Die Schwarze US-Autorin galt schon zu Lebzeiten als literarisches Ausnahmetalent. Gut 40 Jahre nach ihrem Tod, erscheint ihr Nachlass „Nachbarn“ mit acht bisher unbekannten Kurzgeschichten in deutscher Übersetzung.
Hier würde sogar Rosenkohl schmecken, denkt Jenny. Die junge Frau streicht mit ihren Fingern über die rosa Karos der Tischdecke in einem Kaufhausrestaurant in den USA und freut sich über das roséfarbene Licht im Raum. Sie ist mit drei Freund*innen gekommen, um das Tagesgericht zu bestellen. Doch sie werden nicht bedient. „Wir bedienen Sie gerne im Untergeschoss“ bei „ihren Leuten“, sagt der Kellner, während alle weißen Gäste, von ihrer Anwesenheit empört, das Lokal verlassen. Dann werden die vier Amerikaner*innen von der Polizei verhaftet, verhört, beschimpft und verprügelt.
Jenny ist eine fiktive Person aus Diane Olivers Kurzgeschichte „Vor der Dämmerung“. Sie ist eine von vielen jungen Schwarzen Menschen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren durch zivilen Ungehorsam die Segregation in den Südstaaten bekämpfen. Jenny ist nicht besonders: weder besonders reich noch arm, weder besonders unscheinbar noch prominent. Sie ist nicht besonders politisch, sie will einfach das Tagesgericht bestellen und ihre Mutter davon überzeugen, dass sie nicht direkt zur Terroristin wird, nur
weil sie für ihre Rechte kämpft.
Gemeinsam mit sieben weiteren Kurzgeschichten ist „Vor der Dämmerung“ nach Jahrzehnten überraschend aufgetaucht. Olivers Alltagsbeobachtungen haben auf dem Dachboden ihrer Schwester geschlummert, bis vor Kurzem die britische Literaturagentin Elise Dillsworth gemeinsam mit Olivers Schwester Cheryl diesen Wortschatz entdeckte – jetzt wirbelt der Fund die Literaturszene auf. Es ist, als wäre ein Stück verlorene US-Geschichte zum Leben erwacht. Bisher waren nur sechs Texte der Autorin bekannt, die mit 22 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Geboren 1943 in Charlotte, North Carolina, in eine Mittelklassefamilie, besuchte sie eine segregierte Schule, graduierte an der Universität von North Carolina und nahm anschließend am „Writers Workshop“ der Universität von Iowa teil. Die Fakultät konnte ihr den Masterabschluss 1966 nur noch posthum verleihen.
Obwohl Oliver so jung starb, schaffte sie es damals schon, mit ihren Texten für Aufmerksamkeit zu s…