Weniger Staat, mehr Selbstorganisierung
Kolumnist*in:
#ThrowbackFeminism von Hêlîn Dirik
#ThrowbackFeminism behandelt geschichtliche und philosophische Themen aus feministischer Perspektive und stellt die Frage in den Fokus, welche Erkenntnisse wir daraus für aktuelle Kämpfe gegen Patriarchat und Kapitalismus gewinnen können.
Meine heutige Kolumne liest sich vielleicht ein bisschen wie eine Rede für eine Demo. Eigentlich wollte ich diesen Text für den 25. November, den internationalen Kampftag gegen Gewalt gegen Frauen schreiben. Dann dachte ich: Warum eigentlich? Wir müssen nicht auf einen Anlass warten, um über patriarchale Gewalt zu sprechen, denn sie passiert täglich – in Partnerschaften, in der Familie, in unserem Bekanntenkreis, in unseren Nachbarschaften, auf den Straßen, in Knästen, im Krieg, durch Staaten, durch Polizei und Militär. Jährlich steigt die Anzahl der Opfer von Femi(ni)ziden und sogenannter Partnerschaftsgewalt, jährlich häufen sich queerfeindliche Angriffe. Also lasst uns über diese allgegenwärtige Gewalt reden. Aber auch über Befreiung und über Selbstbestimmung. Reden wir über Selbstorganisierung und Praxis und darüber, warum wir uns nicht auf staatliche Institutionen verlassen können, um geschützt zu sein.
Während sich in Deutschland angesichts der katastrophalen Unterfinanzierung und Lücken im Hilfesystem viele Diskussionen (vollkommen berechtigt) um den Mangel an Hilfestrukturen und die Verantwortung des Staates drehen, richten sich viele revolutionäre feministische Kämpfe auf der Welt explizit gegen den Staat und verdeutlichen die inhärent patriarchalen Strukturen von Staat, Polizei und Justiz. Der Begriff „Feminizid“ ist angelehnt an den Begriff feminicidio, der von Feminist*innen in Mexiko geprägt wurde, und verweist, anders als „Femizid“, auf die Rolle des Staates in der Tötung von Frauen – ob durch die Straflosigkeit der Täter oder die aktive Mittäterschaft. In diesem Rahmen werden Morde an Frauen mitunter auch als Staatsverbrechen angesehen, die auf Grundlage einer tief verankerten „Staatsmisogynie“ durchgeführt werden. Zweifellos ist es richtig, als Feminist*innen den mangelnden Zugang zu Schutz und die Rolle des Staates zu diskutieren und zu kritisieren. Die lebhaftesten und erkenntnisreichsten Diskussionen, die ich in der politischen Arbeit bisher hatte, drehten sich jedoch immer um die Frage, wie und warum wir uns autonom und unabhängig vom Staat gegen patriarchale Gewalt organisieren sollten. Denn es hat sich in den letzten Jahren immer und immer wieder bestätigt, dass wir uns im Kampf gegen patriarchale Gewalt nicht auf Staaten verlassen können. Im Gegenteil: Staaten treiben in dem patriarchalen und kapitalistischen System, in dem wir leben, oft eine Politik voran, die sich aktiv gegen die Selbstbestimmung von Frauen und queeren Menschen wendet. Die Türkei etwa, die 2021 über Nacht aus der Istanbul-Konvention austrat, lässt jedes Jahr die Polizei auf brutale Weise feministische Märsche niederschlagen und greift derzeit erneut die Frauenrevolution in Rojava an; der Supreme Court in den USA kippte 2022 das verfassungsrechtlich garantierte Abtreibungsrecht; in Iran greift das Regime Tag für Tag die „Jîna-Revolution“ an und tötet Frauen, die für ihre Freiheit kämpfen; im Sudan sind Frauen und Mädchen seit Beginn der Gefechte zwischen den sudanesischen Streitkräften und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) zunehmend (sexualisierter) Gewalt ausgesetzt; und in Polen wurde 2021 ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot durchgesetzt, das schon jetzt vielen Betroffenen das Leben gekostet hat.
„Darauf zu warten, dass staatliche Einrichtungen Schutzmaßnahmen ergreifen, ist nicht genug.“
Die Liste ist lang, doch das Problem geht über einzelne Staaten hinaus: Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir in grundlegend patriarchalen und ausbeuterischen Strukturen leben, die ständig jeden Aspekt unseres Lebens bedrohen. Der Staat kann Maßnahmen wie die Istanbul-Konvention als reformistischen Ansatz zwar noch so wirkungsvoll umsetzen; wirkliche Befreiung können diese kapitalistische Staaten und das System, in dem wir leben, jedoch nicht geben. Denken wir bspw. an eines der wirkungsvollsten Instrumente patriarchaler Gewalt: die Isolation von Gewaltbetroffenen. Keine staatliche Institution kann von oben kommen und die Isolation für uns durchbrechen – das können nur wir, indem wir uns organisieren und von unten ein Netz spinnen, das Betroffene auffängt, schützt und stärkt. Darauf zu warten, dass staatliche Einrichtungen Schutzmaßnahmen ergreifen, ist nicht genug. Wir müssen unsere Befreiung selbst in die Hand nehmen und darauf vorbereitet sein, dass uns Rechte, die ein Staat heute gewährt, morgen wieder genommen werden können, dass unsere Selbstbestimmung jederzeit angegriffen werden kann, wenn wir sie nicht jeden Tag aufs Neue kollektiv verteidigen.
Kritik an Regierungen und Staaten muss formuliert werden. Aktivist*innen und Expert*innen leisten wichtige Arbeit, indem sie die Lücken im Hilfesystem dokumentieren und auf die Umsetzung von Schutzmaßnahmen beharren. Aber ich glaube, dass nichts so wirkungsvoll und mächtig ist, wie unsere eigenen Netzwerke und unsere kämpferische Haltung. Und ich kann mir keinen besseren Rahmen vorstellen, um diese kämpferische Haltung zu bewahren, als die autonome Selbstorganisierung. Die kurdische Frauenbewegung spricht von der „Loslösungstheorie“ – die Idee, dass wir uns nur in autonomen Räumen von den Einflüssen des patriarchalen, kapitalistischen Systems befreien können und sich dadurch radikalere Strategien herausbilden können, um sich gegen Gewalt zu wehren. Angesichts des alarmierenden Anstiegs von patriarchaler und rechter Gewalt und queerfeindlichen Hassverbrechen dürfen wir uns nicht mit Krümeln und kleinen Zugeständnissen zufriedengeben. Wir sollten das Ausmaß unserer Kämpfe und unserer Befreiung selbst bestimmen, anstatt uns von oben vorgeben zu lassen, wie viel wir kämpfen dürfen, bevor uns Kriminalisierung und Repressionen drohen. Ich wünsche mir, dass wir uns globale revolutionäre feministische Befreiungskämpfe zum Beispiel nehmen, einander verteidigen und unsere Befreiung aktiv, kollektiv und global von unten erkämpfen, anstatt uns Veränderung von oben zu erhoffen.