Musiktipps 01/24
Von MissyRedaktion

Barbara Morgenstern
„In anderem Licht“
( Staatsakt )
VÖ: 26.01.
Barbara Morgenstern war Ende der Neunziger eine feste Größe der deutschen Elektronikszene. Seit bald zwanzig Jahren widmet sie sich aber immer mehr orchestralen, choralen oder popmusikalischen Arrangements. Ihr neues Album „In anderem Licht“ stellt ihr Klavierspiel in den Fokus. Umzupft von Cello und Violine, Schlagzeug, Kontrabass und ab und zu einem warmen Saxofon oszillieren ihre neuen Kompositionen irgendwo zwischen Kammermusik und Jazz. „Der Wald wird lodern / Wenn der Tag beginnt“, sprechsingt Morgenstern dazu im Titelsong zu Streichern und hellen Klaviermotiven, die sich in warme Akkorde und orchestrale Passagen auflösen. Der Wille zur Veränderung bestimmt dabei die Texte dieses Albums. Tatsächlich ist es die Klimakatastrophe, die die Berliner Künstlerin inspiriert hat: „Alles wird so wie immer sein, nur in anderem Licht / Alles wird so wie immer sein, nur die alte Welt nicht.“ Auf der Suche nach Verbindung zu sich selbst und zur Welt erforscht Morgenstern Transformation und Gemeinschaft. Dabei weiß sie: „Wenn die Wut überhandnimmt, kommt der Mut ins Spiel und singt.“ Barbara Morgensterns elfte Platte erscheint als Doppelalbum – eine Sammlung wundervoll komponierter Stücke mit Hoffnung, wie wir sie dieser Tage selten erleben. Diviam Hoffmann

Mine
„Baum“
( Virgin )
VÖ: 02.02.
Von der Philharmonie auf den Dancefloor und zurück. Als das größte Wunderkind der nationalen Indie-Welt hat Mine von HipHop über Orchesterarrangements bis zum Songwriting für Danger Dans Erfolgsalbum schon gefühlt alles durchgespielt. Und dann gibt es auf „Baum“ in nur dreißig Minuten und 15 Songs plötzlich ein völlig neues Mine-Universum zu entdecken. Vom ekstatischen Hyperpop in „Nichts ist umsonst“ bis zum dramatischen „Schattig Intro“, gesungen vom Kieler Knabenchor, liegen in der Musikszene eigentlich Welten – hier nur ein paar Minuten. Statt Eindrucksoverkill bleibt „Baum“ jedoch immer formschön und geschmeidig. Gerade wischt man sich noch vom Mines verstorbener Mutter gewidmeten „Staub“ die Tränen aus den Augen, da zieht „Fesch“ mit Eighties-Synthies auf die Tanzfläche. Da verweilt die Platte dann länger, als Mine es je zuvor gewagt hat. Welche unfassbaren Klänge dort warten? Einfach mal Mines „Sweete Instrumente“-Rubrik bei Insta gönnen. Dort kann das überwältigende Ausmaß dieses – man kann es nicht anders nennen – Meisterwerks zumindest grob erahnt werden. Dazu kommen mit dem Zerfall des Selbst und der Welt im Ganzen die richtig großen Themen auf den Tisch. All das von einer Künstlerin, die singt: „Ich will nicht wissen, was da draußen passiert.“ Und damit die Virtuosität noch mit einer kompromisslosen Intimität mixt. Julia Köhler

Golden Diskó Ship
„Oval Sun Patch“
( Karaoke Kalk )
Sechs Songs – sechs Hits: Auf diesen kurzen Nenner lässt sich Theresa Stroetges’ fünftes Album unter ihrem Projektnamen Golden Diskó Ship bringen. Aber auch klar, so kurz greift zu kurz. Stroetges mag es ohnehin lieber ausufernd, die Tracks auf „Oval Sun Patch“ steigern sich vom knapp fünfminütigen Opener „Dolphins With Soft Helmets“ bis zum stolze zwölfeinhalb Minuten langen „Earth Before The Space Race“ am Schluss. Die Songs zeichnen sich durch Variation in Stimmung, Tempo und Instrumentierung aus, Stroetges nimmt sich Zeit und gibt ihren Stücken Raum für Entfaltung und Entwicklung. So schält sich bei einem Track aus dumpfem Wabern ein nervöser, frickeliger Jungle-Beat heraus, während der Anfang von „Well-Oiled Machine“ zunächst wie ein Remix von Nenas „Leuchtturm“ klingt, um dann von mächtigen Beats in eine elektronische Krautrock-Odyssee überführt zu werden. Pulsierende House- und Disco-Grooves, Westerngitarren, von arabischer Musik inspirierte Loops, knallige Technobeats und die eigene Stimme in immer wieder neuen Konstellationen vom Kanon mit sich selbst bis zum hymnischen Harmoniegesang: Stroetges probiert viel aus, behält aber immer den Überblick. Sie überlädt die Tracks nicht, sondern scheint ein Ziel vor Augen zu haben, das sich für die tanzenden Hörer*innen in einer imaginären, weit entfernten Sehnsuchtsinsel materialisiert. Doch mit slickem Cafe-Del-Mar-Sound hat das mutige Golden Diskó Ship nichts gemein – außer Fernweh und der Sehnsucht nach Sonne und Meer. Christina Mohr

Torres
„What An Enormous Room“
( Merge Records )
VÖ: 26.01.
Mackenzie Scott, besser bekannt als Torres, fügt der stetig wachsenden Diskografie ein neues Kapitel hinzu. Mit dem nun sechsten Langspieler verfolgt Torres damit weiter den bereits beschrittenen Weg: eingängige und doch unkonventionelle Songs. Nun ist Torres – trotz manch künstlerischer Inszenierung und des Spiels mit den Grenzen tradierter Geschlechterklischees – alles andere als ein Abbild des klassischen Rockstars. Mit einem Abschluss in Songwriting, multiinstrumentalem Talent und viel Bühnenerfahrung könnte Torres sicherlich mühelos Songs entwerfen, die Algorithmus und die großen Menschenmengen bewegen. Doch das Interessante und Liebenswerte an Torres ist eben genau das dezent Schräge und Unerwartete. Die Überzeugungskraft hinter den kleinen musikalischen Entscheidungen zeigt, dass Songs nicht der vorgegebenen Popstruktur folgen müssen, um zugänglich sein zu können und nachzuhallen. „What An Enormous Room“ bewegt sich dabei weiter weg von den klanglichen Ursprüngen von verzerrter E-Gitarre und druckvollem Gesang und wirkt trotz vermehrt elektronischer Einfärbungen von Synthesizern und Drummachine insgesamt ruhiger und weicher. Als Hörer*in möchte man sich gerne überzeugen lassen von der Weite dieses Raumes und vor allem der eigenen inneren Resonanz lauschen. Nicole Dannheisig

Douniah
„A Lot, Not Too Much“
( Melting Pot Music )
Mit einem Rauschen beginnt „A Lot, Not Too Much“, die neue EP der in Berlin lebenden Musikerin Douniah. Feine Pianotupfer, ein Bass und Synthesizer umspielen daraufhin, gemeinsam mit dem Rauschen des Wassers, die Stimme der Künstlerin, die in Marokko geboren wurde und in Deutschland aufwuchs. Im Intro trägt sie ein Gedicht vor, das sie in Darija geschrieben hat, dem marokkanischen Arabisch. Sie erzählt darin in Metaphern vom Schmerz der Generationen, den sie erlebt. „Dabei habe ich mir ein Stück Intimität gelassen, indem ich das in der Sprache geschrieben habe, in der ich diesen Generationsschmerz auch durchlebe.“ Nach weniger als zwei Minuten wird diese Introduction vom eingängigen „Sabah Al Noor“ abgelöst, in dem Douniahs Gesang an ätherischen R’n’B erinnert und Bass, Schlagzeug und helle Fender-Rhodes-Pianos ein warmes, jazziges Bett bereiten. Douniahs Gesang wechselt immer wieder zwischen Englisch, Arabisch und auf einem Stück sogar Deutsch. Verschiedene Komponist*innen haben sie bei der Produktion dieser sieben Stücke unterstützt, die auch von einem Film begleitet werden. Darin erlebt man Douniah in der Nähe des Elements, das für sie ein Erinnerungs- und Heimatort ist: das Wasser, das ihr auch auf „A Lot, Not Too Much“ immer wieder Erinnerungen zuspült und hilft, ihre Gedanken in wunderschöne Musik zu übersetzen. Diviam Hoffmann

The Last Dinner Party
„Prelude To Ecstasy“
( Universal )
VÖ: 02.02.
Donner und Doria – was haben The Last Dinner Party mit ihrer ersten Single für einen Start hingelegt?! Schon wochenlang ging ein Raunen durch die Indie-Szene, ein Raunen, das diese brandneue Band lobpreiste und die Erwartungen schürte. Durch viele, teilweise exklusive Liveshows haben sich die fünf jungen Frauen bereits ein passioniertes Publikum erspielt, das die gewaltigen Arrangements ersehnt, die sich auf dem Debütalbum „Prelude To Ecstasy“ aneinanderreihen. Schon die Eröffnung, ein klassisches Stück, das im wahrsten Sinne des Wortes mit Pauken und Trompeten auffährt, macht deutlich, in was für einer Liga diese Band mitspielen möchte. Es lassen sich immer wieder klassische Einflüsse erkennen: Die Chorpassagen in „Beautiful Boy“ und „Gjuha“, die mit einem dunklen Kontrapunkt unterlegt sind, hätte auch Bach nicht göttlicher schreiben können. Dabei sind die Lyrics durchtränkt von junger, weiblicher Empörung. Das Album steckt voller großer Gesten, kein Wunder – denn die Band rangiert zwischen dem glamourösen Rock der frühen Achtziger, barocker Opulenz und dem hedonistischen Leitmotiv der Völlerei, das schon im Namen verborgen ist. Wenngleich die Singles „Sinner“ und „Nothing Matters“ mit poppigen Hooks aufwarten, so ist dieses Album in Gänze doch ein fast operngleiches Experiment, das auf diese Weise lange nicht mehr gewagt wurde. Rosalie Ernst

Sleater-Kinney
„Little Rope“
( Concord )
Trauer. Ein privates Gefühl und gleichzeitig ein mittlerweile kollektiver Zustand. Wie gehen wir damit um? Was bleibt, wenn uns Menschen entrissen werden, wenn wir plötzlich unseren Halt verlieren, wenn wir alleine dastehen mit all dieser Wucht des Verlusts? Sleater-Kinney, genauer Carrie Brownstein, fand sich genau an diesem Punkt, als Corin Tucker ihrer Bandkollegin und Freundin via Telefon vom tragischen Unfall ihrer Mutter und ihres Stiefvaters berichten musste. Brownstein tat, was sie am besten kann, was ihr vertraut war und was ihr Sinn gab: Sie spielte Gitarre. Nach einiger Zeit gingen sie und Tucker ins Studio und schrieben Songs, versuchten, den Schmerz zu verarbeiten. Herausgekommen ist „Little Rope“, ein Album, dessen zehn Songs teilweise so ins Mark gehen, dass es eine*n förmlich zerreißt. Der Opener „Hell“ beginnt langsam und bricht dann wie eine Welle über einer*m zusammen, die Zeile „Hell is just a place that we can’t seem to live without“ setzt sich fest, genauso wie „The thing you fear the most will hunt you down“ in „Hunt You Down“ oder „Give me a reason, give me a remedy (…) give me a memory, give me a new word for the old pain inside of me“ in „Dress Yourself“. Die Einsamkeit, die Verletzlichkeit sind roh, sie sind greifbar und ziehen sich durch dieses Album, das zwar keine Antworten auf die Fragen gibt, aber die Möglichkeit bietet, sie anzunehmen und zu fühlen. Avan Weis

Tränen
„Haare eines Hundes“
( Eklat Tonträger / Warner )
Zum Weinen ist das Debüt des Chemnitzers Indie-Pop-Duos bestimmt nicht. Eher laden Banger wie „Mitten ins Gesicht“, „Stures Dummes Herz“ und „Es ist nicht, wie es aussieht“ dazu ein, die Anlage laut aufzudrehen, um durchs Wohnzimmer zu tanzen. Kaum zu glauben, dass die Wurzel dieses Duos ein Versprecher ist: So betonte Steffen Israel (Gitarrist, Teil der Band Kraftklub) im eigenen Podcast den Künstler*innennamen von Sängerin Gwen Dolyn falsch. Sie korrigierte das Missgeschick via DM und so entstand ein Gespräch über die gemeinsame Liebe zu Punk: Schnell war die Idee geboren, „Duell der Letzten“ der Band Chaos Z zu covern. Doch die Umsetzung fiel schwerer als gedacht. Die Lösung: andere Songs aufnehmen! Jetzt ist es ein ganzes Album mit Texten von Gwen Dolyn rund um Schmerz, Gesellschaftskritik, Konkurrenzdenken und Wachsamkeit vor Übergriffen geworden: „Ich lerne schießen, weil ich ohne Waffe Angst hab“. Aber „Haare eines Hundes“ ist auch eine Reise: vom Schmerz zur Selbstbestimmung. Von Neumond zu Vollmond inklusive Werwolfsverwandlung. Herausgekommen ist Tränen, die beste Fügung, die dem deutschen Indie-Pop passieren konnte – ein neuer Sound mit Einflüssen der Neuen Deutschen Welle und mit Songtexten, die eine*n da treffen, wo es am meisten weh tut: mitten im Herz. Tamara Keller

Mary Ocher
„Approaching Singularity:
Music For The End Of Time“
( Underground Institute )
Absätze knallen aufs Trottoir. Kirchenglocken läuten, ein Orchester probt. So beginnt Mary Ochers sechstes Album, eine Kollektion aus Interludes, Samplergedöns, Klavier, Krautrock, Kollaborationen. Und Techno! Nicht kalt, sondern cozy, denn alles, was Ocher schafft, strahlt Wärme und Verbindlichkeit aus. Seit ihrer letzten Platte „The West Against The People“ aus 2017 reicht Ocher Essays zum Werk. Der neue verrät sogleich, wovon das Album handelt: „von der Zerstörung unseres Planeten, dem anhaltenden Auftreten totalitärer Regime und den radikalen technologischen Entwicklungen, denen wir uns nicht mehr entziehen können, bis hin zum Stillstand der Musikwelt, dem Tod meines Vaters und dem Altern“. Eindrucksvoll ist das schwere, von Kriegsgräueln handelnde „Zone“ mit Mogwais Barry Burns. „Is Life Possible“ bezieht sich auf Judith Butlers „Undoing Gender“ und erstaunt mit Ochers runtergedimmter Stimme. Eher Pop ist „Love Is Not A Place“: Vor Bordun-Ton tönen leiernde Keys, dazu singt Ocher über ihre Abneigung gegen „Vaterlandsliebe“. Sie, in Russland geboren und in Israel aufgewachsen, fand erst 2007 in Berlin ihr Zuhause: „Ich habe den Nahen Osten verlassen, weil dort kein Platz für Leute wie mich war“, erzählte sie der „taz“. Ihr neues Album lässt eine*n in den Weltuntergang tanzen, aber auch auf Weltfrieden hoffen, von dem Mary Ocher seit ihrer Kindheit träumt. Barbara Schulz

Montañera
„A Flor De Piel“
( Western Vinyl )
Wenn ich mir vorstelle, wie sich Musik anhört, die auf zarten, bauchigen Blumen wie Schnee- und Maiglöckchen gespielt wird, dann wäre das Album „A Flor De Piel“ wohl die perfekte Antwort. Die Klänge auf der Platte sind voller Kontraste. Gegen Synthesizer, die wie ein sanftes Rauschen des Windes erscheinen, setzt Maria Monica Gutierrez alias Montañera harte Geräusche. Verfeinert wird diese Klangwelt mit den zartesten Perkussions, so zart, dass sie eben von einer Blüte kommen könnten. Montañera verarbeitet auf dem Album ihren Umzug von Bogotá nach London, mixt die Einflüsse und Eindrücke zwischen Heimweh und Fremde und baut eine auditive Brücke zwischen den beiden 8500 Kilometer voneinander entfernt liegenden Metropolen. Auf neun Tracks etabliert die junge Musikerin einen einzigartigen Sound, der ständig zwischen Assoziationen unberührter Natur und großstädtischem Wahn oszilliert. Neben zahlreichen Synthesizern, Drumcomputern und einem vielfältigen Soundbett ist das Album geprägt von traditioneller kolumbianischer, aber auch senegalesischer Musik. So hört man z. B. die feinen Klänge einer Marimba und den starken Gesang des Chors Las Cantadoras de Yerba Buena aus Tumaco. Im Kontrast dazu steht die viel weichere Stimme von Montañera. Sie verleiht den Arrangements dabei einen besonderen Feinschliff und so geht von jedem Titel eine intensive innere Stärke und Sicherheit aus, die „A Flor De Piel“ zu einem ganz besonderen Album machen. Rosalie Ernst
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/24.