Ein revolutionärer Appell
Kolumnist*in:
#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik
#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.
Ein Jahr ist vergangen, seit die Kurdin Jîna Amini am 16. September 2022 durch die iranische „Sittenpolizei“ in Teheran getötet wurde. Dieser staatliche Femizid löste in ihrer Heimatstadt Saqez einen Aufstand aus, der innerhalb kurzer Zeit zu einer Revolution in ganz Rojhilat (Ostkurdistan) und Iran wurde. Von Frauen, Queers, ethnischen Minderheiten und Arbeiter*innen angeführt, leistet die Bewegung gegen das Mullah-Regime seither unaufhörlich Widerstand. Zehntausende wurden bei den Protesten festgenommen, Hunderte durch das Regime getötet und hingerichtet.
Die Worte „Jin, Jiyan, Azadî“ (dt. Frau, Leben, Freiheit) gingen währenddessen durch die ganze Welt und wurden zur zentralen Parole der „Jîna-Revolution“. Obwohl der Slogan auf die revolutionäre kurdische Frauenbewegung zurückgeht, die seit Jahrzehnten gegen staatliche Gewalt, Patriarchat, Kapitalismus und Unterdrückung kämpft, wird er mittlerweile paradoxerweise auch von liberalen und monarchistisch-nationalistischen Kreisen verwendet und vereinnahmt. Um an die Bedeutung und Wurzeln von „Jin, Jiyan, Azadî“ sowie an die Revolutionär*innen zu erinnern, die diese Parole geprägt und gelebt haben, möchte ich diese Kolumne zum Anlass nehmen, um einige Errungenschaften und Meilensteine in der Geschichte der kurdischen Frauenbewegung vorzustellen. Hinter „Jin, Jiyan, Azadî“ steckt der vielschichtige und radikale Kampf einer Bewegung, die sich seit Jahrzehnten Unterdrückung und Ausbeutung widersetzt und danach strebt, das Leben zu revolutionieren und zu befreien.
1990er: Bewaffnung und Organisierung
Auf dem ersten Kongress zur Befreiung der Frauen Kurdistans von 08.–18. März 1995 in Metîna (Südkurdistan) kamen Frauen der 1978 gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans zusammen und diskutierten die Notwendigkeit einer autonomen Organisierung als Frauen innerhalb der Partei. Dort gründete sich die Union zur Befreiung der Frauen Kurdistans (YAJK). Es wurde damit begonnen, die autonomen Frauen-Guerrillaeinheiten zu entwickeln, die sich bereits ab 1993 gegründet hatten. Aber auch im zivilgesellschaftlichen Bereich wurden zunehmend unabhängige Frauenstrukturen organisiert. Diese Phase gilt als Meilenstein für die kurdische Frauenbewegung, weil sie den Weg für die weitere Entwicklung der kurdischen Bewegung ebnete, die in den darauffolgenden Jahrzehnten Feminismus ins Zentrum ihres Befreiungskampfs stellte. Frauen spielten jedoch bereits seit der Gründung der Arbeiterpartei eine bedeutende Rolle. Eine bekannte Persönlichkeit war Sakine Cansız (Sara), Mitbegründerin der Partei und eine der wichtigsten Wegbereiterinnen der kurdischen Frauenbewegung. Sie initiierte in dieser Phase viele Frauenversammlungen und -kongresse, um die autonome Organisierung voranzutreiben. Sie wurde im Jahr 2013 in Paris gemeinsam mit zwei weiteren kurdischen Revolutionärinnen, Fidan Doğan (Rojbîn) und Leyla Şaylemez (Ronahî), im Auftrag des türkischen Geheimdiensts ermordet.
1998: Geburt der „Frauenbefreiungsideologie“
Auf Grundlage der zunehmend unabhängigen Organisierung der Frauen in der kurdischen Bewegung in den 1990er-Jahren erklärte die kurdische Bewegung 1998 die sogenannte Frauenbefreiungsideologie als neuen Grundstein für ihre ideologische Ausrichtung. Sie basiert auf jahrelangen Diskussionen innerhalb der Frauenbewegung, der gemeinsamen Analyse feministischer Theorie sowie den Theorien des seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans, Abdullah Öcalan. Im Zentrum der Frauenbefreiungsideologie steht das Prinzip der „Loslösung“ – eines radikalen Bruches mit der patriarchalen Welt. Dieser Bruch vollzieht sich demnach nur durch den Aufbau von Selbstverteidigungsstrukturen (auch, aber nicht nur im militärischen Sinne) und der autonomen Organisierung. Ergänzt wurden diese Theorien viele Jahre später durch „Jineolojî“, eine Wissenschaftskritik der kurdischen Frauenbewegung, die unter anderem zum Ziel hat, Geschichte aus feministischer, antikapitalistischer und antikolonialer Sicht neu zu erforschen.
2005: Der Hohe Frauenrat (KJB)
Nach jahrelanger theoretischer Vertiefung und Auseinandersetzung mit dem Patriarchat begann die kurdische Frauenbewegung, sich 2005 unter dem Dach des Hohen Frauenrats (KJB) zu reorganisieren. Ein neues Paradigma stand dabei im Zentrum: Der Demokratische Konföderalismus wurde vorgeschlagen – ein Modell basierend auf den Prinzipien Rätedemokratie, Feminismus, Ökologie und Pluralismus. Mit der Feststellung, dass der (National-)Staat eine patriarchale Institution ist, die von Herrschaft Unterdrückung und Gewalt untrennbar ist, wurde das Ziel, einen kurdischen Nationalstaat zu gründen, in diesen Jahren endgültig aufgegeben. Stattdessen sollten die Selbstverwaltung und -verteidigung und friedliche Koexistenz der diversen Minderheiten und Glaubensgemeinschaften im Mittleren Osten erkämpft werden. Frauen spielten bei diesem Paradigmenwechsel eine führende Rolle. Ihre Organisierung in Form von Frauenkommunen, Frauenräten und Kooperativen bildete einen großen Teil der Bemühungen der kurdischen Bewegung für Unabhängigkeit und Selbstverwaltung in den darauffolgenden Jahren.
2012: Die Rojava-Revolution
In Rojava/Nordsyrien wurde dieses Modell in den letzten elf Jahren in die Praxis umgesetzt. In der von vielen Minderheiten bewohnten Region konnte die Bevölkerung in der Stadt Kobanê am 19. Juli 2012 die Kräfte des Assad-Regimes verdrängen und die Selbstverwaltung ausrufen. Von Kobanê aus breitete sich die Revolution in weiteren Teilen Rojavas aus und wurde international bekannt, vor allem als die Region zwei Jahre danach vom Islamischen Staat (IS) überfallen wurde. Während der Schlacht um Kobanê 2014 kämpften die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) an vorderster Front, um die Stadt vom IS zu befreien. Am 26. Januar 2015 konnte Kobanê nach monatelangen Kämpfen befreit werden. Es war ein historischer Sieg – nicht nur für kurdische Frauen, sondern für alle Frauen und Minderheiten in der Region sowie Aktivist*innen und Internationalist*innen, die auf der ganzen Welt für Kobanê auf den Straßen waren. Bilder der YPJ-Kämpfer*innen gingen damals um die Welt und inspirierten überall revolutionäre und feministische Bewegungen. Auch aus Europa schlossen sich Menschen der Frauenrevolution in Rojava an. Rojava wurde sowohl durch den bewaffneten Widerstand der Frauen gegen den IS als auch wegen der autonomen feministischen Organisierung in allen Bereichen weltweit bekannt. Neben unabhängigen Einheiten, Kooperativen, Kommissionen und Räten gibt es dort seit 2018 auch ein selbstverwaltetes ökologisches Frauendorf namens Jinwar, das vor allem Gewaltbetroffenen Zuflucht bietet. Große Teile der Selbstverwaltung in Rojava werden seit einigen Jahren von der türkischen Armee und ihren islamistischen Söldnern besetzt und angegriffen. Dabei steht patriarchale Gewalt im Vordergrund und viele wichtige Persönlichkeiten der kurdischen Frauenbewegung werden gezielt angegriffen und getötet. Ein Beispiel ist die kurdische Politikerin Hevrîn Xalef, die 2019 von von der Türkei unterstützten islamistischen Söldnern ermordet wurde.
Jineolojî
Während dieser Errungenschaften in Kurdistan fand eine für die kurdische Frauenbewegung historische Veranstaltung in Deutschland statt: In Köln kamen von 01.–02. März 2014 Teilnehmende aus vielen Ländern der Welt erstmals zusammen, um Jineolojî zu diskutieren. Anknüpfend an bereits existierende feministische Wissenschaftskritik wurden in den letzten zehn Jahren Bildungsaktivitäten und Konferenzen zum Thema Jineolojî durchgeführt und Jineolojî-Forschungszentren gegründet. Zuletzt wurde dieses Jahr im Juni im südkurdischen Slêmanî ein kurdisches Frauenforschungszentrum eröffnet. Damit wurde eine langjährige Vision der Jineolojî-Vordenkerin Nagihan Akarsel verwirklicht, die am 04. Oktober 2022, ebenfalls im Auftrag des türkischen Geheimdiensts, vor ihrer Wohnung in Südkurdistan ermordet wurde – kurz nach Beginn der „Jin, Jiyan, Azadî“-Protestwelle in Iran.
Internationalismus
Als weitere Errungenschaft der kurdischen Frauenbewegung darf ihr internationalistischer Charakter nicht unerwähnt bleiben – nicht nur, weil ihr Kampf viele Menschen auf der Welt inspiriert hat, sondern auch, weil er ohne weltweite Solidarität undenkbar wäre. Längst ist ihr Kampf nicht mehr nur auf die Befreiung Kurdistans beschränkt, sondern strebt eine radikale Befreiung der Gesellschaft von Staat, Nationalismus, Kapitalismus und Patriarchat an. Dass das nur erreicht werden kann, indem Grenzen überschritten werden, hat bspw. die Rojava-Revolution gezeigt, der sich Menschen aus aller Welt angeschlossen haben. In den letzten Jahren hat sich die kurdische Frauenbewegung mit Menschen auf der ganzen Welt vernetzt und ausgetauscht – unter anderem bei internationalen Versammlungen wie der Konferenz „Our Revolution: Liberating Life“ im November 2022 in Berlin oder der Konferenz „Auf den Spuren von Jin Jiyan Azadî“, die dieses Jahr im August in Beirut stattgefunden und sich den Kämpfen êzîdischer und afghanischer Frauen gewidmet hat.
Auch „Jin Jiyan Azadî“ ist längst ein Slogan, der Kämpfe über Grenzen hinaus miteinander verbindet, auch wenn er aus der kurdischen Bewegung kommt. So gingen etwa afghanische Frauen vor einem Jahr auf die Straßen und riefen den Slogan, um sich mit der Revolution in Iran und Rojhilat zu solidarisieren. Was den Slogan ausmacht, ist ihr kämpferischer Ursprung und ihr revolutionärer Appell, das Leben zu befreien. „Jin Jiyan Azadî“ bedeutet, auf die radikale Befreiung des Lebens und der Gesellschaft zu beharren. Als Feminist*innen sollten wir uns deshalb dagegen wehren, dass der Slogan von liberalen deutschen Regierungspolitiker*innen oder von Nationalist*innen vereinnahmt wird. Für „Jin Jiyan Azadî“ einzustehen, muss bedeuten, in Solidarität an der Seite aller zu kämpfen, die sich gegen staatliche und patriarchale Gewalt, Besatzung, Polizeigewalt und Kapitalismus auflehnen.