Keine Kapa für Sex
Kolumnist*in:
Sex ist immer schon etwas anderes als es selbst. Müssen wir verstehen, was wir begehren? Wo fängt die Lust an und wer entscheidet, was wir hot finden? Von PMS-Sex bis Porn-Gifs, über die juicy Texte der 70er-Jahre Radikalfeminist*innen bis hin zu queeren Heteros – in Triple Water wird es lesbisch, lebensfroh und nur ein kleines bisschen verklemmt.
Ich bin im Urlaub und meine Libido ist am Ende. Das könnte daran liegen, dass ich zum ersten Mal in diesem Jahr fast ganz frei habe. Meine Friends und ich hören Kin Dread und die Cranberries, während wir in einem weißen Jeep über die Insel cruisen. Wir frühstücken Feigen und Oliven und machen schlechte Witze („Meine sexuelle Orientierung ist aldentity“) oder überlegen uns lesbische Varianten von Dating-Shows:
„My Cat, Your Dog“ (statt „My Mom, Your Dad“): Lesben beobachten ihre Haustiere beim Kennenlernen, während hinter den Kulissen die Funken fliegen.
„Too Emotional to Handle“ („Too Hot to Handle”): Verboten sind nicht Sex oder andere Intimitäten, sondern Gefühlsäußerungen und Processing.
„IKEA With My Ex” („Eating With My Ex”): Exfreund*innen verbringen drei Stunden in einem leeren Ikea.
Es ist alles richtig entspannt hier und trotzdem habe ich das Gefühl, dass alle anderen besser im Entspannen sind als ich.
Wenn ich ehrlich bin, verlässt meine Libido mich manchmal auch außerhalb des Urlaubs. Oft gebe ich meinem Biorhythmus daran die Schuld. Am Morgen bin ich zu hyperaktiv, um zu masturbieren oder Sex zu haben. Stattdessen stehen bei mir Meditation, Overnight Oats und zu viel Kaffee auf dem Programm. Am Abend bin ich dann meistens zu erschöpft von den vielen Aktivitäten des Tages. Um 16 Uhr peakt meine Libido, das ist meine Lieblingszeit an fast jedem Tag. Aber zu oft bin ich zu dieser Stunde busy mit Einkaufen oder Zoomen oder deale noch mit meinem emotionalen Trouble. Oder die Personen, mit denen ich Sex haben könnte, sind busy mit Einkaufen oder Zoomen oder dealen mit ihrem emotionalen Trouble.
An den meisten Tagen gehen 90 Prozent meiner mentalen Kapazitäten für Einkaufslisten, Insta und Anxiety drauf. Ich schaffe es nur mit Mühe und Not, zehn Minuten zu meditieren – wie soll ich mich dann auf Sex einlassen?
Ich erinnere mich noch gut daran, wie Sex als Thema mich in eine solche Spannung versetzt hat, als wäre ich 14 und würde zum ersten Mal „Wahl, Wahrheit oder Pflicht“ spielen. Daran, wie die schiere Erwähnung von Sex die Atmosphäre in einem Raum verändert hat. Fragt heute jemand so was wie „Lecken oder geleckt werden?“ in eine Runde, fühle ich mich, als hätte die Person eine Diskussion zum Nahostkonflikt vom Zaun gebrochen. Während ich versuche, aufmerksam zu wirken, werde ich immer abwesender. Meine Gesprächspartner*innen besprechen angeregt die besten Fisting-Techniken. Ich frage mich ungeduldig, ob irgendwas mit mir nicht stimmt, weil ich lieber über Proteinshakes oder Farben sprechen würde.
Die Queer-Theoretikerin Eve K. Segdwick beschreibt in ihrer Einleitung zu „The Epistemology Of The Closet„, dass unser Begehren eine ganz unterschiedliche Rolle in unseren Leben spielt.
„Manche Menschen denken oft daran, Sex zu haben, andere selten. Manche Menschen haben gerne viel Sex, andere weniger oder gar nicht.“
Queer-Theoretikerin Eve K. Segdwick
Als Sedgwicks Buch 1990 erschien, steckten die Asexuality Studies und Bewegungen, die Asexualitäten ins Zentrum rückten, noch in den Kinderschuhen. Dabei ist die Frage danach, welche Normen – wie oft, mit wem, auf welche Weise? – uns vorgeben, wie Sex sein sollte, die queere Grundfrage. „Keinen Sex zu wollen, ist die normalste Sache der Welt“, schrieb Kolumnist*in Hà Phương Nguyễn vor ein paar Wochen an dieser Stelle. Wie genau ist meine Überzeugung entstanden, bereit für Sex sein zu müssen?
Meine erste Begegnung mit lesbischem Begehren war „The L Word“. In der allerersten Folge zeigt die Sendung nicht nur mehr Hetero- als queeren Sex, sondern macht die Zuschauer*innen auch mit dem Mythos des „Lesbian Bed Death“ bekannt. Demzufolge haben feste lesbische Paare irgendwann keinen Sex mehr – ein Problem, das es unbedingt zu bekämpfen gilt. Jahre, bevor ich überhaupt ein Mädchen anfassen durfte, glaubte ich, dass das lesbische Begehren eine heikle Angelegenheit ist. Und ich ständig auf der Hut sein muss, dass es mir nicht versehentlich abhandenkommt, bevor ich es überhaupt gefunden hatte.
In meinem Erwachsenenleben hatte ich ziemlich viel lesbischen Sex. Doch nach den ersten sechs Monaten mit einer Person hat mich die Veränderung in unserer sexuellen Beziehung jedes Mal aufs Neue verunsichert. Ich habe schon oft gezählt, wie oft ich und meine Beziehungspersonen Sex haben. Inzwischen lebe ich poly und habe langsam verstanden, dass es okay ist, nicht nur auf eine Person zu stehen. Ich habe keinen Hyperfokus mehr darauf, wie oft ich Sex mit genau einer Person habe. Doch jetzt denke ich darüber nach, ob andere Poly-Personen ein viel wilderes Dating-Leben haben. Ich trinke keinen Alkohol und meine einzige Droge ist Weed. Wenn ich abends nach Hause gehe, geht der aufregendere Teil des Abends für die anderen erst los. Am nächsten Morgen erzählen mir meine Friends, wer mit wem abgestürzt ist.
Das ist eine Sexkolumne und ich hab ein Buch über Sex geschrieben, in dessen Folge mir Menschen ihre Crushes gestehen oder mit ihren Fragen zu Sexualität in meine DMs sliden. Könnten andere, ungehemmtere Menschen nicht viel besser meine Arbeit machen?
Im Sommer hat mir jemand das Buch „The Erotic Mind“ von Jack Morin empfohlen, eine Studie darüber, was Menschen anturnt. Morin zufolge gibt es vier Pfeiler erotischer Erregung:
- Sehnsucht und Antizipation
- Tabus brechen
- Die Suche nach Macht
- Ambivalenz überwinden
Interessanterweise beschreiben alle ein Zusammenspiel zwischen Anziehung und Hindernissen. Die Sehnsucht nach etwas, das unerreichbar, verboten oder zu kompliziert scheint, ist Morin zufolge der zentrale Antrieb unserer Libido. Lust als Must-Have und Sex, weil es sein kann und muss, funktioniert demnach genauso wenig, wie im Urlaub zu entspannen. Besonders, wenn anderen das immer besser zu gelingen scheint.
Ich beobachte ältere Urlauber*innen mit strahlend rot gefärbten Haaren und ihre Begleiter in Harley-Davidson-Tanktops, die genussvoll Zigarillos rauchen und ein Kartenspiel spielen, auf denen wilde Sexszenen aus der griechischen Antike abgebildet sind. Ob sie alle mehr Spaß haben als ich?
Ich glaube, dass es eigentlich genau darum geht. Das Herz meines Begehrens schlägt im Wechsel zwischen „Du sollst“ und „Die anderen“. Wahrscheinlich habe ich noch nie eine Psychoanalyse gemacht, weil mein Leiden an der Welt viel zu offensichtlich ist.
Ich will nicht mehr so viel nachdenken und ich will, dass diese Kolumne endlich ihr Ende findet. Also esse ich die Hälfte eines sauer-scharfen THC-Weingummies und lade meine Friends zu einer Runde „Greek Lover“ ein. Riesige Phalli zwischen Beinen und in Händen, runde Brüste und Gruppen geschlechterfluider Liebender stolpern über die Karten, bis sie zu einem einzigen Lustknäuel verschmelzen. Wir kennen alle nur „Mau Mau“, also hören wir schnell wieder auf und suchen nach Diesel-Kleidung auf einer Secondhand-Plattform (Kanntest du die Kategorie Diesel Dyke?). Die Sonne sinkt über dem Meer und mein Herz ist voller Liebe. Gegrillter Oktopus zergeht auf meiner Zunge. „Octopussy“, sage ich und wir lachen. Vielleicht kann ich mich doch noch ein bisschen entspannen.