Eine eingängige Definition dessen, was den Kern des Linksseins ausmacht, formulierte Karl Marx 1843, auch wenn er selbst den Begriff „links“ nicht verwendete: Die Wurzel für den Menschen ist, so Marx, „der Mensch selbst“ (und keine höhere Macht). Notwendig sei daher, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

Zwar sind hier bereits Einsprüche angebracht: Die linke Philosophin Eva von Redecker etwa würde darauf hinweisen, dass nicht der Mensch allein Wurzel des Menschen ist, sondern wir Teil eines ausgeklügelten Ökosystems sind. Dennoch: In einer Welt, in der mithilfe von – häufig verrechtlichter – Gewalt tiefe Ungleichheiten zwischen Menschen verteidigt werden, in der Staaten und Religionen unter Berufung auf Nation oder Gott Menschen unterdrücken und in der es vielen schwerfällt, sich ein Dasein ohne Warenproduktion und den Verkauf der eigenen Arbeitskraft auch nur vorzustellen, ist Marx’ kategorischer Imperativ noch immer ein Versprechen. Nicht nur einige, sondern alle Verhältnisse; nicht nur für wenige, sondern für alle Menschen, denn wir – das ist eine der wichtigsten linken Grundannahmen – sind zwar Individuen, aber gleich geboren; Ungleichheit, sei sie rassistisch, sexistisch usw. begründet, ist gesellschaftlich hergestellt.

Doch warum überhaupt „links“? Die Zuordnung von Seitenangaben für politische Überzeugungen geht auf die Zeit nach der Französischen Revolution 1789 zurück: Im Parlament etablierte sich eine Sitzordnung, in der jene, die die Monarchie wiederherstellen wollten, rechts und solche, die für die Republik brannten, links saßen. Diese Sitzordnung wurde in vielen Parlamenten des 19. Jahrhunderts übernommen, weshalb z. B. die heute konservativ-liberale Partei Dänemarks Venstre (Linke) heißt: Zu ihrer Entstehungszeit stand sie in Opposition zum Adel.

Nach 1789 arbeiteten dann jene an der Einlösung des linken Versprechens, die die Messlatte der Freiheit und Gleichheit auch an die postrevolutionären Verhältnisse anlegten: Freiheit und Gleichheit für die versklavten Menschen in Frankreichs Kolonien, etwa auf Saint-Domingue, wo sie sich selbst befreiten und 1804 die erste Schwarze Republik, Haiti, gründeten. Freiheit und Gleichheit für die wachsende Arbeiter*innenklasse, die beim Sturz der Monarchie und des Feudalismus an der Seite des Bürgertums gekämpft und ihm so zur Macht verholfen hatte, nur um festzustellen, dass die Ausbeutungsverhältnisse in den Fabriken auch mit politischen Freiheitsrechten fortbestanden. Freiheit und Gleichheit nicht nur unter „Brüdern“.

Um dies zu verwirklichen, schlossen sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg Linke in Internationalen zusammen. Marx selbst gehörte der Internationalen Arbeiterassoziation, der ersten Internationalen, an. In ihr waren Kommunist*innen und Anarchist*innen noch gemeinsam organisiert, die sich zwar einig waren, dass die bestehenden Verhältnisse überwunden gehörten, aber unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, welche Gesellschaftsordnung folgen sollte. Sie zerstritten sich, was als Beginn einer langen Reihe linker Zerwürfnisse gelten kann. Das wiederum bringt bis heute regelmäßig eine eher destruktive Frage aufs Tableau: Ist jede*r, der*die sich links nennt, auch „wirklich“ links? Vielleicht lässt es sich so sagen: Wenn es etwas gibt, das über die Jahre und Kontinente Linke geeint hat, dann ist es der Streit darüber, wie die Verhältnisse zu beschreiben sind, die es umzuwerfen gilt, wie das Umwerfen funktionieren kann – und was danach kommt. Nelli Tügel

Dieser Text erschien zuerst in Missy 05/23.