Angry Cripples
Behinderte Menschen bestimmen oft nicht selbst, wo sie wohnen, zur Schule gehen oder arbeiten. Von einer Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sind wir noch weit entfernt, wie auch die letzten Prüfungen in der DACH-Region ergaben. Gründe gibt es viele dafür, als behinderte Person wütend zu sein. Wie die US-amerikanische Disability-Rights-Bewegung reclaimen auch die Herausgeber*innen von „Angry Cripples“, Alina Buschmann und Luisa L’Audace, den Begriff „cripple“. Sie luden 15 Autor*innen ein, zu Themen rund um Ableismus zu schreiben. Die Texte sind kurz und eingängig, der Band liebevoll gestaltet. Zu jedem Beitrag gibt es ein Autor*innenporträt mit Illustration. Zwei Beiträge sind Illu-Strecken, es muss ja nicht immer Text sein. Einige Autor*innen kennt ihr vielleicht von Social Media, wie z. B. Kübra Sekin, Tanja Kollodzieyski und Chris Kiermeier. Vielleicht war das eines der Kriterien, sie einzuladen. Unklar bleibt, warum dann ein*e Autor*in wie Mika Murstein nur am Rande vorkommt oder Ashducation (#BeHindernisse) gar nicht. Auch mehr BIPoC-Stimmen wären schön gewesen. Für Allies ist der Band dennoch ein guter Einstieg ins Thema Ableismus und auch als Wink-mit-dem-Zaunpfahl-Geschenk von behinderten Personen an Ableds zu empfehlen. Rosen Ferreira

Alina Buschmann & Luisa L’Audace (Hg.) „Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus“ ( Leykam, 236 S., 23,50 Euro )

Galgenmann
Vor einigen Jahren unternahm die in Los Angeles lebende Autorin Maya Binyam eine Reise mit ihrem Vater. Sie fuhren von der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba in eine kleine Stadt. Dort sollte Binyams Onkel beerdigt werden. Familienmitglieder, die sie auf der Reise begleiteten, weigerten sich jedoch anzuerkennen, dass er bereits gestorben war. Auf eine verwirrende Reise begibt sich auch Binyams Ich-Erzähler in ihrem Debüt „Galgenmann“: ein namenloser mittelalter Mann, der vor 26 Jahren aus seinem ebenso namenlosen afrikanischen Heimatland in die USA geflohen ist. Eines Morgens bekommt er einen Anruf: Er soll zurückkehren. Sein Koffer ist schon gepackt, das Flugticket steckt in seiner Jacke. Der Mann nimmt an, sein Bruder liege in der Heimat im Sterben. Doch angekommen erkennt er weder das Land noch die Menschen wieder, alles ist fremd. Wie wohl jede Reise, bei der man nicht weiß, wo man ist und warum, hätte auch diese hier etwas kürzer sein können. Zwischen surrealen Situationen und lakonischem Humor wandeln die Leser*innen mit der Hauptfigur wie durch einen nicht enden wollenden Traum, der zu einer Suche nach einem Zuhause wird. Ana Maria März

Maya Binyam „Galgenmann“ ( Aus dem Englischen von Eva Kemper. Aufbau, 220 S., 22 Euro

How To Raise A Feminist Son
Wer Feministin und Mutter eines Mädchens ist, kann sich heute mithilfe einer ganzen Ratgeberbibliothek bei Erziehungsfragen begleiten lassen. Wer Feministin und Mutter eines Jungen ist, stößt im deutschsprachigen Raum auf, sagen wir: eine Marktlücke. Nun ist „How To Raise A Feminist Son“ der indisch-amerikanischen Autorin Sonora Jha ins Deutsche übersetzt worden. Jha begann das Projekt der Erziehung eines feministischen Sohnes „aus Angst, dass er werden würde wie die Männer, die mich vernachlässigt, geschlagen, verlassen, ausgebeutet hatten“. Jhas Perspektive ist rassismuskritisch, postkolonial, kosmopolitisch, queer, ohne die sozialisierten Unterschiede gesellschaftlich gemachter Zweigeschlechtlichkeit mitsamt ihrer Normen und Zwänge zu verleugnen. Was hier anstrengend nach Uniseminar klingt, liest sich nahbar und anschaulich in dieser Mischung aus autobiografischem Long Read, Reportage und Ratgeber: Wir begleiten die Autorin, die in Mumbai aufwuchs und heute in Seattle lebt, bei ihrer von Liebe, Sorge und Solidarität getriebenen Suche nach den „richtigen“ feministischen Ansätzen – das Scheitern und Verheddern in Widersprüchen inklusive. Für alle, die fühlen, was im ersten Kapitel steht: „Hilfe, es ist ein Junge!“ Und für alle anderen. Eva Berendsen

Sonora Jha „How To Raise A Feminist Son. Das Buch für alle Eltern, die Gleichberechtigung leben wollen“ ( Aus dem Englischen von Katharina Herzberger. &Töchter, 304 S., 24 Euro )

Chor der Erinnyen
Vor drei Tagen hat Mathildas Mann ohne Erklärung das Haus verlassen, seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Nun taucht plötzlich auch noch Birte bei ihr auf, eine Kindheitsfreundin, zu der sie aber seit Jahren keinen Kontakt hat. Erst als Vision, und dann steht sie frühmorgens leibhaftig vor ihrer Tür. Und das ausgerechnet, als sie nach langer Zeit mit Olivia zum Wandern in deren Wochenendhütte im Wald verabredet ist. Mathildas wohlgeordnetes Leben gerät innerhalb weniger Tage immer mehr in Unordnung. Sie, die gerne Distanz bewahrt, verbringt nun ein Wochenende mit den beiden Freundinnen und muss mehr Nähe zulassen, als ihr lieb ist. Sie, die stets die Erwartungen der anderen erfüllt, denkt plötzlich immer mehr über ihr eigenes Leben nach. Sie, die Rationale, hat nun Visionen und der Chor der Erinnyen durchdringt immer mehr ihr Leben. Erinnyen sind in der griechischen Mythologie drei Rachegöttinnen, die Gewissensbisse personifizieren. Marion Poschmann erzählt die Parallelgeschichte ihres Romans „Die Kieferninseln“, der aus der Sicht von Mathildas Mann geschrieben ist. Nun stehen jedoch die Frauen im Mittelpunkt, allen voran Mathilda. Poschmann arbeitet viel mit mythischen Motiven und kulturhistorischen Verweisen und mischt mit großer Könnerinnenschaft Reales und Absurdes. Dies macht ihren Roman zu einem fesselnden Vergnügen, dem man gerade auch wegen des kunstvollen Umgangs mit der Sprache sehr gerne folgt. Nicole Hoffmann

Marion Poschmann „Chor der Erinnyen“ ( Suhrkamp, 189 S., 23 Euro )

So weit das Licht reicht 
Chinesische Yeti-Krabben mit wulstigen Körpern, münzgroße Falterfische mit spitzen Stacheln oder: Riesenborstenwürmer mit noppenartigen Augen, die als Fleischfresser die Länge eines Menschen erreichen können. Sie leben auf dem Meeresboden und vergraben sich so tief, dass kein Feind sie finden kann. Was lebt da in der Tiefe? Sabrina Imbler ist Naturwissenschaftler*in und forscht zur Meeresbiologie. In deren Roman „So weit das Licht reicht“ verwebt dey Geschichten aus der Welt der Untiefen mit deren eigenen. Dey taucht ab in Kindheitserinnerungen, die von Angst, Ausbeutung und der Suche nach Identität geprägt sind. Deren subtilen Beobachtungen sind wissenschaftlich und poetisch. Wir Leser*innen schwimmen buchstäblich mit durch jede Zeile. Gleich auf den ersten Seiten hat man das Gefühl, es wüchsen einem*r Kiemen. Z. B., wenn dey von den jahrelang brütenden Oktopusmüttern erzählt, den „Graneledone boreopacifica“, die wie eine Pizza an den Klippen Kaliforniens hängen, bis ihr Nachwuchs schlüpft und sie dann endlich sterben können. Sabrina Imbler schreibt klar, oft sehr komisch und manchmal emotional aufwühlend. Welche Verbindung haben wir zu Unterwasserwesen – waren wir nicht selbst mal welche? Miriam Amro 

Sabrina Imbler „So weit das Licht reicht“ ( Aus dem Englischen von Anja Kauß. C. H. Beck, 283 S., 25 Euro ) 

Nachtfrauen
Obwohl sie es seit Jahrzehnten gewohnt ist, in das Dorf ihrer Kindheit nach Kärnten zu fahren, bringen sie die Wechsel von Stadt zu Land immer wieder in Bedrängnis. Das Kinderzimmer ist so geblieben, wie Mira es verlassen hat: ein zu schmales Bett, verstaubte Ecken. Ein lebloses Relikt der Kindheit, das sich zunehmend in eine Abstellkammer verwandelt. Dieses Mal fährt Mira nach Hause, um sich mit ihrer gebrechlichen Mutter auseinanderzusetzen. Diese soll ihr Haus räumen, denn der Cousin möchte an der Stelle eine Werkstatt bauen und Mira soll ihr ins Gewissen reden, in ein Altersheim zu ziehen. Im Dorf muss sich die Protagonistin ihrer Kindheit stellen, der Vergangenheit ihrer Familie, die als sogenannte Kärntner Slowen*innen nach Österreich kamen. Die Mittvierzigerin fühlt sich hin- und hergerissen zwischen Großstadt und Dorf, zwischen ihrer Jugendliebe und ihrem Mann, zwischen zwei Sprachen, zwei Identitäten. Maja Haderlap erzählt mit klaren, einfühlsamen Worten vom Umgang mit Verantwortung, vom Abnabeln und dem zähen Prozess des Erwachsenwerdens. Es geht um Identität und Zugehörigkeit, die Schwere der Schuld und nicht zuletzt um die Vergänglichkeit. Julia Schattauer

Maja Haderlap „Nachtfrauen“ ( Suhrkamp, 294 S., 24 Euro ) 

Hippe Hexen 
Dieses Bilderbuch ist das Diplomprojekt von April Suddendorf, mit dem sie ihr Studium an der Hochschule Wismar abschloss. Sie widmet es allen, „die sich mal ein bisschen anders gefühlt haben (und eigentlich ganz zufrieden damit sind)“, und räumt darin ordentlich mit ollen Hexenklischees auf. Auf jeder Doppelseite porträtiert sie eine Hexe in ihrem Zuhause. Gemeinsam haben sie eines: An ihrer Seite lebt ein Tier, das sie perfekt ergänzt. Ein Schwein hilft Helene bei der Steuererklärung, das Schuppentier ist ebenso musikalisch wie Izara, Regenwürmer wohnen mit Pflanzenflüsterin Ro unter der Erde und eine Schildkröte unterstützt Meryl als Freundin, Ruhepol und Briefbeschwererin bei ihrem stressigen Job im Büro. Man ahnt es, die Hexen selbst sind ebenso sympathisch und schrullig wie ihre Tiere. Ihre Leidenschaften haben immer ein bisschen etwas mit Zauberei zu tun, aber nichts mit dem misogynen Bild der bösen Hexe. Die Hexen haben alle ihren eigenen, besonderen Style. Sie sind alt und jung, groß und klein, dick und dünn, es gibt behinderte Hexen, Hexen of Color und Hexen mit Tattoos. Die fröhlichen und detailreichen Illustrationen machen unglaublich viel Spaß, die Reime sind holprig, aber durchaus charmant. „Hippe Hexen“: zauberhaft, lieb und erfrischend weird! Carla Heher

April Suddendorf „Hippe Hexen und ihre zauberhaften Tiere“ ( NordSüd Verlag, 48 S., 17 Euro )

Mauerpfeffer
Zwei Bäume fallen um, einfach weil ihre verdorrten Wurzeln sie nicht mehr aufrecht halten konnten. Mit diesem Schreck beginnt „Mauerpfeffer“, das zweite Buch, in dem die Schriftstellerin Nataša Kramberger von ihrem Biohof in Slowenien erzählt. Der erste Roman, „Verfluchte Misteln“, schilderte, wie sie als Teilzeitbäuerin begann. Nun, sieben Jahre später, geht es in einem langen Essay vor allem um Landwirtschaft in Zeiten der Klimakrise. Denn das Wetter ist krass: Das Gerstenfeld verdurstet oder wird überschwemmt, Obstblüten erfrieren, im November wuchert das Gras. Kramberger erzählt, wie Äcker nach Regen ächzen, wie ein Hagelsturm zerschreddertes Grün ans Fenster schmeißt, wie sie naturnah pflanzt, buddelt oder jätet, wie sie mit Menschen aus Stadt und Land diskutiert und magere Ernten einfährt. Sie verknüpft ihren Alltag mit globalen Wetterkatastrophen und klimapolitischen Diskursen, kreiert bei allem Frust poetische Bilder, kurz, sie schreibt radikale, außerordentlich schöne Prosa. Als Bäuerin ist sie nah dran an der Katastrophe, als Autorin schnell: Sie schildert Extremwetter der letzten Jahre, aber auch der letzten Monate. Gegen Ende des Buches geht es um die Überflutungen in Slowenien, die Felder, Straßen und Häuser mitrissen. Während sie „Mauerpfeffer“ fertigstellte, musste Nataša Kramberger ihren Hof, der zum Glück noch steht, vom Schlamm befreien. Sabine Rohlf

Nataša Kramberger „Mauerpfeffer“ ( Aus dem Slowenischen von Liza Linde. Verbrecher, 126 S., 16 Euro )

Pornopositiv
Was würde passieren, wenn Pornografie aus der Schmuddelecke herausgeholt werden würde und Menschen offen ihre Lust ausleben? Als Paulita Pappel mit 22 Jahren ihren ersten Porno drehte, entdeckte sie die Welt des Einvernehmens und Begehrens. Ihre Wünsche und Grenzen wurden am Set respektiert. Um sie zu kommunizieren, gibt es verschiedene Übungen. Beim Bodymapping wird bspw. jede*r der Beteiligten gefragt, welche Körperstellen von Kopf bis Fuß in welcher Art und mit welcher Intensität berührt werden dürfen oder tabu sind. Das Prinzip des Body­mapping übernahm Pappel für ihre Arbeit als Intimitätskoordinatorin bei Serien wie „Luden“, „Para – Wir sind King“ oder „Tod den Lebenden“. In „Pornopositiv“ schreibt Pappel gegen verklärte, heteronormative Bilder von Liebe und Sexualität in Filmen an, bei denen Sex ohne Kommunikation stattfindet. Pappel erklärt, warum es sinnvoll ist, sexuelle Aufklärung um Pornos zu erweitern, spricht über die Vereinbarkeit von Pornos und Feminismus, feministische Gegenströmungen, Imageprobleme und Tabus in der Pornobranche. Mithilfe von Praxisbeispielen, zahlreichen Quellen, Verstand und Gefühl plädiert Pappel für mehr Pornopositivität in der Gesellschaft. Susanne Gietl

Paulita Pappel „Pornopositiv. Was Pornografie mit Feminismus, Selbst­bestimmung und gutem Sex zu tun hat“ ( Ullstein, 208 S., 16,99 Euro )

Nichts in den Pflanzen
Leila tötet die 1700-Euro-Katze ihres perfekten Freundes Leon. Sie hat einen vielversprechenden Drehbuchdeal an Land gezogen, scheitert aber kläglich. Unzufrieden in einer Welt, in der alle Namen mit L anfangen, oszilliert sie zwischen bukowskischen Saufgelagen und Schreibblockaden. Dabei wird Leila von immer größer werdenden Fliegen umkreist. Nora Haddada schreibt ihr Debüt in rotzig-tropfender Sprache, und das ist unterhaltsam. Die Beobachtungen über das Berliner Kulturszeneleben und die Unzulänglichkeiten ihrer Protagonist*innen sind feinsinnig. Spannende Ansätze finden sich in der Sehnsucht nach selbstverletzendem Verhalten und dem beiläufigen Schreiben über weibliche Wut. Oder wenn Leila beginnt, von Gewissensbissen (tote Katze) geplagt zu werden, der Roman halluzinierende Krimivibes bekommt und damit das Unbehagen einer verfaulenden Gegenwart greifbar wird. Allerdings kommen Zweifel auf, ob der ansonsten weniger aufregende Inhalt der handwerklich guten Form gerecht wird. Sind bspw. die leeren Dialoge der vorgehaltene Spiegel einer verdinglichten Kulturwelt, die nichts mehr vermitteln will? Wenn die Autorin dies beabsichtigt und eine Kritik, ein Lebensgefühl ihrer Generation (Z) beschreibt, dann kann dies als gelungen bezeichnet werden. Ganz klar ist das aber nicht. Ticha Matting

Nora Haddada „Nichts in den Pflanzen“ ( Ecco, 240 S., 24 Euro )

Send Nudes
Glücklicherweise verschwimmt die Grenze zwischen Büchern für Erwachsene und solchen für die Jugend immer mehr – nicht nur, weil viele queere Personen durch Young Adult Novels noch einmal eine Jugend erleben können, die sie möglicherweise nicht hatten. Die Kurzgeschichtensammlung „Send Nudes“ von Saba Sams ist zwar nicht komplett explizit queer, doch vereint sie Erzählungen über das Heranwachsen, die selten so rau sind und die sich weit aus gesellschaftlich anerkannten Konventionen herauslehnen. Ihre Protagonist*innen befinden sich in dieser merkwürdigen, verschwommenen Phase, die oft als etwas Lineares dargestellt wird, es aber nicht ist. Man ist teilweise noch Kind, teilweise schon erwachsen, schwankend zwischen zwei vermeintlichen Polen. Saba Sams’ Figuren wollen aber gar nicht unbedingt erwachsen werden, sie lieben das Spiel, die Grauzone, sie experimentieren, reizen, begehren auf und kitzeln am Unbehaglichen. Über den Geschichten schwebt etwas Bedrohliches, eine verbotene Ahnung, die brodelt und zischt, nie wirklich greifbar und dennoch faszinierend ist. „Send Nudes“ mag ein Buch sein, das verstört und gleichzeitig das rebellisch Jugendliche in uns ungemein und unapologetically befriedigt. Avan Weis

Saba Sams „Send Nudes“ ( Aus dem 
Englischen von Sophie Zeitz. Piper, 
208 S., 22 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/23.