Filmtipps 03/24
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Hinter guten Türen
Das panische Mädchen wird von ihrem körperlich überlegenen Bruder am Strand gewaltsam ins Wasser gezerrt. Die Kamera des Vaters hält drauf. Für drei in der Familie anscheinend schöne Urlaubserinnerungen. Für das Mädchen eine weitere Erinnerung an ihre traumatische Kindheit. Julia Beerhold ist dieses Mädchen, in den 1970er-Jahren aufgewachsen in einem Haus, in dem es materiell an nichts fehlte, jedoch an Geborgenheit und Sicherheit. Nach einer Kindheit, die sie durch Schläge, Demütigung und Wegsehen zum „perfekten Opfer“ für sexuellen Missbrauch machte, kommt sie als Filmemacherin zurück. Um Klarheit zu schaffen, wie sie sagt. Neben den Gesprächen mit Mutter und Bruder, die sich entschieden haben, sich nicht zu erinnern, entsteht durch Fotos, Videos und Briefe das Bild einer zutiefst dysfunktionalen Familie. Mutig und nah beleuchtet Beerhold ihre Familienstrukturen. Wo andere vielleicht Wut und Trauer empfinden könnten, konfrontiert sie ihre Familie leise und fragend. Dabei ist die Doku kein reines Zeitzeugnis, das sich einfach mit „so war es eben damals“ wegwischen ließe. Stattdessen zeigt der Film, dass Gewalt und Missbrauch bei Kindern und den späteren Erwachsenen nicht nur Spuren hinterlassen, sondern Leben zerstören können. Nicole Karczmarzyk
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„Hinter guten Türen“ DE 2024 ( Regie: Julia Beerhold. 79 Min., Start: 30.05. )
Die Gleichung ihres Lebens
Die hochbegabte Mathematikstudentin Marguerite trägt Hausschuhe am Institut. Allerdings nicht, weil sie sich da so wohlfühlt – als einzige Studentin unter Studenten im Promotionsprogramm eines renommierten Professors an der École Normale Supérieure in Paris –, sondern eher, weil ihr alles außer Mathematik ein bisschen egal zu sein scheint. Marguerite arbeitet an einem wichtigen Beweis. Doch bei einer entscheidenden Präsentation entdeckt ein Kommilitone einen Denkfehler in ihrer Arbeit. Von der Reaktion ihres Professors enttäuscht, kündigt sie. Sie zieht bei der Tänzerin Noa ein, entdeckt die Freude an Clubs und Sex und verdient sich ihren Lebensunterhalt bald durch illegales Mah-Jongg-Spielen. In sozialrealistischen Bildern erzählt Regisseurin Anna Novion sensibel und mit leisem Humor von Marguerites Krise, in der sie lernen muss, sich anderen zu öffnen, um in ihrer Arbeit weiterzukommen. Doch ganz ohne Klischees kommt das nicht aus. Zwar muss Marguerite nicht ihre Brille abnehmen und sich neue Klamotten kaufen, um glücklich zu werden, doch bedient die Tragikomödie recht klassische Filmbilder von Genie und Wahnsinn: endlos mit Gleichungen beschriebene Tafeln, dramatische Musik, ein sozial unbeholfenes Talent. Auch dass der Film die Freundinnenschaft zwischen Noa und Marguerite nach und nach zugunsten einer Romanze mit einem Mitstudenten etwas aus dem Blick verliert, ist schade. Anna Mayrhauser
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„Die Gleichung ihres Lebens“ FR/CH 2023 ( Regie: Anna Novion. Mit: Ella Rumpf, Jean-Pierre Darroussin, Clotilde Courau, Julien Frison u. a., 112 Min., Start: 27.06. )
Niemals allein, immer zusammen
Wie wichtig Gemeinschaft für politische Kämpfe sein kann, zeigt die Dokumentation „Niemals allein, immer zusammen“. Die Regisseurin Joana Georgi begleitet in ihrem Langfilmdebüt über ein Jahr hinweg fünf junge Menschen, die in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv sind: Quang ist bei Fridays for Future, Patricia bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Feline backt Soli-Torten mit politischer Botschaft, Simin ist Kommunistin und beschäftigt sich mit antirassistischen Kämpfen, und als angehende Pflegekraft ist Zaza in der Berliner Krankenhausbewegung aktiv. Gemeinsam haben alle: Sie kämpfen in linken Organisationen gegen strukturelle Gewalt und Benachteiligung. Nacheinander erzählen die Protagonist*innen aus dem Off von ihrem aktivistischen Alltag. Für ihre Ideale werden sie laut, halten Reden, diskutieren und demonstrieren. Kraft dafür sammeln sie in der Gemeinschaft, ob im Sommer am See oder beim gemeinsamen Singen von „Brot und Rosen“. Inmitten der Aussichtslosigkeit scheinbar endloser Kämpfe ist Georgis Doku ein Hoffnungsschimmer. Dabei hält sie sich fern von kitschigen, naiven Weltverbesserungsfantasien. Stattdessen zeigt sie real und authentisch junge BIPoCs, die sich organisiert für eine gerechtere Zukunft einsetzen. So unterschiedlich ihre Ziele und Strategien sein mögen: Der Film zeigt, dass es sich lohnen kann, Kämpfe zu vereinen, voneinander zu lernen und sich bereit zu machen für die Revolution. Jaqueline Frank
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„Niemals allein, immer zusammen“ DE 2024 ( Regie: Joana Georgi. 91 Min., Start: 13.06. )
Ivo
Ivos alter Skoda ist immer in Bewegung. Die ambulante Palliativpflegerin eilt von früh bis spät zu Familien, Eheleuten und Alleinstehenden, um Klient*innen mit unheilbaren Krankheiten zu betreuen. Der Skoda dient dabei als strukturierendes Mittel der hektischen Außenwelt, in dem Ivo routiniert Gleichzeitiges meistert. Während sie fährt, ist die Freisprechanlange in Betrieb, hier nimmt sie Mahlzeiten zu sich, singt und flucht. Das Chaos der Außenwelt und die Ruhe der verschiedenen Haushalte geben dem Drama seinen Rhythmus. Als alleinerziehende Mutter übernimmt Ivo auch in Extremsituationen mit Klient*innen mühelos die Führung. Eine gewisse Abgebrühtheit scheint ihre Berufskrankheit zu sein. Mit einer ihrer Patient*innen, Solveigh, ist sie befreundet. Zudem schläft Ivo mit deren Mann. Aus dieser Konstellation ergibt sich im Laufe des Filmes ein moralisches Dilemma: Wem gegenüber ist Ivo eigentlich verpflichtet – Solveigh oder Franz? So wie Eva Trobisch die uneitle, starke und lebenshungrige Figur Ivo inszeniert, wirkt letztendlich der gesamte Film. Trotz Themen rund um Tod und Sterben stellt „Ivo“ sachlich zurückgenommen und nicht überbordend schwer moralische Fragen zu Selbstbestimmung angesichts schwerer Krankheit. Und erzählt mitreißend, feinfühlig und intim von Leben von Menschen, deren Tage gezählt sind. Wenke Bruchmüller
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„Ivo“ DE 2024 ( Regie: Eva Trobisch. Mit: Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur u. a., 105 Min., Start: 20.06. )
Der Sohn des Mullahs
Während der Jina-Revolution haben Aktivist*innen in Iran mehr oder weniger im Spaß Geistlichen den Turban vom Kopf gestupst. Mohammad Ali Zam legt nach dem staatlichen Mord an seinem Sohn, Ruhollah Zam, freiwillig das Gewand eines Mullahs, inklusive des Turbans, für immer ab. Sein Sohn, benannt nach dem Gründer der Islamischen Republik Ruhollah Khomeini, war früher Anhänger des Regimes, traf sich sogar privat mit Ali Khamenei, dem sogenannten Geistlichen Führer Irans. Doch nach den Wahlen 2009 bricht er mit dem Regime. Er ist wie viele andere der Ansicht, dass es sich bei der Wiederwahl Mahmoud Ahmadinejads um Wahlbetrug handelt, demonstriert und wird festgenommen. Damals kommen er und seine Freundin, später seine Frau, aufgrund des Einflusses seines Vaters wieder frei. Er setzt jetzt alles daran, der Diktatur das Leben zur Hölle zu machen. Nach seiner Flucht nach Frankreich nutzt er seine wertvollen Kontakte, Maulwürfe innerhalb des Regimes, um die Öffentlichkeit durch Videos über dessen Machenschaften zu informieren, und wird zu einem der wichtigsten Oppositionellen. Er erfährt, wenn jemand getötet werden soll, und warnt andere vor. Doch niemand warnt ihn, als er 2019 in den Irak gelockt und nach Iran verschleppt wird. Ruhollah Zam hinterlässt zwei Töchter und eine Frau – und einen Vater, der seinen Glauben in die Islamische Republik verloren hat. Die Arbeit an diesem Dokumentarfilm begann die Regisseurin Nahid Persson Sarvestani, als Zam noch lebte. Sie durfte ihn, der Schutz von der französischen Polizei erhielt, ausnahmsweise begleiten. Wir erhalten daher einen spannenden Einblick in seine Arbeit und in das iranische Repressionsregime. Wer die Islamische Republik besser kennenlernen will, der sollte sich diese Doku ansehen. Jasmin Alizadeh
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„Der Sohn des Mullahs“ SWE 2023 ( Regie: Nahid Persson Sarvestani. 100 Min., Start: 13.06. )
Sleep With Your Eyes Open
In der brasilianischen Küstenstadt Recife hält eine piepsende Klimaanlage Kai vom Schlafen ab, während der Regenschirmverkäufer Fu Ang in den wolkenlosen Himmel schaut und um sein Geschäft bangt. Kai ist aus Taiwan für den Urlaub angereist, Fu Ang aus China zum Arbeiten hergekommen. Nach einer flüchtigen Begegnung verlieren sich die beiden aus den Augen, bis Kai in einer Kiste voller Postkarten nicht nur eine Spur zu Fu Ang, sondern auch zur Geschichte chinesischer Arbeitsmigration in Recife findet. Daraufhin beginnen sich Erinnerungen und Erzählungen zu vermischen, in denen es zwar Geldscheine regnet, aber der Lebensunterhalt weiterhin mit dem Verkauf von Schwimmtieren verdient werden muss, ausgerechnet an dem Strand, an dem Haie im Wasser lauern. Klingt nicht ganz nachvollziehbar? Genau! Denn es ist gerade das Missverstehen, das in „Sleep With Your Eyes Open“ produktiv gemacht wird – dramaturgisch wie inhaltlich. So trifft Kai zu Beginn des Filmes auf einen Übersetzer und zweifelt an dessen Job: „We can hardly understand each other in our own language.“ Solche mitunter philosophischen wie witzigen Szenen erlauben es der deutschen Regisseurin Nele Wohlatz, in klar komponierten Bildern und aller Komplexität eine Geschichte über einen spezifischen Kontext zu erzählen, die darum weiß, dass sie wiederum selber „nur“ eine Übersetzung ist, bei der Dinge entstehen und Dinge verloren gehen. Eva Königshofen
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„Sleep With Your Eyes Open“ BRA/ARG/TWN/DE 2024 ( Regie: Nele Wohlatz. Mit: Chen Xiao Xin, Wang Shin-Hong, Liao Kai Ro, Nahuel Pérez Biscayart u. a., 97 Min., Start: 13.06. )
Das leere Grab
Nach einem gemeinsamen Kirchgang verweilen John und seine Tante noch einen kurzen Moment in der Sonne. Er erinnert sie an ein Lied. Sanft beginnt die zierliche ältere Frau zu singen. Nur zaghaft stimmt John mit ein. „Mein Bruder, mein Bruder, du wurdest mir entrissen“, so die deutsche Übersetzung des tansanischen Trauerlieds, das von den überlebenden Aufständler*innen in Zeiten deutscher Kolonialherrschaft gesungen wurde. Es ist das Lied ihrer Vorfahr*innen, deren Gebeine noch heute verstreut in Europa als Exponate zur Schau gestellt werden. Im Auftrag seiner Familie nimmt John Makarius Mbano, Urenkel des ehemaligen Stammesanführers von Songea, die Suche nach dessen Schädel auf. In der Hoffnung, so dem „niemals endenden Begräbnis, der Klage der Mbanos“, wie er es nennt, ein Ende zu setzen. Das Trauma der Familie Mbano teilen viele. Auch die Kaayas sind auf der schmerzvollen Suche nach den Gebeinen ihrer Vorfahren. Das deutsche Kaiserreich herrschte zwischen 1885 und 1919 über das heutige Namibia, Kamerun und Togo sowie das damals besetzte Gebiet Deutsch-Ostafrika, zu dem die heutigen Länder Tansania, Ruanda, Burundi gehörten. Das macht Deutschland zur ehemals drittgrößten europäischen Kolonialmacht Afrikas. Ein dunkler Teil deutscher Geschichte, über den lange geschwiegen wurde. Mit „Das leere Grab“ wollen Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay dieses Schweigen brechen. Und auch wenn der Film mehr als nur einmal zu Tränen rührt – nicht Trauer, sondern Stärke ist es, die den Film und seine Protagonist*innen auszeichnet. Leonie Claire Recksiek
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„Das leere Grab“ DE/TZA 2024 ( Regie: Agnes Lisa Wegner & Cece Mlay. 97 Min., Start: 23.05. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/24.