Glänzende Aussicht


Immer wieder rattern die Züge entlang der Baracken und erschüttern die Wände. Auf engstem Raum wohnen die Eltern mit ihren Kindern: sieben Söhne und zwei Töchter, deren Leben von patriarchalen Strukturen, Armut und Gewalt geprägt sind. Ein in jungen Jahren verstorbener Sohn schwebt wie der allwissende Erzähler über der Familie und berichtet lakonisch von den Schicksalen seiner Geschwister. Ihr Vater verachtet sie – und zwar ganz unabhängig davon, ob sie in seine proletarischen Fußstapfen treten oder sich durch Bildung und Beziehungen hocharbeiten. Die Schriftstellerin Fang Fang wirft einen empathischen, aber nicht beschönigenden Blick auf ihre Protagonist*innen, die sich in den turbulenten Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren zurechtfinden müssen. Nah ist sich niemand in diesem Roman, der Fang Fang in China zum Durchbruch verhalf und als „neuer Realismus“ gefeiert wurde. Doch obwohl „Glänzende Aussicht“ in China bereits 1987 erschien, erhielt die Autorin hierzulande erst durch ihr 2020 veröffentlichtes Covid-Tagebuch aus Wuhan größere Aufmerksamkeit. Seitdem werden auch andere Werke von ihr ins Deutsche übersetzt – und das ist ein Geschenk für all jene, die gerne über diese kunstvoll eingefangene Vergänglichkeit der menschlichen Existenz lesen: „Das Leben war ein Ameisendasein, der Tod wie ein Staubkorn.“ Merle Groneweg

Fang Fang „Glänzende Aussicht“ ( Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann & Campe, 176 S., 24 Euro )

Klarkommen


„Wir waren zu schwach für Punk und zu arrogant für den Rest“, so beschreibt die namenlose Erzählerin sich und ihre Freund*innen Mounia und Leon. Keine rebellischen Teenagerjahre, eigentlich nur ein Warten. Die Erzählerin ist lieber Fan – von Musik, von coolen Leuten, aber sonst von nichts. Das Trio entflieht der Kleinstadtidylle, die eigentlich keine ist, weil die Scheidungskinder im Jahrgang die Überzahl haben. „Provinzbeklemmung“ hin oder her, in der großen Stadt passiert dann auch wieder wenig, es werden nur viele Konzerte besucht, wie man es heutzutage eigentlich schon gar nicht mehr so richtig fühlt. Immer begleitet vom unterschwelligen Gedanken, eine*r der drei könnte sich in wen verlieben oder eben nicht. Während Ilona Hartmanns Debütroman „Land in Sicht“ einen dichten Plot rund um ein Tochter-Vater-Kennenlernen verfolgte, ist „Klarkommen“ in kurze Abschnitte, Anekdoten, Erinnerungen unterteilt. Die Beschreibungen der Autorin, 1990 geboren, sind äußerst zugänglich – da ist das pollenverstaubte Auto ein Denkmal einer Neunzigerjahre-Kindheit, die so wohl nicht reproduzierbar sein wird. Es bleibt die Erkenntnis, dass die Bücher, Filme, Songs und Serien –sogar Kinderbücher – einen Entwurf eines wilden, aufregenden Lebens zeigen, das dann doch die wenigsten haben. So was von relatable. Simone Bauer

Ilona Hartmann „Klarkommen“ (Ullstein, 192 S., 22 Euro )

Die Verletzlichen


Jeden Tag wandert die Hauptfigur des neuen Romans von Sigrid Nunez durch Manhattan, wir befinden uns im ersten Lockdown. Diese Frau, eine Schriftstellerin, hütet das riesige Appartement und den Papagei einer Freundin, irgendwann gesellt sich der Sohn entfernter Bekannter dazu. Weil sie ihn zunächst nicht mag, ist sie viel draußen – bis ihr eines Tages ein Fahrradfahrer mit voller Absicht ins Gesicht hustet. „Die Verletzlichen“, der Titel des Buches, spielt auf die von Covid bedrohten „vulnerablen“ Bevölkerungsgruppen an, zu denen sie, zumindest vom Alter her, gehört. In diesem Roman geht es aber nicht nur um die Pandemie – die Erzählerin reflektiert unterschiedliche Formen der Fragilität, erinnert sich an gemobbte Schulkinder, essgestörte, eigensinnige Freundinnen, einen #MeToo-Fall oder eine plötzlich Verstorbene. Außerdem kreist der Roman – da wäre ja noch der Papagei – um ein eingesperrtes Tier, seinen Charme und sein Leid. Sigrid Nunez wurde mit ihrem Bestseller „Der Freund“ weltbekannt, in dem es um eine Dogge ging. Sie schrieb aber z. B. auch über ihre deutsche Mutter und ihren chinesisch-panamaischen Vater oder über Susan Sontag, deren Assistentin sie war. Nunez’ Bücher sind assoziative, vielschichtige Reflexionen, nicht zuletzt über das Schreiben selbst. Auch „Die Verletzlichen“ ist unkonventionell, anspruchsvoll, nachdenklich. Und der Roman klingt – besonders auch wegen Nunez’ trockenem Humor –, als würde sie bei einem Kaffee oder Drink mit uns plaudern. Sabine Rohlf

Sigrid Nunez „Die Verletzlichen“ (Aus dem Englischen von Annette Grube. Aufbau, 224 S., 22 Euro)

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht


In ihrem Debütroman schaut Julia Jost in die Abgründe einer Kärntner Dorfgemeinschaft – wortwörtlich, denn eines Tages fällt der siebenjährige Franzi beim Spielen in den Brunnen und wird tot geborgen. Oder wurde er von den anderen Kindern hineingeworfen? Und wie kam das Messer von Ludwigs Vater in seinen Bauch? Stück für Stück, Figur für Figur tauchen wir durch die Erzählfigur tiefer in die Verwicklungen rund um den elterlichen Hof hinab. Während die Mutter sich mit teuren Möbeln etwas Bürgerlichkeit erkaufen will, steigt der Vater in Geschäfte mit rechten Politikern ein und versucht so den gesellschaftlichen Aufstieg. Der Blick in die Gemeinschaft und deren Geschichte ist schonungslos. Nazi-Anekdoten am Stammtisch gesellen sich zu Missbrauch in der Kirche. Kinder imitieren die Gewalt ihrer Eltern. Queeres Begehren wird im Keim erstickt. Festhalten kann man sich jedoch auch an Momenten von Lust, Freund*innenschaft, Widerstand. Besonders die Annäherung von dem*r Erzähler*in und deren Freundin Luca fädelt sich mutig und trotz aller Gegenwehr durch die Geschichte. Jost gelingt ein Roman, dessen Kraft in der konstanten Spannung liegt, zwischen präziser Beobachtung und Uneindeutigem, zwischen kindlicher Neugier und Schockstarre, zwischen äußerem Schein und innerem Kampf. Franzis Kabisch

Julia Jost „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ ( Suhrkamp, 231 S., 24 Euro )

Ich stelle mich schlafend


Fight, flight, or freeze – diese drei Reaktionen auf Gefahrensituationen, also kämpfen, fliehen oder erstarren, sind gemeinhin bekannt. Yasemin, Protagonistin in Deniz Ohdes „Ich stelle mich schlafend“, kennt noch eine weitere: fawn, also betont freundlich, devot und einschmeichelnd zu sein, um so einer potenziellen Bedrohung zu entgehen. Wie oft hat sie nachgegeben, das „Nein“ in ein passives Ertragen gewandelt? Aus Mitleid mit jemandem geschlafen? Yasemin wächst in einer Hochhaussiedlung auf, mit nicht einmal 14 verliebt sie sich in den 17-jährigen Vito, hält ihn für die große Liebe. Wie er sie behandelt, ist dabei zweitrangig – Yasemin, deren Empfängnis bereits ein „Willensbruch“ war, wie sie es formuliert, glaubt nicht, wahre Zuneigung zu verdienen. Fast schon zwangsläufig, was viele Jahre später geschieht: Als erwachsene Frau lässt sich Yasemin wieder auf Vito ein. Ein Fehler. In ihrem zweiten Roman widmet sich Deniz Ohde der Macht von toxischen Beziehungen, Abhängigkeitsverhältnissen und den individuellen Folgen patriarchaler Gewalt. Sie bleibt dabei sehr nah bei ihrer Protagonistin, deren Leben wir gut zwei Jahrzehnte verfolgen. Stellenweise wünscht man sich, zumindest zu Beginn wäre Yasemins Faszination von dem abstoßenden Vito einleuchtender geschildert. Aber genau das ist auch der Knackpunkt: Von außen sind diese Beziehungen kaum nachzuvollziehen. Isabella Caldart

Deniz Ohde „Ich stelle mich schlafend“ ( Suhrkamp, 248 S., 25 Euro )

Hexen


„Was ist eine Hexe?“ Mit dieser vermeintlich einfachen und doch sehr komplexen Frage beginnt und endet das Buch von Marion Gibson. Zwischen der Anfangsfrage und dem Versuch einer Antwort finden sich auf knapp 450 Seiten verteilt 13 Hexenprozesse, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Dafür hat Gibson nicht nur einfach Prozessakten verschriftlicht, sondern sich bemüht, die jeweiligen Angeklagten zu porträtieren, Hintergründe zu recherchieren und ihre Leben bzw. die Gründe, warum sie als „Hexen“ beschuldigt wurden, zu analysieren. Es wird kaum verwundern, dass es in der Regel mächtige weiße cis Männer waren, die hauptsächlich Frauen, queere Menschen und Indigene anklagten, um ihre Macht zu demonstrieren und zu behalten. Und auch wenn es den Anschein hatte, dass der Vorwurf der „Hexerei“ im 18. Jahrhundert verschwindet, so tat er das nur vermeintlich. Gibson schildert deswegen auch Fälle, die im 20. Jahrhundert und im Jetzt stattfanden und -finden, und widmet sich ebenfalls den „Witch Hunts“, die in den letzten Jahren die Titelblätter zierten. Die Literatur zum Thema „Hexen“ ist vielfältig, doch dieses Werk ist eines der wenigen, das in diesem Zusammenhang gekonnt die Verknüpfung von Misogynie, Rassismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit aufzeigt. Avan Weis

Marion Gibson „Hexen. Eine Weltgeschichte in 13 Prozessen vom Mittelalter bis heute“ ( Aus dem Englischen von Karin Schuler und Thomas Stauder. Aufbau, 448 S., 19,99 Euro )

Paare. Eine Liebesgeschichte


Die namenlose Ich-Erzählerin ist ganz zufrieden mit ihrem Leben: Sie lebt in einer Langzeitbeziehung mit ihrem Freund und einer Katze in Brooklyn, ist Dichterin und 28 Jahre alt. Bis sie ihrem Begehren, mit einer Frau zu schlafen, nachgeht. In einer Bar trifft sie sich, zunächst platonisch, mit einer Lektorin. Schon das zweite Treffen mündet in einem klischeehaften lesbischen 48-Stunden-Date. Sie verlieben sich ineinander, die Dichterin verlässt ihren Freund, nur um zu merken, dass sie auch an der Seite ihrer neuen Freundin leidet. So simpel die Story ist, wird sie durch die Form besonders spannend. Das Buch ist in vier längere Kapitel mit kurzen, durchnummerierten Abschnitten aufgeteilt. Überwiegend sind es Gedichte der Ich-Erzählerin in Doppelversen – in Paaren, wenn man so will. Zwischendrin gibt es prosaischere Fragmente, in denen die Protagonistin per Du angesprochen wird. Beeindruckend ist besonders die Übersetzung: Eva Bonné ist es wunderbar gelungen, die zeitgenössische, von Popkultur geprägte Sprache des Originals mit seinen witzigen Reimen ins Deutsche zu bringen. „Paare“ ist ein Porträt moderner Beziehungstroubles als Langgedicht, das gleichermaßen poetisch, berührend, humorvoll und sexy ist. Hengameh Yaghoobifarah

Maggie Millner „Paare. Eine Liebesgeschichte“ ( Aus dem Englischen von Eva Bonné. Klett-Cotta, 120 S., 20 Euro )

Yellowface


Athena Liu wird mit Lob, Geld und Literaturpreisen überhäuft, während der Erstling ihrer Unifreundin June Hayward floppt. Niemand interessiere sich, meint June, für die Texte einer Weißen, während Athena und ihre chinesisch-amerikanischen Stoffe perfekt ins aktuelle Beuteschema der Verlage passen würden. Und so greift sie zu, als ihre gefeierte Kollegin bei einem Pancake-Wettessen erstickt: Sie klaut ein unveröffentlichtes Manuskript und stürmt damit die Bestsellerlisten. Auf Anraten ihres Verlags nennt sie sich nun Juniper Song. Das klingt ein bisschen chinesisch. Was für ein Plot. Ersonnen hat ihn Rebecca F. Kuang, die mit 27 Jahren bereits fünf Bestseller veröffentlicht hat und außerdem gerade in Yale promoviert. Überfliegerin Athena ähnelt ihr sehr, Kuang erzählt indes aus Junes Perspektive. Wir sind nah dran, wenn die Romandiebin mit ihrem Gewissen, ihrem Ehrgeiz, ihrer Angst aufzufliegen und einem Shitstorm ringt. Wir lesen aber auch, dass die tote Athena nicht ganz so nett und perfekt war, wie ihre Fans denken. „Yellowface“ erzählt rasant und sehr unterhaltsam von Gier, Kreativität, Rassismus. In den USA und im UK ist der Roman längst ein Bestseller. Sein Cover, das kein Gesicht, sondern eine gelbe Fläche zeigt, hinter der alles außer zwei Augen verschwindet – so beschreibt Kuang selbst es auf ihrer Website –,passt perfekt zum satirischen Page-Turner über einen Literaturbetrieb, der Differenz propagiert, aber Stereotypen vermarktet. Sabine Rohlf

Rebecca F. Kuang „Yellowface“ ( Aus dem Englischen von Jasmin Humburg. Eichborn, 383 S., 24 Euro )

A wie Ada


„Es gibt niemanden auf der Welt, der Ada kennt. Trotzdem erkennen sie Ada auf der Straße.“ Mit einfachen, gleichzeitig aussagekräftigen Sätzen wie diesen öffnet uns Dilek Güngör Türen ins Innenleben ihrer Protagonistin. Eingebettet in anekdotenhaften Erzählungen, angefangen im Kindergarten, begleiten wir Ada in ihre Welt des „Ich und die anderen“. Mithilfe messerscharfer Beobachtungen vergleicht sie ihre deutschen Freund*innen und deren Eltern mit ihrer türkischen Familie. Durch dieses oftmals witzige Kommentieren vom Seitenstreifen aus erfahren wir vom einsamen Inseldasein, das Ada mit sich führt, obgleich sie stets umgeben von Menschen ist. Güngör greift in ihren bisherigen Werken immer wieder Themen der Identität und des „Clashs“ der deutschen und türkischen Kultur auf, bspw. in ihrem 2021 für den deutschen Buchpreis nominierten Roman „Vater und ich“. Statt einer klassisch chronologischen Erzählstruktur arbeitet die Autorin mit Episoden aus verschiedenen Zeiträumen mit Titeln wie „Rec und Play“ oder „Die Tanten“. So offenbaren sie uns kaleidoskopartig Adas tief sitzende Ängste und Sehnsüchte. Ada verkörpert den Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die ihr immer wieder das Gefühl gibt, anders zu sein; gleichzeitig weigert sie sich, mögen zu müssen, was von ihr erwartet wird. Carina Scherer

Dilek Güngör „A wie Ada“ ( Verbrecher, 112 S., 20 Euro )

Splitter


Splitter aus Erinnerungen, Reflexionen und Geschichten vereint Leslie Jamison in ihrem neuen Buch. Eindringende Fremdkörper, die sich schmerzhaft unter die Haut schieben. Kleine Bruchstücke, die in ihrer Aneinanderreihung ein Bild von ihr zeichnen. Das ihrer alleinerziehenden Mutterschaft, das der Autorin und Dozentin, das der Ehe- und dann Exfrau, das der Liebhaberin und auch das der Tochter. Mit schonungsloser Offenheit stellt sie sich ihren Gefühlen und Erinnerungen, erzählt von dem kräftezehrenden Hin und Her ihrer beiden Ichs, der Rolle als Mutter und als berufstätige Frau. Wie sie beiden nicht wirklich gerecht werden kann, ganz gleich wie sehr sie es versucht. „Milch“, „Rauch“, „Fieber“. Diese drei Überschriften gibt Jamison ihren Kapiteln, die frisch nach der Trennung von ihrem Mann und dem Umzug mit ihrer 13-monatigen Tochter in eine kleine Wohnung einsetzen und mit der Isolation während der Corona-Pandemie ein Jahr später enden. Jamison widmet sich erneut ihren Kernthemen Gefühl und Selbstreflexion. Doch dieses Mal nimmt sie ausschließlich sich selbst in den Blick, schreibt über die Liebe zu ihrem Mann und deren Abhandenkommen, erforscht ihren Trennungsschmerz. Dabei kommt man ihr so nah, dass sich ihre Splitter zuweilen wie eigene anfühlen. Nicole Hoffmann

Leslie Jamison „Splitter“ ( Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Claassen, 304 S., 23 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/24.