Seit vielen Jahren ist „Bild“ die meistgelesene Zeitung Deutschlands. Das AxelSpringer-Blatt titelte etwa im Frühjahr gegen das Heizungsgesetz mit Schlagzeilen wie: „So etwas kennt man aus sozialistischen Systemen.“ Vielleicht hätte auch der Politiker und marxistische Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) die „Bild“ als beispielhaft empfunden für ein Medium, das die kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse gleichzeitig stützt sowie Ausdruck von ihr ist. Hegemonie, aus dem Altgriechischen abgeleitet, bedeutet so viel wie „vorangehen“ oder „führen“. Gramsci, der unter der faschistischen Diktatur Mussolinis verhaftet wurde, hielt in seinen „Gefängnisheften“ seine Gedanken zu „Hegemonie“ fest. Als Gründungsmitglied und späterer Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens beschäftigte ihn die Frage, warum Arbeiter*innenbewegungen in westeuropäischen Staaten trotz tiefgreifender Krisen nach dem Ersten Weltkrieg nicht so erfolgreich waren wie in Russland 1917, wo es zu einer Revolution gekommen war. Stattdessen festigte sich in Westeuropa die kapitalistische Herrschaft in Form von bürgerlichen Demokratien oder aber es gelangten, wie auch in Italien, Faschisten an die Macht.

Gramsci wandte sich gegen den ökonomischen Reduktionismus anderer marxistischer Ansätze und argumentierte, dass Herrschaft nicht nur auf Gewalt – ausgeübt durch staatliche Zwangsapparate – und materieller Dominanz – also dem Besitz der Produktionsmittel – basiert. Eine herrschende Klasse werde hegemoniefähig, wenn sie ihre „partikularen“ Interessen so artikulieren könne, als seien sie „universal“. Privatisierungen etwa können dann als gesamtgesellschaftliches Interesse behauptet werden, weil sie den Wettbewerb fördern würden und damit auch das Wirtschaftswachstum, was vermeintlich ebenso im Interesse aller sei. Die Kultur der herrschenden Klasse werde, so Gramcsi, internalisiert und Teil des „Alltagsverstands“. Damit ein politisches Projekt, das nicht nur auf Zwang basiert, hegemoniefähig wird, müssten sich zu einem gewissen Grad auch die Interessen der Unterworfenen („Subalternen“) in ihm wiederfinden, bspw. in Form höherer Löhne oder geringerer Arbeitszeit. Diese Kompromissfindung sei ein kontinuierlicher Prozess der Konsensbildung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Aber, wie Gramsci in seinen „Gefängnisheften“ notierte, „es besteht auch kein Zweifel, dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können“. Der Kern des Kapitalismus, darunter das Privateigentum und die kontinuierliche Ausbeutung, blieben unangetastet.

Gramscis Überlegungen drehen sich wesentlich um die Frage, wie kapitalistische Herrschaft unter solchen Bedingungen überwunden werden kann. Durch politische und gewerkschaftliche Organisierung, soziale Bewegungen sowie Bildungsarbeit werde in einem „Stellungskrieg“ um kulturelle Hegemonie gerungen und versucht, den gesellschaftlichen Konsens, der die Herrschaft stabilisiert, aufzubrechen. „Will man, dass es immer Regierte und Regierende gibt, oder will man die Bedingungen schaffen, unter denen die Notwendigkeit der Existenz dieser Teilung verschwindet?“, fragte Gramsci. Zugleich wusste er, dass die Ausgangsbedingungen, um ein gegenhegemoniales Projekt zu entwickeln, höchst unterschiedlich sind. Denn wer Kapital hat, dem stehen auch mehr Mittel für die „geistige Produktion“ bzw. deren Beeinflussung zur Verfügung. Die Hoffnung, dass es gelingen kann, hat der Kommunist trotzdem nie aufgegeben: „Was wir brauchen, ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens.“

Dieser Text erschien zuerst in Missy 06/23.