Filmtipps 01/24
Von
Helke Sander: Aufräumen
Helke Sander ist eine historische Schlüsselfigur für Gesellschaft, Film und Feminismus der zweiten Welle. Claudia Richarz’ Dokumentarfilm begegnet der bald 87-Jährigen auf persönlicher Ebene: beim Aufräumen ihrer Wohnung und gleichzeitig ihrer Biografie. Anhand der zu sortierenden Objekte erzählt sie ihr Leben, begleitet von prägnanten Ausschnitten ihrer bis heute brisanten Filme („REDUPERS“, „Macht die Pille frei?“, „BeFreier und BeFreite“ etc.). Zutage treten politische wie persönliche Geschichten über Krieg und Traumatisierung, Mutterschaft, Widerstand und Solidarität vor dem Hintergrund der 68er-Bewegung. In einer Szene hält Sander 2018 anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums ihrer legendären „Tomatenrede“ im Kontext der 68er-Bewegung eine Festrede im Frankfurter Rathaus. Sie äußert sich nicht nur trans- und islamfeindlich, sondern wertet auch gendersensible Sprache als entpolitisierend ab. Es folgt ein spontaner Redebeitrag von Aktivist*innen, die sich klar gegen Rassismus und für einen genderinklusiven Feminismus positionieren. An vielen Stellen hat sich Helke Sander in den letzten Jahren #MeToo-relativierend und transfeindlich geäußert. Dies in Einklang zu bringen mit ihrer Rolle als feministische Ikone fällt nicht leicht und löst bei Zuschauenden starke Ambivalenzen aus. Gleichzeitig verdient ihr frühes Schaffen einen solchen Film, der ihr als Person sehr nah kommt und ihrem maßgeblichen Beitrag zur feministischen Revolution der 1970er-Jahre ein Denkmal setzt. Johanne Hoppe (Top Girl Kollektiv)
„Helke Sander: Aufräumen“ DE 2023 ( Regie: Claudia Richarz. 82 Min., Start: 07.03. )
Die Ausstattung der Welt
Im Film lassen Requisiten ganze Epochen entstehen. So speziell diese Dinge auch sein mögen, in den Vordergrund rücken sie meist nicht. In dem dokufiktionalen Werk „Die Ausstattung der Welt“ ist das anders: Der Requisitenfundus Studio Babelsberg, der Fundus FTA Props in Hamburg sowie der vierstöckige delikatessen Requisitenfundus Berlin, die jeweils bis zu 100.000 Objekte beherbergen, werden zu den Hauptdrehorten. Statt in den Regalen dem skurrilsten Stück hinterherzujagen, geht es den Filmemacher*innen um die Beziehung der Gegenstände im Archiv mit der Realität. Es wird gescannt, sortiert und in Luftpolsterfolie gepackt, um vom Fake-Sushi bis zum Barockbild alles aufzubewahren, wiederzufinden und wiederzuverwenden. Immer wieder wird Stop-Motion genutzt, um den Objekten ein Eigenleben zu geben. Besonders eindrücklich wird das, wenn in diesen Kosmos Cleo (Thelma Buabeng), eine Doktorandin der Postcolonial Studies, eintritt. Sie stößt auf rassistische Figuren, aber auch auf ein Porträt einer Schwarzen Frau, die eine goldene Türmchenuhr hält. Wie es sich herausstellt, war die Unbekannte gar nicht der Fokus des Bildes, doch durch einen Brand wurde das Gemälde aus dem 16. Jahrhundert von Annibale Caracci so beschädigt, dass die Zeichnung der Frau als Fragment übrig blieb. Und Cleo fragt sich: Wie nun diese neue Hauptrolle in die Welt heraustragen? Yuki Schubert
„Die Ausstattung der Welt“ DE 2023 ( Regie: Susanne Weirich & Robert Bramkamp. Mit: Thelma Buabeng, Susanne Hein, Geza Claus u. a., 99 Min., Start: 25.01. )
Poor Things
Im London einer Zeit, die nach verzerrter Vergangenheit aussieht, sich aber wie die Gegenwart anfühlt, lebt Bella (Emma Stone). Sie ist Ergebnis der wissenschaftlichen Experimente ihres patriarchalen Ziehvaters Dr. Goodwin Baxter (Willem Dafoe) und führt als solches ein Leben ständiger Irreführung und Überwachung. Kaum bietet sich die Chance, mit dem fadenscheinigen Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) nach Lissabon durchzubrennen, ergreift Bella die Gelegenheit, ihrem Sehnen nach Wissen, Genuss und befreiter Sexualität nachzugehen. Es folgt eine internationale Erkenntnisreise, in deren Verlauf Bella nicht nur über die Männer in ihrem Leben, sondern auch über ihr unbedarftes Selbst hinauswächst. Die neue Regiearbeit von Giorgos Lanthimos fällt morbide, aber zugänglich aus. Als Emanzipationsgeschichte konzipiert, gleitet der Fokus der Erzählung oft zu den Männern ab. Mit denen wird zwar hart ins Gericht gegangen, aber doch zumindest mitleidige Sympathie entwickelt. Durch krümmende Objektive observiert der Film prachtvoll ausgestattete Orte. In ihnen konstruiert er eine überreale Wirklichkeit, die direkt über die unsere spricht. Auch wenn dabei wenig Neues in den popfeministischen Filmkanon eingebracht wird, ist „Poor Things“ als luxuriös erzählte schwarze Komödie über Menschwerdung durchaus ergiebig. Linus Misera
„Poor Things“ GB 2023 ( Regie: Giorgos Lanthimos. Mit Emma Stone, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Mark Ruffalo u. a., 141 Min., Start: 18.01. )
PLASTIC FANTASTIC
Die Zahlen sind ernüchternd: „Es gibt 500-mal mehr Plastikpartikel in den Meeren als Sterne in unserer Galaxie“, heißt es zu Beginn des Filmes. Doch während uns Sterne am Horizont verzaubern, vergiftet Plastik die Lebewesen und Ökosysteme dieses Planeten. Denn Plastik wird aus Öl, Kohle und Gas hergestellt – und die in diesen Industrien angesiedelten Firmen investieren kräftig in Kunststoffe. Auch in St. James, USA, soll eine bereits bestehende Fabrik erweitert werden. Doch die überwiegend Schwarze Bevölkerung leidet bereits unter den ökologischen und gesundheitlichen Folgen der petrochemischen Produktion vor Ort – und wehrt sich gegen den Ausbau der Fabrik. „PLASTIC FANTASTIC“ porträtiert diese und andere widerständige Protagonist*innen in den USA, Kenia und Deutschland. Aber auch Industrievertreter*innen kommen zu Wort, die versuchen, den Ruf von Plastik zu verbessern: Ein Lobbyist behauptet, Plastik würde in Form von Lebensmittelverpackungen eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Welthungers spielen. So wirft die aufrüttelnde Dokumentation einen schonungslosen Blick auf die Macht der Industrie, aber auch die von ihr verursachten Umweltschäden. Und endet mit vorsichtiger Hoffnung: Die UN-Umweltversammlung verhandelt derzeit einen rechtsverbindlichen Vertrag gegen die globale Plastikverschmutzung. Merle Groneweg
„PLASTIC FANTASTIC“ DE 2023 ( Regie: Isa Willinger. 101 Min., Start: 25.01. )
Becoming Giulia
Was für eine physische und mentale Herausforderung eine Rückkehr auf die Tanzbühne sein kann, sieht man in der Dokumentation „Becoming Giulia“. Hier begleitet Regisseurin Laura Kaehr die erste Solotänzerin des Opernhauses Zürich, Giulia Tonelli, nach elf Monaten Auszeit aufgrund der Geburt ihres Sohnes zurück auf die Bühne. Die andauernde Präsenz, die in den Proben sowie vor und auch nach den Auftritten gefordert wird, nimmt keine Rücksicht auf Elternschaft. Trotzdem weiß Tonelli um ihre Stärke. Diese sei noch größer geworden, seitdem ihr Sohn auf der Welt ist, sagt sie in einem der seltenen Interviews, in denen sie vor der Kamera spricht. Sonst fokussiert die Dokumentation auf ihren Familienalltag und das Geschehen im Opernhaus. Hier sieht man Tonelli bei den hektischen Proben, den Gesprächen mit Kolleg*innen im Pausenraum und in den beeindruckenden Tanzszenen. Dabei begleiten die Kameras Tonelli ganz nah und fangen ihre tänzerische Magie aus Ausdruck und Kraft ein. Dass Regisseurin Laura Kaehr selbst einmal professionell tanzte und ein besonderes Auge für die künstlerische Inszenierung von Bewegungen hat, zahlt sich in solchen Szenen aus. Lorina Speder
„Becoming Giulia“ CH 2022 ( Regie: Laura Kaehr. Mit Giulia Tonelli u. a., 103 Min., Start: 18.01. )
Green Border
Das Grün des Waldes färbt sich in tristes Schwarz-Weiß, Fluggäste werden zu Geflüchteten. In diesem Zwischenraum trifft die Familie von Bashir und Amina aus Syrien auf den „Grenzschützer“ Jan und die Aktivistin Julia. Es ist Herbst 2021, Präsident Alexander Lukaschenko lässt Geflüchtete visafrei nach Belarus einreisen und viele Menschen hoffen auf eine Fluchtroute, die weniger tödlich ist als das Mittelmeer. Schon in den ersten Filmminuten erreicht die Familie Polen – kurzeitig. Agnieszka Holland füllt den abstrakten migrationspolitischen Begriff „Pushback“ mit Bildern unvorstellbarer Gewalt. Sie zeigt, wie Staatsdiener*innen Menschen ihrer Menschlichkeit berauben, ohne umgekehrt die Beamt*innen dabei zu dämonisieren. Die polnische PiS-Regierung bezeichnete den Film als „Nazipropaganda“. Im Sumpfgebiet versorgen Aktivist*innen die Fußinfektion des Großvaters, geben Amina neue Schuhe und scherzen mit dem Sohn Nur. Manche wollen noch mehr tun, um zu helfen, aber erlaubt ist das nicht. Wie weit ist man bereit, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen? „Green Border“ ist kein Dokumentarfilm, doch vielleicht schafft es die mehrfach Oscar-nominierte Holland gerade deshalb, ein realistisches Bild der Sperrzone zu zeichnen, wie sie überall in der EU allgegenwärtig ist. Und das lässt einer*m den Magen verkrampfen und bringt selbst pflichtbewusste Grenzer zuweilen zum Kotzen. Ulrike Wagener
„Green Border“ PL/FR/CZ/BE 2023 ( Regie: Agnieszka Holland. Mit: Jalal Altawil, Behi Djanati Atai, Maja Ostaszewska u. a., 147 Min., Start: 01.02. )
Stella. Ein Leben
Berlin, 1940. Fünf Jahre nach Verabschiedung der „Nürnberger Gesetze“, der gesetzlich verankerten Grundlage der Nationalsozialisten, um jüdischen Deutschen nach und nach alle Rechte zu nehmen, bemühen sich die Eltern von Stella Goldschlag vergeblich um eine Ausreise. Die 18-Jährige will sich ihren Spaß am Leben nicht nehmen lassen: Sie singt in einer jüdischen Jazzband und träumt vom Broadway. Drei Jahre später steht sie als Zwangsarbeiterin für die Rüstungsindustrie am Fließband. Ihr Mann wird bei einer der sogenannten Fabrikaktionen nach Auschwitz deportiert. Stella und ihren Eltern gelingt es unterzutauchen. Beim Versuch, an Lebensmittelkarten zu kommen, lernt Stella den jüdischen Passfälscher Rolf kennen und steigt in sein „Geschäft“ ein. Mit harten Cuts erzählt Regisseur Kilian Riedhof linear, wie Stella zu einer Kollaborateurin der Nazis wird, zu einer Greiferin, die andere untergetauchte Jüdinnen und Juden aufspürt und an die Gestapo ausliefert. Die Handlung basiert auf den realen Gerichtsakten, ist durch hollywoodeske Zuspitzungen jedoch nicht immer ganz historisch korrekt. Der Film versucht, erfahrbar zu machen, wie schwierig es in barbarischen Zeiten sein kann, menschlich zu bleiben. Dennoch bleiben Stellas Handeln und Haltung am Ende des Filmes unnachvollziehbar. Eva-Lena Lörzer
„Stella. Ein Leben“ DE 2023 ( Regie: Kilian Riedhof. 116 Min., Start: 18.01. )
Animalia
In naher Zukunft versetzt eine Pandemie die Menschen in Schrecken. Die Betroffenen entwickeln keine Lungenkrankheit, sondern unerklärliche Mutationen, wie Kiemen, Reißzähne oder Flügel. Auch die Mutter des 16-jährigen Émile ist betroffen und soll zwangsweise zur Behandlung in ein spezielles Zentrum gebracht werden. Doch auf der Fahrt dorthin gelingt es ihr und anderen Patient*innen, sich aus dem Sammeltransporter zu befreien und in die Wälder zu entkommen. Das Militär setzt Ausgangssperren durch, um die Bevölkerung zu schützen, und die Stimmung in den angrenzenden Dörfern wird zunehmend feindselig: Graffiti, die gegen die sogenannten Wesen hetzen, tauchen auf und der örtliche Barbesitzer verteilt T-Shirts an seine Gäst*innen, um Ablehnung auszudrücken. Émiles Mitschülerin will den Hass in den Augen eines „Wesens“ gesehen haben. Es wird deutlich, wie die Stigmatisierung in die Körper der Betroffenen hinein wirkt und sie den Ekel vor dem eigenen Körper verinnerlichen. Wie sich die Tierpersonen aus dieser Spirale befreien können? Na klar: Solidarität in der Community finden und zusammen lernen, die eigenen Fähigkeiten einzusetzen. „Animalia“ ist eine poetische Verarbeitung von Transitionsprozessen und dem Anderssein in einer Gesellschaft, die ängstlich und hasserfüllt auf Normabweichung reagiert. Bo Wehrheim
„Animalia“ FR 2023 ( Regie: Thomas Cailley. Mit: Romain Duris, Paul Kircher, Adèle Exarchopoulos, Tom Mercier u. a., 118 Min., Start: 11.01. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/24.