Kann man sich nicht nicht positionieren?
Hypertext von Zain Salam Assaad
„Hypertext“ ist das Produkt aller möglichen Memes und Sad Songs des letzten Jahrhunderts. In dieser Kolumne beschreibt Zain Salam Assaad mal satirisch, mal ganz ernst, wie sich Exil, Popkultur und Weltgeschehen zwischen dem Mainstream und am Rand der Gesellschaft bewegen – zwischen Pass und Smash. Dazu teilt Zain Memes oder eigene Mood-Playlists.
Am 07. Oktober 2023 griff die islamistische Terrororganisation Hamas Israel an, woraufhin Israel eine umfangreiche Militäroperation im Gazastreifen startete. Nach offiziellen Angaben gab es bisher in Israel über 1.400 Todesopfer und mehr als zweihundert Menschen wurden von der Hamas als Geiseln genommen. Hierbei wird von „dem tödlichsten Angriff auf jüdische Menschen seit dem Holocaust“ gesprochen. Gleichzeitig verzeichnet die UN „die tödlichste Eskalation im Gazastreifen seit 2006“. Das Gesundheitsministerium in Gaza meldete mehr als 8000 Todesopfer, darunter über 3000 Kinder.
Die Entwicklungen sind vor allem eins: tragisch und entsetzlich. Infolge des Angriffs werden zahlreiche Tweets, Kacheln in sozialen Medien, Aufrufe zu Demonstrationen und politische Stellungnahmen geteilt. Dabei werden zeitgleich antisemitische wie rassistische Äußerungen verbreitet und prägen einen bedeutsamen Wendepunkt im deutschen Diskurs über Israel-Palästina, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Medienlandschaft. Dieser Diskurs spaltet sich in unterschiedliche Richtungen, auch in linkspolitischen Kreisen. Offen bleiben die Fragen: Wie kann man sich überhaupt zum Krieg und Terror positionieren? Und vor allem: Wie gut kann man das tun, wenn bereits vorgefasste Annahmen im Spiel sind?
Zain Salam Assaad
Peak of Gaslighting
Aktuell sind viele Menschen auf der Suche nach den „richtigen“ jüdischen, arabischen oder muslimischen Stimmen, um sie zu tokenisieren, instrumentalisieren und sich selbst zu bestätigen. Für diese Menschen ist dann alles falsch, was die vorausgesetzte Homogenität herausfordert. Argumente, wie das Zusammenführen verschiedener Realitäten, gelten für sie als zu einseitig oder relativierend. Die eine richtige Stimme, die die einzige Realität widerspiegelt, gibt es nicht. Es sind verschiedene Meinungen und Perspektiven und sie existieren in diesem Kontext parallel zueinander. Ich höre von vielen arabischen und jüdischen Bekannten, dass sie momentan zögern, sich offen zu äußern. Denn alles, was gesagt wird, wird entweder in einem sehr kritischen Licht betrachtet oder ist bereits stark von antisemitischen oder islamfeindlichen sowie antiarabischen und rassistischen Äußerungen geprägt. Was beim Sich-Anfeinden, Outcallen und Labeln aber untergeht: Zivilist*innen in Gaza und Menschen im Westjordanland (auch West Bank) sowie in Israel werden getötet. In Deutschland wird währenddessen darüber debattiert, wessen Tod gerechtfertigt ist. Denn jede*r interpretiert die Geschichte des sogenannten Nahen Ostens aus der eigenen Perspektive. Anstatt in gesellschaftlichen Debatten über konstruktive politische Lösungen zu sprechen, steht die Frage nach der eigenen, meist performativen Positionierung verstärkt im Vordergrund, sowohl auf individueller als auch auf staatlicher Ebene. Rhetorische und oft überzogene Gleichsetzungen zwischen Religion, Zivilist*innen, Staat und Terrorismus schüren diese Stimmung. Damit wird ein neuer „Peak of Gaslighting“ gegenüber den Betroffenen vor Ort erreicht und bleibt nur wenig Raum für gemeinsames Trauern und Mitgefühl, sowohl für jüdische als auch palästinensische Menschen.
Ist es möglich, sich nicht zu positionieren?
Ab welchem Punkt wird ein Verhalten als eindeutiger Hinweis oder klare Stellungnahme betrachtet? Welche Signale weisen in der Kommunikation auf Menschenverachtung hin und welche auf Solidarität? Diese Fragen sind in theoretischen Überlegungen schwer zu beantworten. Zwar sind digitale Räume ohne Zweifel Orte der Kommunikation, jedoch berichten aktuell viele junge Menschen in meinem Umfeld, dass derzeit jede Form der Kommunikation dort als Positionierung interpretiert wird. Sie äußern ein starkes Gefühl der gegenseitigen Überwachung: Alle warten darauf, was andere posten und wie sie sich positionieren, um daraus politische Standpunkte abzuleiten. Dadurch soll beurteilt werden, wie Personen zu Themen, wie der Verharmlosung antisemitischer Angriffe, Rassismus oder der Tötung von Israelis und Palästinenser*innen, stehen. Dieser Druck dringt immer tiefer in innerdeutsche und innerlinke Konflikte sowie in zwischenmenschliche Beziehungen ein. Viele haben sich bis vor Kurzem nie besonders zu politischen Themen positioniert oder suchen sich in den sozialen Medien Vorbilder aus, um sich ihr eigenes Wissen und ihre eigenen gesellschaftskritischen Ansichten zu bilden. Manche haben Angst, zu radikal zu sein, während andere fürchten, nicht radikal genug zu sein oder als „neoliberale Opportunist*innen“ gesehen zu werden. Die Kreise spalten sich nun. Es genügt in der heutigen Zeit, Wörter wie „Israel“ oder „Palästina“ auszusprechen, um in eine Kategorie gesteckt zu werden, die dann oft mit Verharmlosung von Mord und Gewalt in Verbindung gebracht wird.
Dekonstruktive Diskussionen auf Social Media, die eine Hierarchisierung zwischen Unterdrückungsformen konstruieren, schaffen nicht nur ein falsches Verständnis von Rassismus und Antisemitismus, sie lenken den Diskurs ebenfalls auf eine Ebene, die schnell von Rechtspopulist*innen instrumentalisiert wird. Der Hass kommt plötzlich an die Oberfläche und Menschen leben ihre rassistischen und antisemitischen Träume in der Öffentlichkeit aus. Wie können wir diesen Teufelskreis durchbrechen? Ein Anfang wäre, wenn wir die Lage in Gaza nicht relativieren und uns gegen rassistische Dehumanisierung stellen würden. Und wenn wir Drohungen und Angriffe auf Israelis und jüdisches Leben nicht verharmlosen würden. Sonst spielen wir Ereignisse und Lebensrealitäten gegeneinander aus.
„Im Trüben fischen“
„Im Trüben fischen“ bedeutet auf Arabisch, Unordnung abzuwarten und von Konfliktsituationen zu profitieren. Deutsche Politiker*innen scheinen sich der Situation bewusst zu sein und nutzen sie, um innerdeutsche Probleme nach außen zu verlagern. Wenn es brenzlig wird, ruft Deutschland gleich nach der altbekannten rechten Tradition „A*sländer raus“ aus. Das wirft Fragen auf, die nur zur Provokation dienen: Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Migrant*innen oder die gesellschaftlichen und politischen Probleme? Rassismus oder Antisemitismus?
Der sogenannte Nahost-Konflikt wird nicht gelöst, solange Probleme immer bei „den Anderen“ verortet werden. Die Wurzel allen Übels, sei es Antisemitismus oder allgemeine Gewaltbereitschaft, wird oft als „importiert“ angesehen und hat angeblich nichts mit der deutschen Gesellschaft oder mit ihrer Geschichte zu tun. Diese Annahme ignoriert die Tatsache, dass sowohl Rassismus als auch Antisemitismus als globale Strukturen in verschiedenen Zeiten, Formen, Kulturen und an verschiedenen Orten präsent sind. Diese Annahme knüpft am besten an rechte Ideologien, die gerade in Deutschland an Stärke gewinnen. Diese Ideologien sind im Übrigen kein rein deutsches Phänomen und finden auch in Teilen migrantischer Communitys Anklang.
Seit dem Hamas-Angriff haben viele jüdische Menschen weltweit Angst, auf die Straße zu gehen. Jüdische Einrichtungen werden bedroht und angegriffen. Die unabhängige Recherche- und Informationsstelle „Rias“ verzeichnet einen deutlichen Anstieg von antisemitischen Angriffen in Deutschland (im Vergleich zum Vorjahr), unter anderem auch bei Demonstrationen in Solidarität mit Palästina. Die deutsche Reaktion darauf: Abschiebedebatte, Racial Profiling, Pauschalvorverurteilungen oder Verbote von propalästinensischen Demonstrationen und Symbolen. Diese können nicht die Lösung sein, um nachhaltigen Schutz vor Antisemitismus hierzulande zu gewährleisten. Rechte und islamistische Gruppierungen versuchen, diese Proteste für sich zu vereinnahmen, und durch solche Verbote erlangen sie Macht und Popularität.
Es ist wichtig, den islamistischen Terrorismus und seine Quellen in der Region, wie z. B. die Hamas, zu verurteilen sowie diesem Terror entgegenzutreten. Es ist ebenfalls wichtig anzuerkennen, dass Vertreter*innen dieses Terrors international agieren. Menschen in Gaza sind nicht der Terror. Zivilist*innen sind nicht der Terror. Die israelischen Geiseln sind nicht der Terror. Geflüchtete aus der Region sind nicht der Terror. Sie leiden unter den Konsequenzen. Der Terror ist nicht neu. Er stärkte sich in den letzten Jahren nach jeder solchen Auseinandersetzung. Denn die Lage verschärft sich nicht zum ersten Mal und steht ernsthaften überregionalen Gefahren gegenüber.
Der Diskurs der Leerstellen
Positionen zu verlangen, ohne die globalen Zusammenhänge und das Weltgeschehen zu berücksichtigen, ist selektiv und trägt zur Entstehung von diskriminierenden Verallgemeinerungen bei. Es ist schwierig, einen ausgewogenen Diskurs zu führen, wenn selbst progressive Stimmen nicht miteinander auskommen. Geht es um Ideologiekritik, Cliquenrivalitäten oder das Sichtbarmachen von Leerstellen postkolonialer oder intersektionaler Standpunkte?
Wir müssen unsere internalisierten Feindbilder überwinden, die von Weltverschwörungsmythen bis hin zum Überlegenheitskomplex reichen. Jetzt sollten wir als Gesellschaft und politische Menschen Trauer und Protest nicht den Rechten oder Islamisten überlassen. Sie dürfen nicht unsere Solidarität definieren oder die Grenzen unserer Empathie und Wahrnehmung bestimmen. Die Hoffnung ist, dass in den kommenden Wochen die Stimmen der Vernunft lauter werden und die Kriegslust leiser wird, sowohl im Diskurs als auch vor Ort in Israel und Palästina.