Literaturtipps 01/24
Von
Zwischen zwei Monden
Am ersten Tag von Ramadan kommt Sami zurück – und plötzlich ist alles anders. Der große Bruder der Zwillinge Amira und Lina wurde nach sechs Jahren überraschend aus dem Knast entlassen und ist zurück im muslimischen Viertel Brooklyns. Fortan dreht sich in der Familie, von der Aisha Abdel Gawad in ihrem Debüt „Zwischen zwei Monden“ erzählt, alles um ihn. Die Mädchen beäugen ihn misstrauisch, während die Eltern darüber verzweifeln, dass Sami andauernd verschwindet. Auch in den Straßen ist viel los: Gleich zu Beginn des Romans führt die NYPD eine Razzia in einem libyschen Café durch und nimmt den Besitzer für immer mit. In diesem Spannungsverhältnis aus Rassismus, dem undurchsichtigen Bruder, ihrem Schulabschluss und der Liebe der Eltern, die sich in Ritualen wie dem täglichen Fastenbrechen ausdrückt, ist es für die Zwillinge ein Sommer des Erwachsenwerdens. „Zwischen zwei Monden“ aber geht über die Konventionen einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte hinaus. Besonders stark ist der Roman, wenn er vom Verhältnis von Amira und Sami erzählt und von der Community in Bay Ridge. Weniger gelungen hingegen sind die Schilderungen von Linas Ambitionen, Model zu werden, die die traumatischen Erfahrungen auf ihrem Weg kaum zu berühren scheinen. Von einigen Schwächen abgesehen ist „Zwischen zwei Monden“ lesenswert, nicht zuletzt, weil es vielschichtig von muslimischem Leben in den USA erzählt, das in der Gegenwartsliteratur bisher zu kurz kam. Isabella Caldart
Aisha Abdel Gawad „Zwischen zwei Monden“ ( Aus dem Englischen von Henriette Zeltner-Shane. Aufbau, 416 S., 26 Euro )
In deinem rechten Auge wohnt der Teufel
Als Kind ist die Erzählerin regelmäßig „außer sich“ vor lauter Gefühl. Erst kocht der Zorn in ihr hoch, dann überkommt sie die Scham. Als Erwachsene weicht die Wut der Rührung. Scheinbar banale Momente werden dramatisch. Der Anblick einer Blaskapelle im Nieselregen, ein Mann im Frankenstein-Kostüm hält einem Typen im Sailor-Moon-Kostüm die langen Zöpfe, während er sich an Halloween in den Straßen Berlins übergibt. Und sie? Heult Rotz und Wasser. Ten points for passion, das attestiert sie auch ihrer Diva Nummer eins, Florence Foster Jenkins, die bei ihren Auftritten weder Ton noch Rhythmus traf. Um Stimme, Gesang, Oper und Kinderchor geht es in „In deinem rechten Auge wohnt der Teufel“ immer wieder. Genauso wie um musikalische Struktur, Mehrstimmigkeit und das zyklische Wiederholen von Motiven. Genau damit arbeitet die Künstlerin und Autorin Olga Hohmann auch in ihrem Text. Er folgt keiner strengen Chronologie, sondern hier lesen sich eingesammelte Alltagsszenen und Erinnerungen, sich wiederholende Zitate und Redewendungen in einer kreisenden Erzählweise. Für das Erzählerinnen-Ich, dessen zweitgrößte Angst es ist, die eigene Stimme zu verlieren, wird das Schreiben zur Selbstvergewisserung und zum Trost. Und ein Mittel zum Beobachten und Nachdenken über ihr Lieblingstier: den Menschen. Hanna Kopp
Olga Hohmann „In deinem rechten Auge wohnt der Teufel“ ( Mit Illustrationen von Wieland Schönfelder und einem Nachwort von Sophia Eisenhut. Korbinian Verlag, 200 S., 20 Euro )
Klimaungerechtigkeit
Dürren, Hitzewellen, Stürme, Hochwasser: Katastrophales Wetter ist das Spezialgebiet der Physikerin Friederike Otto, sie ist eine der prominentesten Klimaforscherinnen der Welt. Bei der Klimakrise, so Otto in ihrem neuen Buch, geht es aber nicht nur um Naturwissenschaft, sondern um Ungerechtigkeit: Kolonial ausgebeutete Regionen sind von der Erderhitzung oft besonders betroffen und können sich nicht genügend schützen. Reiche Länder hingegen sind es gewohnt, auf Kosten anderer zu leben, und fühlen sich sicherer, als sie sind. Otto nennt das „kolonialfossil“. An acht Extremwetterbeispielen der letzten Jahre analysiert Otto, wie beides den Umgang mit extremen Wetterlagen prägt. Und sie zeigt, dass die Machtlosesten oft am meisten leiden: Schwangere, die in glühender Hitze Feldarbeit leisten, indigene Gruppen, deren Lebensräume verbrennen, Bewohner*innen unwettergefährdeter Slums, aber auch Menschen mit Behinderung, die im Ahrtal ertrinken. „Menschliche Verwundbarkeit“, schreibt Otto, ist keine Naturkatastrophe, sondern „wird von menschlichem Handeln hervorgerufen“. Ihre Analyse riesiger Versäumnisse und Ungerechtigkeit inspiriert nicht zum fatalistischen Händeringen, sondern zum Handeln. Neben vielem anderen wird in ihrem Buch deutlich, wie Klimaverträge, Infrastrukturen, Machtverhältnisse und Denkmuster verändert werden müssten, damit alle möglichst gut geschützt werden. Sabine Rohlf
Friederike Otto „Klimaungerechtigkeit. Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat“ ( Ullstein, 336 S., 22,90 Euro )
Brennende Fragen
Margaret Atwood (Jahrgang 1939) sah, wie Frauen im Kanada der 1950er-Jahre zum Gebären genötigt und Studentinnen um 1960 gemobbt, wie Liberalisierungen (z. B. in Sachen Abtreibung) erkämpft und wieder kassiert wurden. Hitler, Pinochet oder Stalin kennt sie nicht aus Geschichtsbüchern, sondern aus den Nachrichten. Diese reiche Lebenserfahrung verarbeitete sie zu Romanen, Erzählungen und Gedichten, ihr „Handmaid’s Tale“ kennen alle. Diese dystopische Geschichte, meinte Atwood öfter, enthält nichts, was nicht schon mal auf der Welt passiert sei, sie arrangierte es nur neu. Neben Literatur verfasste sie Tausende Seiten Essays, Kritiken, Vorworte, Reden und Artikel, vieles davon ist ernst und lustig zugleich: etwa wenn sie bei einem Vortrag in die Rolle einer außerirdischen Riesenkrake schlüpft, um die Nichtverwirklichung der Menschenrechte auf unserem Planeten zu reflektieren. Im frisch übersetzten „Best-of“ solcher Gelegenheitsarbeiten finden sich Texte über Abtreibungsverbote, Artensterben, #MeToo oder Klimakrise, über ihre Bücher und die anderer Leute, über Diktaturen, Redefreiheit und vieles mehr. Leider macht die deutsche Übersetzung aus „dear reader“ „lieber Leser“ und kennt kein Gendersternchen. Davon abgesehen, ist dieses dicke Buch eine Fundgrube für Atwood-Fans und zeigt, wie eine Feministin tickt, der schon als Teenager auffiel, dass Simone de Beauvoir nicht für alle Frauen spricht. Sabine Rohlf
Margaret Atwood „Brennende Fragen. Essays und Gelegenheitsarbeiten 2004–2021“ ( Aus dem Englischen von Jan Schönherr, Eva Regul & Martina Tichy. Berlin Verlag, 201 S., 32 Euro )
Die Haube
„Hauben sind heute das sinnloseste Zeug überhaupt“, stellt die Erzählerin gleich zu Beginn klar. Die traditionelle slowakische Kopfbedeckung war einstmals Pflicht für verheiratete Frauen. Mit Folklore habe die junge Frau, ein Alter Ego der Autorin, eigentlich nichts am Hut. Warum also nimmt sie zwei Jahre lang immer wieder den weiten Weg von Bratislava in die Berge, um dort eine Haube anzufertigen? Im kleinen Dorf Šumiac ist die slowakische Tracht Teil der lebendigen Kultur. Und Il’ka eine der wenigen Frauen, die sie herstellen können. Die fast Achtzigjährige wird zur Lehrmeisterin der Erzählerin, die auf der Suche nach etwas ist, das sie nicht greifen kann. Alles Unsagbare näht und stickt sie mit Il’ka in die Haube hinein. So erfährt sie von Il’kas entbehrungsreichem Leben, umkreist Il’kas und ihren eigenen Schmerz. Etwas gerät durch die Beziehung der Frauen in Bewegung. „Die Haube“ ist nach zahlreichen Lyrikbänden Katarína Kucbelovás erstes Prosawerk. Ihre lyrische Reportage zeichnet ein dichtes Porträt der slowakischen Bergregion und ihrer Bewohner*innen. Dabei idealisiert sie nichts, auch nicht Il’kas Blick auf die in Šumiac lebenden Rom*nja und die allgegenwärtige antiromaistische Diskriminierung und Gewalt. Ein behutsam beobachtendes, vielschichtig und überraschend erzählendes Buch. Elisa Göppert
Katarína Kucbelová „Die Haube“ ( Aus dem Slowakischen von Eva Profousová. Ink Press, 240 S., 23 Euro )
Das Gespräch der
Geschlechter
Was genau ist Konsens? Und welche Problematiken tun sich auf, wenn man sich dem Begriff der Zustimmung aus der rechtlichen, moralischen sowie politischen Dimension nähert? Diesen Fragen geht Manon Garcia in ihrem Buch „Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung“ nach. Dafür untersucht sie, „was das Patriarchat mit der Zustimmung und den Wünschen der Frauen, aber auch der Männer und nicht-binärer Personen sowohl in heterosexuellen als auch in homosexuellen Beziehungen macht“, und erläutert ausführlich die verschiedensten philosophischen und feministischen Positionen. Eingebettet in historische und zeitgenössische Kontexte analysiert, nein, seziert Garcia, wieso es gar nicht so unkompliziert ist, eine universelle Definition des Konsens zu finden. In Zeiten, in denen das Europäische Sexualstrafrecht reformiert werden soll(te), liefert sie wichtige Überlegungen und zeigt, dass wir es uns stellenweise mit der Beurteilung unterschiedlicher Situationen zu einfach machen. So erklärt sie unter anderem, warum die sexuelle Revolution nicht wirklich für alle Menschen stattgefunden hat, warum es auch im Rahmen des eigentlich progressiven BDSM Hierarchiefallen gibt und wieso, wenig überraschend, das Private sehr wohl politisch ist. Ein nüchternes und gleichzeitig unbequemes Buch, welches uns zwingt, unsere fundamentalen Ansichten zum Einverständnis zu überdenken. Avan Weis
Manon Garcia „Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung“ ( Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, 332 S., 30 Euro )
Eine kurze Begegnung
Ist die große Liebe so weltbewegend oder ist die vermeintlich richtige Person einfach nur zufällig da, austauschbar? Und was daran ist wirklich wichtig? Mizuki lebt in Tokio, immer zwischen Erdbeben- und Tsunamiangst, die von ihr so verhassten Schönheitsideale ihres Landes übertragend auf ihre Teenietochter Eri. Sie möchte sich vom Balkon im 32. Stockwerk stürzen, nur für einen Moment. Damit ihr Mann Tatsuya nur die Wäsche vorfindet, die er ihr nicht helfen wollte aufzuhängen. Die ehemalige Jazzsängerin arbeitet inzwischen wieder, als eine Art Brücke zwischen Japan und dem Westen, und vermisst dabei, dass Menschen in anderen Kulturen ihre Gefühle deutlich zum Ausdruck bringen dürfen. Dadurch kommt es zu einer „kurzen Begegnung“ mit Teramoto Kiyoshi. Emily Itamis Art zu erzählen ist witty und witzig gleichermaßen. So schafft es ihre Hauptfigur, sich gleichzeitig über plötzliche Emotionalität zu wundern und den Namen der Band Radwimps abzuwatschen. Der Roman ist vor allem für Fans der japanischen Kultur ein absolutes Muss. Dementsprechend wäre aber eine noch durchdachtere Übersetzung wünschenswert gewesen. Emily Itami erzählt Mizukis Affäre immer wieder unterbrochen von Gedanken zur Mutterschaft oder zum Tod des Vaters mit fünfzig Jahren – und endet auf einer äußerst kraftvollen Note. Simone Bauer
Emily Itami „Eine kurze Begegnung“ ( Aus dem Englischen von Melike Karamustafa. Karl Blessing Verlag, 288 S., 24 Euro )
Brust
Vor zwei Jahren ging eine Berlinerin vor Gericht, weil sie ein öffentliches Bad verlassen musste: Sie hatte sich wie ihr männlicher Begleiter oben ohne gesonnt, ein Besucher beklagte sich, die Polizei rückte an. Als Angela Merkel bei den Wagner-Festspielen mit großem Dekolleté erschien, erregte das mehr Aufmerksamkeit als die Inszenierung des „Rings“. Das enorme mediale Interesse an diesen Fällen unterstreicht, was die Kunsthistorikerin Anja Zimmermann in ihrem Buch beleuchtet: Die (weiblich gelesene) Brust ist ein Politikum. Ob es ums Stillen geht, die sogenannten guten Sitten, um Schönheit, um Sexualität sowieso – der Busen steht buchstäblich immer zur Debatte. So galt lange Zeit die bedeckte Brustwarze als Zeichen der Reinheit, wie auf Botticellis Gemälde der schaumgeborenen Venus. Wie sich Wahrnehmung und Bewertung dieses Körperteils über die Jahrhunderte wandeln, und dass die „Urteile“ fast immer von männlichen Personen gefällt werden, belegt Zimmermann mit vielen Beispielen aus Kunst, Geschichte und Ethnologie, aber auch mit aktuellen Werbekampagnen wie dem Launch eines Sport-BHs, der verschiedene Busenformen zeigte: undenkbar, dass ein Slip für Männer mit unterschiedlichen Penissen beworben würde. Die weibliche Brust sei ein „überdeterminierter Körperteil“, schreibt Zimmermann und wirbt erfrischend prosaisch dafür, den Busen von seinen vielen Aufgaben zu befreien und einfach mal hängen zu lassen. Christina Mohr
Anja Zimmermann „Brust. Geschichte eines politischen Körperteils“ ( Verlag Klaus Wagenbach, 272 S., 28 Euro )
Iowa
Im Frühjahr 2022 reist die Wiener Autorin Stefanie Sargnagel nach Iowa. Dort verbringt sie einige Monate an einem kleinen Liberal-Arts-College in der Provinz und gibt einen Kurs über Schreiben und Komik. Begleitet wird sie dabei von Indie-Ikone Christiane Rösinger und – im zweiten Teil ihrer Reise – von ihrer Mutter. Nun ist ihr Reisebericht über diese Zeit erschienen und der ist, wie man es von Sargnagel kennt, sehr lustig und politisch. Sargnagel schreibt über Debatten zu Cancel Culture an der Uni, Waffen im Supermarkt und die Trinker*innen in der örtlichen Bar. Einige Monate später wird das Recht auf Abtreibung in den USA eingeschränkt werden. All das beschreibt sie mit einem Realismus, der immer wieder ins Fantastische abdriftet. Sargnagels Blick auf die USA, auf den mittleren Westen, ist der eines Teenagers der 1990er- und frühen 2000er-Jahre, geprägt von Serien wie „Roseanne“ und „The Simpsons“, von traurigen Indiefilmen über sehnsüchtige Kleinstadtteens. Und so wird jede Tankstellenverkäuferin, jeder Truckerfahrer, der*die Sargnagel begegnet, zu einer popkulturellen Figur. Es ist aber auch ein Buch über das Altern als Subkultur-Slackerin, über Liebe als heterosexuelle Feministin und nicht zuletzt über eine generationsübergreifende feministische Freund*innenschaft. Anna Mayrhauser
Stefanie Sargnagel „Iowa. Ein Ausflug nach Amerika“ ( Rowohlt, 304 S., 20 Euro )
The Future
In dieser nahen Zukunft steht das Ende der Welt bevor. Die drei reichsten Menschen der Welt – alles Tech-Giganten, die auf lebende Personen anspielen – haben sich auf dieses Szenario vorbereitet. Sie haben bereits hoch technisierte Bunker gebaut, die dem Untergang standhalten sollen. Die Handlung dreht sich jedoch vielmehr um deren engen Kreis: die Assistentin, das nicht-binäre Kind, die Ehefrau und ein Mitgründer. Die vier verbünden sich heimlich, um die Machenschaften der Tech-Giganten zu sabotieren und den Untergang zumindest hinauszuzögern. Und dann gibt es noch die Journalistin Lai Zhen, Spezialistin auf dem Gebiet Survival. Die hongkongchinesisch-britisch-
amerikanische Lesbe verliebt sich in die Assistentin Martha und wird dadurch unfreiwillig in all diese Pläne mit reingezogen. Sie ist in dem Roman die am besten gezeichnete Figur, weil wir meistens ihrer Erzählung folgen. Die restlichen Figuren bleiben eher blass. In Naomi Aldermans „The Future“ geht es um große Themen: Kapitalismus, Klimakatastrophe, Pandemien, KI, Soziale Medien. Es wird viel erklärt und imaginiert. Stellenweise ist der Roman actionreich. Aber durch die fehlende Tiefe der Figuren und wenig Interaktion zwischen ihnen bleibt die Handlung auf einer distanzierten Ebene. Dadurch laden die guten Ideen, die das Buch hat, nicht zum Verhandeln ein. Tamara Marszalkowski
Naomi Alderman „The Future“ ( Aus dem Englischen von Barbara Ostrop. Heyne, 544 S., 24 Euro )
Identitätskrise
„Identitätskrise“ ist Alice Hasters zweites Buch nach „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen. Aber wissen sollten“ und widmet sich, wie der Titel bereits preisgibt, einer ähnlich aufwühlenden Thematik. Bedrückend und ohne Ausblick auf Hoffnung schreibt Hasters über die Krise, in der sich die „westliche Welt“ befindet. Warum der Westen selbst für seine identitäre Krise verantwortlich ist, was Identität, Krise und Westen eigentlich bedeuten und was Feminismus damit zu tun hat, erklärt die Autorin mit einem Touch von bissiger Ironie und trotzdem unverblümt ehrlich. Wer bereits fundiertes Wissen über die Wellen des Feminismus und die Zusammenhänge von Kapitalismus und Klassenkampf besitzt, wird in Hasters’ thematischer Einführung wenig Neues dazulernen, jedoch dafür die eigenen Befürchtungen für die Zukunft bestätigt bekommen. Bei einer Zusammenfassung der historischen Fehltritte, die auf eine unausweichliche Katastrophe zusteuern, bleibt es jedoch nicht – Hasters vergleicht den Umgang der Gesellschaft mit den unzähligen Krisen mit den Launen eines pubertierenden Teenagers und verarbeitet Gefühlsausbrüche in Mono- und Dialogen. Mit „Identitätskrise“ gibt Alice Hasters einen kompakten Crashkurs in Sachen Gesellschaftskrisen und lässt dabei Platz, um eigene Gedanken und Fragen zu formen. Ann Toma-Toader
Alice Hasters „Identitätskrise“ ( hanserblau, 213 S., 20 Euro )
Prima Facie
Tessa Ensler ist eine brillante junge Strafverteidigerin in London. Selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammend, mit einem gewalttätigen, abwesenden Vater, einer alleinerziehenden Mutter und einem immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geratenden Bruder, träumt sie davon, Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Ihr Beruf funktioniert für sie selbstverständlich nach dem „Taxistandprinzip“: Wer Beistand braucht, bekommt ihn von ihr. Ob reicher Privatkunde, verwirrter Kleinkrimineller oder Sexualstraftäter. Das Recht funktioniert dabei für sie wie ein ehrgeiziges Spiel: Wer die bessere Variante der Geschichte erzählt, überzeugt die Jury. Doch als ein sexueller Übergriff für sie auf einmal keine abstrakte juristische Angelegenheit mehr ist, wird ihr Leben und auch ihr Rechtsverständnis vollkommen auf den Kopf gestellt – und ein ganz anderer Kampf beginnt. Der von der britisch-australischen Exanwältin verfasste Roman, dessen lateinischer Titel so viel wie „auf den ersten Blick“ bedeutet, liest sich wie ein Buch, das auf eine Verfilmung schielt. Dabei ist es genau umgekehrt: „Prima Facie“ war zuerst ein überaus erfolgreiches Bühnenstück, dann Theaterstückverfilmung und nun von der Autorin selbst als Roman adaptiert. Leider geraten die Figurenzeichnungen und Antagonismen dabei stellenweise arg klischiert (die ungehobelte, aber liebevolle Underclass gegen die geschniegelte, moralisch korrupte Upperclass etc.) und die Sprache steckt voller Plattitüden. Trotzdem bleibt der Text ein packendes Plädoyer dafür, nicht die Opfer sexualisierter Gewalt infrage zu stellen, sondern stattdessen die Täter ins Kreuzverhör zu nehmen. Sonja Eismann
Suzie Miller „Prima Facie“ ( Aus dem Englischen von Katharina Martl. Kjona, 352 S., 25 Euro, VÖ: 29.01. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/24.