Hä, was heißt denn Whataboutism?
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In Talkshows oder den Sozialen Medien, bei Diskussionen am Arbeitsplatz oder in der Kneipe – wahrscheinlich hast du Whataboutism schon häufig beobachtet oder selbst erlebt. Du argumentierst in einer Diskussion und dein*e Gesprächspartner*in weicht dir mit einer Gegenfrage aus, die den Fokus auf ein ganz anderes Thema lenkt: „Aber was ist mit …?“ („What about …?“).
Dieses Argumentationsmuster wird „Whataboutism“ genannt und beschreibt im Wesentlichen eine rhetorische Ablenkungstaktik, die laut dem Journalisten Edward Lucas schon im Kalten Krieg von der Sowjetunion genutzt wurde, um Kritik an Menschenrechtsverletzungen zu umgehen. In Gesprächen wird auf Whataboutism zurückgegriffen, um von unliebsamen Themen oder fehlenden Gegenargumenten abzulenken, nicht zustimmen zu müssen oder die eigene Unwissenheit zu verstecken. Und zwar, indem eine Gegenfrage bzw. ein Gegenargument in den Raum gestellt wird, die bzw. das nur entfernt mit dem eigentlichen Thema zu tun hat.
Besonders populär ist dieses Argumentationsmuster in politischen Diskussionen und Wahlkämpfen. Donald Trump ist wohl einer der bekanntesten Nutzer des Whataboutism. In seinem Wahlkampf 2016 ließ er jede Kritik an sich abperlen und attackierte stattdessen Hillary Clinton. In Erinnerung blieben den Wähler*innen nicht die unzähligen Skandale Trumps, sondern die durch Trump geprägte Bezeichnung „Crooked Hillary“ – die unehrliche Hillary. In Debatten, die sich um strukturelle Gewalt gegen Frauen drehen, betreiben Männer manchmal Whataboutism, um die Diskussion zu torpedieren: „Klar, Gewalt gegen Frauen ist schlimm! Aber was ist mit Gewalt gegen Männer?“
In Deutschland waren 2021 laut der binär erfassten Statistiken des Bundeskriminalamts 80,3 Prozent der Opfer von Gewalt in Partner*innenschaften weiblich und 78,8 Prozent der Täter*innen männlich. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau durch ihren (Ex-)Partner umgebracht. Dass auch Männer Gewalt erleben, ist nicht zu verharmlosen, doch bei einer Debatte um strukturelle Gewalt gegen Frauen ist das einfach nicht das Thema.
Doch nicht nur Whataboutism, sondern auch der Vorwurf des Whataboutism kann als manipulative und abwertende Gesprächstaktik verwendet werden. In einer Diskussion über strukturelle Gewalt gegen Frauen kann es z. B. hilfreich sein, auch über weitere Formen von patriarchaler Gewalt zu sprechen, wie bspw. Gewalt gegenüber queeren Menschen. Indem der*die Gesprächspartner*in in diesem Fall des Whataboutism beschuldigt wird, wird verhindert, dass das Thema in einen größeren Kontext gesetzt wird. Denn solange es nicht der Ablenkung dient, sondern die Diskussion voranbringt, handelt es sich nicht um Whataboutism.
Wer Whataboutism betreibt, hat – selbst bei korrekten Fakten – nicht das Ziel, die Diskussion voranzubringen und mögliche Lösungen zu diskutieren, sondern möchte schlicht vom Thema ablenken und Gesprächspartner*innen aus der Fassung bringen. Dagegen hilft nur, Whataboutism als Argumentationsmuster zu erkennen und zu benennen, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen. Lina Urbat
Dieser Text erschien zuerst in Missy 02/24.