Discovery Zone
„Quantum Web“
( Mansions and Millions )

Engelsgleicher Hall eröffnet das zweite Album von Discovery Zone – „Supernatural“, erklären verzerrte Stimmen direkt im ersten Song auf „Quantum Web“. Hier ist Metaphysik am Start, es spukt hinter den lieblichen Klängen. Die Harmonien werden von Dissonanzen, die Sphären durch Rhythmen, der Mensch durch Maschinen ersetzt. Wäre das zweite Album von JJ Weihl ein Lebewesen, wäre es ein Cyborg. Die in New York geborene und in Berlin lebende Multimediakünstlerin wurde als Mitglied der Art-Rock-Band Fenster bekannt. Mit ihrem experimentellen Pop-Projekt Discovery Zone sorgte sie schon auf ihrem Debüt „Remote Control“ vor vier Jahren für Enthusiasmus unter Musiknerds. Es ist diese Mischung aus Eighties-Nostalgie und abstraktem, artsy Experiment, das Zuhörende zwischen Kindheitserinnerung und Zukunftsvisionen hin und her schmeißt. Passagen, die an Pink Floyd, The XX oder MGMT erinnern, wechseln sich ab mit synthetischen Computertönen. Ihre eigene Stimme wird durch KI-Text-zu-Sprache abgelöst. JJ Weihl selbst bezeichnet ihr neues Album als nächste evolutionäre Phase – eine Anordnung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für sie ist „Quantum Web“ Ausdruck unendlicher Verbindungen, das Word Wide Web, das unsichtbare Netz der persönlichen Lügen – jene Falle, in die wir freiwillig tappen.  Laura Helene May

toechter 
„epic wonder“
( Morr )

Klassik oder Pop, Elektro oder Experimental – wer hat eigentlich behauptet, man müsse sich entscheiden? toechter, ein genre-bending Trio aus Deutschland und Dänemark jedenfalls, sträubt sich gegen jegliche Einordnung. Zwischenräume werden erkundet, die sich mal im weiten Raum bewegen und mal ganz nah erscheinen. Und wie klingt das Ganze dann? Katrine, Lisa Marie und Marie-Claire nutzen Streichinstrumente und ihre Stimmen, die sie bearbeiten, verdrehen, manipulieren und layern, um schließlich einen luftig-leichten Klang von Unterwasserwelten, Waldlichtungen oder Märchenwelten zu erschaffen. Fülle ergänzt sich mit einer diffusen Ferne, auf die man projizieren und sich in den Sound des Trios hineinträumen kann. 2022 wurde das Debütalbum „Zephyr“ veröffentlicht und nun erscheint mit „Epic Wonder“ eine würdige Nachfolgerplatte, die vom Verbundensein erzählt, vom Verbundensein in der Tierwelt, der Pflanzenwelt, von Pilzen, Felsen, Ozeanen, Planeten und Menschen. Dabei gibt es Songs wie „Melting Into The Green“, der an Sonnenstrahlen, die durch grüne Blätter scheinen, erinnert. „Celestine“ klingt, als hätte sich ein Klassikkonzert beim Tanzen in einen Beat verliebt, und „Sea Of Serenity“ hat den Sound eines traurigen Weltmeeres. Der Mut zum Experimentieren ist toechters größte Stärke und manchmal auch Schwäche. So ist ihr neues Werk stellenweise eher Soundtrack als Protagonist und die Diversität der verschiedenen Songs kann stellenweise auch verwirren. Trotzdem macht „Epic Wonder“ stets irgendwie Sinn in seiner Wildheit und Experimentierfreude. Am Ende sind die Songs miteinander zu einem Album verbunden und definieren so eine ganz eigene, frische und neue Klangwelt. Vanessa Sonnenfroh

El Perro Del Mar
„Big Anonymous“
( City Slang )

„Big Anonymous“ – so der Titel des neuen Albums von El Perro Del Mar, einem Projekt der schwedischen Künstlerin Sarah Assbring. Mit dem „großen Unbekannten“ im Titel ist kein geringerer als der Tod gemeint. Uff, starker Tobak für die Künstlerin, der in den frühen 2000ern mit ihrer poppigen, Sixties-angehauchten Musik eine Nähe zu Burt Bacharach attestiert wurde. Sie stand damals mit Lykke Li, José Gonzáles und TV On The Radio auf der Bühne, wurde aber nie  ein ganz großer Name der schwedischen Er folgswelle. Es ist viel passiert, Arbeiten fürs Theater, verschiedene Alben – und das Werk von Assbring ist deeper und darker geworden. Todesfälle in der Familie, ihre Trauer, die einfach nicht vergeht, die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit führten zur Auseinandersetzung mit dem Tod in verschiedenen Kulturen. Assbring nähert sich dem Thema mit melancholischen Tönen wie etwa im Titel „In Silence“. „Big Anonymous“ besticht dabei durch ein minimales Setup mit Drum-Maschine, analogen Synthesizern und Gesang, der mit verschiedenen Effekten bearbeitet wurde: Die Atmosphäre erinnert an Unterwelt. Alles führt zum großen Finale des Albums: „Kiss Of Death“, ein Track wie Filmmusik – zum großen Film über Leben und Tod von Sarah Assbring. Düster und dennoch rhythmisch! Michaela Drenovaković

Julia Holter
„Something In The Room She Moves“ 
( Domino Records ) VÖ: 22.03.

Dass der Titel von Julia Holters neuem Album an „Something“ von den Beatles denken lässt, ist volle Absicht. Die 1984 in Los Angeles geborene Musikerin ist seit ihrer Kindheit Beatles-Fan, will ihre Zeile aber nicht als Hommage, sondern als Erweiterung verstanden wissen. Bei Holter wird „she“ vom bewunderten Objekt zur aktiven Person, das Motiv der Bewegung zieht sich durch das ganze Album. Die erste Single „Spinning“, die Holter nach der Lektüre eines Essays der feministischen Autorin Hélène Cixous komponierte, scheint in unermüdlichem Walzertakt immer weiter voranzuschreiten, andere Stücke wie „Ocean“ oder „Evening Mood“ wirken fluide und ungreifbar – sie möge es, wenn Musik mäandert, so Holter, die auf ihrer sechsten Platte einschneidende Erlebnisse wie den Tod ihres Neffen und die Geburt ihrer Tochter verarbeitet. Musikalisch entwickelt Holter ihren experimentellen Ansatz immer weiter, setzt ungewöhnliche Instrumente wie Dudelsack oder japanische Perkussion ein und ließ sich – selbst Halb­libanesin – vom Stil der libanesischen Sängerin Fairouz inspirieren. Im minimalistischen Vokaltrack „Meyou“ vermischen sich die Stimmen von befreundeten Musikerinnen wie Ramona Gonzalez aka Nite Jewel oder Mia Doi Todd zur ätherischen Séance, die an Avantgardekünstlerin Meredith Monk erinnert. „Something In The Room She Moves“ ist ein freigeistiges, vielschichtiges Album – und in jeder Hinsicht bewegend. Christina Mohr

Mina Richman 
„Grown Up“ 
( Ladies & Ladys )

Mina Richman hat Wachstumsschmerzen. Es zieht in der Brust und im Herz. Es kribbelt in den Füßen, Händen und im Kopf. „Grown Up“ ist eine musikalische und lyrische Auseinandersetzung mit allen Facetten des Erwachsenwerdens – den aufregenden, traurigen und ernüchternden. Mit bittersüßer Sehnsucht in der Stimme drückt Mina Richman Wut, Heimweh und Hoffnung aus. Jeder Song auf ihrem Debütalbum behandelt ein sowohl persönliches als auch politisches Thema. Es geht um Konsens, die Trennung der Eltern, gesellschaftliche Normen und die Proteste im Iran, denn all diese Themen bewegen Mina Richman als queere Deutsch-Iranerin. Auf der kraftvollen Hymne „Baba Said“ solidarisiert sich die Sängerin mit den feministischen Freiheitskämpfen im Iran und verarbeitet Gefühle der Hilflosigkeit, Trauer und Wut, die sie nach dem Mord an Jina Mahsa Amini im September 2022 empfunden hat. „Grown Up“ beschreibt die unterdrückerischen gesellschaftlichen Ansprüche an weiblich-gelesene Körper. Mina Richman widmet sich schmerzlichen Momenten aus der Kindheit und des Erwachsenwerdens – was das auch immer heißen mag. Dennoch verliert sie dabei die Hoffnung nicht aus den Augen. Das Album endet mit der Piano­ballade „The Woman I Am Now“, eine Ode an die Person, die aus den Kämpfen der vorherigen Songs erwachsen ist. Liv Toerkell

Mannequin Pussy 
„I Got Heaven“
( Epitaph / Indigo )

Punk und Katharsis um eine energetische Frontfrau. Genau 14 Sekunden dauert es, bis Marisa Dabices wutgeladene, energetische Vocals im Opener „I Got Heaven“ über ihre Hörer*innen walzen:  „I went and walked my­self / Like a dog without a leash“. Brachialität und Läuterung wechseln sich auf „I Got Heaven“, der vierten Platte des Quartetts aus Philadelphia, ab. Angeleitet von Dabices Stimme, die sich in ihrer Verzweiflung bis zum Schreien steigert und trotzdem nie weniger als ermächtigend klingt. Mit einem Sound, der von melodischem Indie-Rock und rohem Punk zu Hardcore changiert. Zwischen lyrischen Himmelrefenzen und dem bildlichen Durch-die-Straßen-Streunern wie ein Hund verhandelt die Band bröckelnde zwischenmenschliche Beziehungen und den frustrierenden Status quo repressiver Systeme. Den Spannungsbogen wohl temperierend eröffnen Mannequin Pussy einen Moshpit mit Hardcore inspirierten Tracks wie „OK! OK! OK! OK!“ und „Aching“. Nur um im nächsten Moment mit kontemplativen Indie-Rock-Songs wie „I Don’t Know You“ und „Split Me Open“ sicherzustellen, auch die Introvertierten im Kreis nicht zu verlieren. Seitdem Marisa Dabice vor 14 Jahren eine Gitarre in die Hand nahm und das Projekt gründete, nachdem ihre Mutter einen Herzinfarkt erlitten hatte, haben Mannequin Pussy in der Übersetzung der eigenen Emotionen, Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung ihren Antrieb nur gesteigert. Sophie Boche

Vera Sola 
„Peacemaker“
( City Slang ) 

Mit „Peacemaker“ gelingt Vera Sola ein wahres Gesamtkunstwerk. Es zeugt von der Fähigkeit einer Künstlerin, die eine*m die Unverfügbarkeit von eigenen Worten vor Augen führt, indem sie Poesie, Musik und ein bisschen Theatralik verschmelzen lässt. Als studierte Lyrikerin schreibt sie Songtexte, die sich eindeutigen Interpretationen entziehen. Nach ihrem Debüt „Shades“, welches sie komplett selbst eingespielt hatte, orchestrierte Vera Sola für „Peacemaker“ weitere Musiker*innen zu detailverliebten Arrangements: E-Gitarre und Schlagzeug erinnern an galoppierende Pferde („The Line“), klassische Gitarre an tanzende Windböen („Bad Idea“), Mellotronklänge an mystische Wesen („Is That You?“) oder Streichinstrumente an pompöse Westernfilmmusik („Desire Path“). Immer wieder werden Klanglandschaften kreiert, die eine Hommage an die Orte sein sollen, die uns geformt und ihre Spuren hinterlassen haben. Eindrucksvoll ist durchweg Vera Solas charakteristischer Gesang. Ihre Stimme klingt präsenter, stärker und klarer als auf dem Vorgänger, so, als sei sie von etwas befreit worden. Damit verleiht sie dem Album mit seiner melancholischen Grundstimmung etwas Kraftvolles und Ermutigendes. In diese taucht man am besten ein, wenn man das Album laut und ohne Unterbrechung hört. Lina Niebling

Katy Kirby
„Blue Raspberry“
( ANTI-Records )

Hi, queer awakening! Katy Kirbys zweites Album handelt vom Aha-Moment, in den sie frisch hineingestolpert ist – fühlt sich verwirrend an, aber auch heftig gut. So erlebt die Singer-Songwriterin auf „Blue Raspberry“ den Zauber von ihren ersten queeren Crushes und zeichnet den Verlauf von lesbischen Beziehungen nach (manche real, manche erträumt). Kirby singt zart, sie lässt den Worten viel Raum: Ihre Lyrics sind klug und poetisch (und auch mal sexy-spicy), sie textet mit Präzision und Sehnsucht, ohne ihren Witz zu verlieren: „you think it’s ethically suspicious to bring some­one into a world like this / but you’ve got the best smile any­one could ask to inherit“. Dass Katy Kirby in Texas mit Countrymusik aufgewachsen ist, hallt in ihrem Sound nach. Die elf Tracks werden von reduzierten Arrangements begleitet, da sind akustische Gitarren, Klavierklänge, mal stimmen sanfte Drums und Streicher ein. „Blue Raspberry“ transportiert warme Behutsamkeit – und doch brechen die Instrumente ab und zu für einen Augenblick in grungiges Chaos aus. Dieser Gegenpol passt zum Thema: Wandel kann auch überfordernd sein. Vielleicht lässt sich das Album gerade deswegen Zeit. Die Songs entfalten sich im ganz eigenen Tempo, es ist Kirbys liebevoll-staunende Annäherung an ihr neu entdecktes Ich. Alisa Fäh

Erika de Casier 
„Still“
( 4AD )

Erika de Casier wuchs in der dänischen Provinz auf, wo sie und ihr Bruder Rassismus erlebten. Umso wichtiger wurde für sie nach der Schule MTV, wo nicht-weiße Musiker*innen den Takt vorgaben. Vor allem Brandy and Monica, aber auch Sade und Craig David beeinflussten sie. Dieser 1990er/2000er-R’n’B-Sound und dessen Attitude prägen ihre Musik bis heute. Von Anfang an schreibt und produziert Erika de Casier alle Songs selbst. Auf ihren unverwechselbaren Klang werden bald auch andere aufmerksam. So slidete ihr 2020 Dua Lipa in die DMs für einen Remix von „Physical“ und 2023 schrieb de Casier Songs für die K-Pop-Girlband New Jeans und landete mit „Supershy“ einen Riesenhit. Auf ihrem eigenen, mittlerweile dritten Album „Still“ geht es um Liebe und den damit verbundenen Kummer. Erikas Gesang schwebt warm, melancholisch und mühelos über den Songs, die mal klassischer R’n’B sind, wie „Test it“ oder „Toxic“, jazzy Nachtstimmung wie bei „Twice“, der Collab mit Blood Orange, oder liquid Drum’n’Bass wie bei „Lucky“, der das Zeug zur Frühlingshymne hat. „Still“ klingt wie eine Freitagnacht, wo man selbst zu Hause bleibt, weil man auf eine Nachricht von jemandem wartet, zwischen Hoffnung und Traurigkeit, aber wenigstens in guter musikalischer Gesellschaft. Rosen Ferreira

Kim Gordon
„The Collective“
( Matador / Beggars Group / Indigo )

90er-Grunge-Legende Kim Gordon dreht mit ihrem zweiten Soloalbum unter eigenen Namen „The Collective“ voll auf. „BYE BYE“ – aber hallo! Die Songwriting-Collabs haben es in sich: Justin Raisen, bekannt als Producer von Charli XCX („SUCKER“) oder auch Angel Olsen („My Woman“), produzierte bereits Gordons Vorgängerplatte „No Home Records“ . Das noisige Projekt hat sich um Trap-Beats weiterentwickelt. Auf „The Collective“ bohrt sich Kim Gordon weiter ins Herz der Grunge-Lover. Das Fundament steht schon lange: Die Musikerin und Künstlerin, bekannt von Sonic Youth und auch Free Kitten, ist unbestritten eine Ikone. „The Collective“ holt Gordon ins Jahr 2024 – die großen Flächen schaffen Raum, die instrumentale Wucht und die Texte geben dem Spektakel Tiefe. Mit ihrer Repetitivität erinnert die Lead-Single „BYE BYE“ auch an Free Kittens „Never Gonna Sleep“ – die schleppenden Beats reißen mit und ziehen davon. Gordons Texte lassen aufhorchen: „BYE BYE“ heißt es in der Leadsingle – zu „passport, pajamas“ und „silk“. „The Collective“ ist interessant, aber auch aus der Zeit gefallen – die Beats sind neu, crusty, an Hyperpop erinnnernd, knarzig, jedoch nicht revolutionär. Es ist Kim Gordon im 21. Jahrhundert – auf bestmögliche Weise. Lieblingstrack der Autorin ist „I’m A Man“. Franziska Schwarz

Gossip
„Real Power“
( Sony )VÖ: 22.03.

Nach unglaublichen zwölf Jahren veröffentlichen Gossip tatsächlich dieses Jahr ihr sechstes Album und kehren nach dem 2016er-Split, der 2019er-Reunion sowie der Jubiläumstour und einer pandemiebedingten Pause auf die Bühne zurück. Neben der unverwechselbaren Beth Ditto sind Nathan „Brace Paine“ Howdeshell und Hannah Blilie weiterhin Teil des Trios. Nun bringen sie auf „Real Power“ elf Songs zusammen, die laut eigener Aussage ein „Zelebrieren von Kreativität“ und ein Zeichen der „Kraft, die nach kollektiven und persönlichen Traumata“ entstehen kann, sein sollen. Und auch wenn bei einzelnen Songs, wie dem titelgebenden „Real Power“ oder „Give It Up For Love“, diese Kraft zu spüren ist, so wirkt der Rest des Albums leider sehr seicht und austauschbar. In bewährter Manier singt und powert Ditto über Keyboard, Gitarre und Drums hinweg, und, ja, es ist zwischendurch funky. Doch der Funke will nicht wirklich überspringen. Stattdessen wirken einzelne Songs beinahe wie nebenbei zusammengeschustert ohne Höhepunkte oder Dramaturgie, andere wiederum verkürzt, hektisch und regelrecht unfertig. Bei „Turn The Card“ merkt man die Energie, die eigentlich raus will und dennoch stecken bleibt. „Real Power“ hat zwei, drei catchy Songs, ist ansonsten aber bedauerlicherweise sehr seicht. Avan Weis

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 02/24.