenarbeit mit der katalanischen Avantgardesängerin Marina Herlop ist ein akustisches Fest. Hier stoßen knarrende Klänge auf poppige Melodien, die wie Wasser über die sperrigen Electro-Akzente fließen – super! Lorina Speder
Róisín Murphy
„Hit Parade“
( Ninja Tune )
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Róisín Murphy hat die Art Stimme, die man sein Leben lang wiedererkennt. Die irische Sängerin und Songschreiberin prägte Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre als eine Hälfte von Moloko Hits wie „The Time Is Now“. 2003 trennte sich das Duo. „Hit Parade“ ist nun Murphys siebtes Album, das seinem Namen alle Ehre macht. Der Hamburger Produzent DJ Koze revanchiert sich darauf für Murphys Stimmeinsatz vor einigen Jahren auf seinem letzten Album und schneidert ihr hier Instrumentals zurecht, in denen sie wie ein strahlender Stern über warmen Soul-Samples und klopfenden Beats leuchtet. „That old magic is back“, schürte Murphy die Vorfreude in der ersten Singleauskopplung der Platte, einem verträumten Liebeslied namens „CooCool“ mit HipHop-Beat und Kozes Signature-Bläsern. In „You Knew“ tröpfelt der Synthesizer erst wie Regen auf der Fensterbank, dann kommt ein hüpfender House-Beat dazu. „Can’t Replicate“ ist ein ziemlich straightes Technostück, „Two Ways“ eine elektronische Popballade, wartet in der Mitte aber plötzlich mit funkigen Flöten auf. DJ Kozes Produktion unterscheidet sich somit komplett von der Kühle der alten Moloko-Tracks. Murphy singt in einer schmusig-warmen Disco, die zeigt, wie sanftmütig und anschmiegsam Tanzmusik heute sein kann. Diviam Hoffmann
The Beaches
„Blame My Ex“
( Island )
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Einmal anschnallen bitte: The Beaches drehen das Tempo hoch und starten einen Trip durchs Breakup-Dickicht. Mit den Worten „done being the sad girl / I’m done dating rockstars“ eröffnen die vier kanadischen Rockerinnen ihr zweites Album „Blame My Ex“. Das zentrale Thema: Was kommt nach dem Ende einer Beziehung? Im Falle von The Beaches: zehn Tracks, die Indie-Rock mit Post-Punk zusammenschnüren und Popklänge aufblitzen lassen. Im Trennungsschmerz macht Leadsängerin Jordan Miller ein zweites Mal Schluss – und zwar mit der cis-heteronormativen Illusion, dass jede weiblich gelesene Person mit einem Mann enden muss: „Cause I’d rather be dead / than with 99 % of all men.“ Stattdessen: einfach mal mit sich selbst abhängen („Me & Me“). Dann: heiße Tagträume ausbuchstabieren und sich queerer Lust widmen („Back To You“). Wenn The Beaches uns gitarrengeladene Uptempo-Tracks um die Ohren hauen, dämmert auf dem Dancefloor am Ende die Erkenntnis: Im Trennungswirbelsturm geht’s ums Loslassen und doch tut noch vieles weh – aber The Beaches sind laut und having a blast als feministische Rockband. Alisa Fäh
Hans-A-Plast
„Hans-A-Plast“, „2“ & „Ausradiert“
( Tapete Records )
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Wer – warum auch immer – beweisen will, dass in Hannover auch Schönes entstehen kann, greift als Erstes auf die goldene Zeit der dort ansässigen Punkkultur zurück. Mit Hans-A-Plast tritt hier 1978 eine Band auf den Plan, die den musikalischen Kanon der Bewegung entscheidend prägte und rasch über ihn hinausgewachsen ist – Tapete Records hat ihre Discografie jetzt neu aufgelegt. Das selbstbetitelte Debütalbum ist ein Meilenstein feministischer Punkmusik. Mit Liedern wie „Lederhosentyp“ und „Für ’ne Frau“ gelingt es der Formation um Sängerin Annette Benjamin geschickt, den machoiden Gestus der Szene gleichzeitig auf- und anzugreifen. Das einzigartige, atmosphärische Sprechstück „Es brennt“ stellt aber auch klar, dass man nicht antritt, um sich bloß an subkulturellen Gepflogenheiten abzuarbeiten. Der Nachfolger „2“ löst 1980 das Versprechen ein: Experimenteller und wagemutiger sind die Arrangements, die Texte ambivalenter. Mit dem dritten und letzten Album der Band kommt diese Entwicklung 1983 dann zu voller Blüte. „Ausradiert“ ist ein düsteres, post-punkiges Juwel. Die Stücke „Schwarz und Weiß“, „Monstertanz“ oder „Sacco Di Roma“ etwa verdienen mindestens dieselbe Anerkennung wie Hans-A-Plasts frühe Gassenhauer. Alle Alben erscheinen im alten Gewand, aber mit liebevollen neuen Linernotes von Max „Drangsal“ Gruber. Linus Misera
Laurel Halo
„Atlas“
( Awe )
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Laurel Halos musikalische Bandbreite ist erstaunlich: Stammen die dissonanten Techno-Splitter des 2012er-Albums „Quarantine“ wirklich von derselben Künstlerin, die auf ihrer neuen Veröffentlichung zarte Soundscapes aus Vibrafon und Piano erschafft? Die in Ann Arbor geborene, in Berlin lebende Musikerin und DJ beschäftigt sich seit einigen Jahren mit elektroakustischem Sounddesign, daneben arbeitet sie ständig an ihren Piano-Skills. Das neue Album „Atlas“ ist das Ergebnis dieser Prozesse, die 2021 in einer Studio-Residency in Paris mündeten. Im Studio fügte Halo den bisher entstandenen Soundskizzen Geige, Gitarre und Vibrafon hinzu, lud befreundete Musiker*innen ein, die weitere akustische Instrumente wie Saxofon und Cello einbrachten. Die Tracks scheinen zunächst körperlos zu schweben, verdichten sich beinah unmerklich zu nostalgisch anmutenden Minifilmmusiken wie „Sweat, Tears, Or The Sea“, in dem das Piano melancholisch perlt und aus dem Hintergrund geisterhafte Echos herüberwehen. In „Sick Eros“ herrscht eine unterschwellig bedrohliche Atmosphäre, betont durch Dub-Effekte und scheinbar verstimmte Streicher. Sanft und ruhig wirkt die Klavierballade „Belleville“, mit Gast-Vocals vom Londoner DJ und Sänger Coby Sey. Laurel Halo kostet jeden einzelnen Tastenanschlag aus, scheint den Tönen beim Verklingen hinterherzuschauen – und schenkt uns mit diesem Album wertvolle Momente der Kontemplation und Introspektive. Christina Mohr
Mieko Suzuki
„Ödipus, Herrscher“
( Raster )
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Ein metallischer Sprühnebel knistert als „Pest“ durch ein gigantisches Mahlwerk aus Bässen. Elektronisch verzerrte Bomben prasseln in sirrende Abgründe. Eine Welt, in der Ödipus herrscht, ist ein kalter und abgefuckter Ort. Das zumindest legt Mieko Suzukis Debütalbum nahe, das zwar schon 2021 im Rahmen der „Ödipus“-Inszenierung am Schauspielhaus Bochum entstanden ist, aber völlig abgekoppelt vom klassischen Stoff aus Drone und experimentell-elektronischen Klängen das musikalische Psychogramm einer katastrophengebeutelten Gegenwart formt. Alles bebt und deliriert, jeder Anflug von Rhythmus wird zerschlagen. Und es wirkt, als würde sich die in Hiroshima geborene, in Berlin lebende Suzuki mit ihrem ganzen Körper in den Strom der Schaltkreisreibungen werfen, auf den aus Holz oder Ton erfrickelten Instrumenten improvisierend, wie im Gerangel mit einem unsichtbaren Organismus. Denn für die seit über zehn Jahren aktive DJ und Komponistin scheint Improvisation mehr als nur künstlerischer Ausdruck zu sein, es grenzt an eine politische Haltung: spontane Aneignung des Unerwarteten, Herausschälen eines Signals der Zuversicht aus dem Hässlichen, Erahnen einer Balance im Chaos. Suzukis Album ist somit kaum als Debüt zu werten, sondern Zeugnis ihres ganzen Könnens. Manchmal eine an der Körperlichkeit der Hörerin rüttelnde Herausforderung, in erster Linie aber eine Aufforderung zum unerschütterlichen Widerstand. Auf dass der letzte Ödipus bald fallen wird. Sonja Matuszczyk
Jorja Smith
„Falling Or Flying“
( The Orchard ) VÖ: 29.09.
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Das heiß erwartete zweite Album von Jorja Smith taucht mit seinen 16 Tracks, die wie der Vorgänger „Lost & Found“ (2018) Einflüsse aus Reggae, HipHop, R’n’B und Jazz zitieren, in eine Bandbreite von Beziehungen ab: zu anderen, sich selbst oder auch sozialen Rollen. Die britische Sängerin mit jamaikanischen Wurzeln hinterfragt im elektrisch pulsierenden Meditationssong „Try And Fit In“ das Konzept des auf Arbeit ausgerichteten Menschen aus dem 21. Jahrhundert, der zum Geldausgeben zu erschöpft ist. „Broken Is The Man“ beschreibt Stärke, die nach einer Gaslighting-Beziehung zurückgewonnen wurde. Smiths Stimme ist wie gemacht für das Zwischenmenschliche, bewegt diese sich doch stets zwischen Honigglas und Messerschleifstein. Die neueste Platte wagt sich vor, bringt so Überraschendes wie orientalische Klänge, Bassgitarre und Geige („Try Me“) zusammen. Der Titeltrack schließlich lässt die viel besprochene Verletzlichkeit als gar nicht so große Sache erscheinen, wenn es sinngemäß heißt: „Ob ich falle oder fliege, ich würde den Unterschied nicht erkennen.“ Yuki Schubert
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/23.