Hä, was heißt denn Genoss*in?
Von
In Sahra Wagenknechts neuer Partei – dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) – wird die Anrede als Genoss*in abgelehnt. Auf dem ersten Parteitag Ende Januar soll es einigen zwar noch rausgerutscht sein, doch die Order lautete: „Liebe Kollegen“ oder „Freunde“ sind gewünschte Ansprachen, nicht aber, wie in der Linkspartei üblich, „liebe Genoss*innen“. Das ist albern und gleichzeitig konsequent, denn von der Selbstbezeichnung links hat sich Wagenknecht inzwischen distanziert. Und der*die Genoss*in ist vor allem eine linke Figur. Sie ist eng verwoben mit der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, auch wenn das Wort – im Englischen comrade, im Französischen camarade – schon länger existiert. In der Frühen Neuzeit, also der Zeit zwischen Mittelalter und Französischer Revolution, wurde es für Menschen verwendet, die sich eine Unterkunft, etwa in der Kaserne, teilten, ohne familiär miteinander verbunden zu sein. Im Deutschen bezieht sich die Wortherkunft auf das Teilen im Sinne gemeinsamen Genusses: Genoss*innen sind kollektive Nutznießer*innen.
Nach der Französischen Revolution wurden Genoss*innen zum Inbegriff von Kampfgefährt*innen, vor allem von solchen, die für die klassenlose Gesellschaft eintreten. Bis heute hält sich die Bezeichnung auch in der Sozialdemokratie und unter einigen Anarchist*innen, sie wurde aber im 20. Jahrhundert insbesondere zum Kennzeichen parteiförmig organisierter Kommunist*innen. In der Sowjetunion und der DDR diente sie als offizielle Anrede für einige Angehörige des Staatsapparats. Nach dem Ende des sogenannten real existierenden Sozialismus haftete dem Begriff etwas Verstaubtes an – für den österreichischen Parlamentsbetrieb wurde er 2001 sogar verboten. Er lebte noch fort in Einkaufs- oder Mieter*innengenossenschaften – und natürlich in linken Gruppen, die nach 1989 einen eher schweren Stand hatten. Manchen Linken gilt das Wort bis heute durch den Stalinismus als unwiederbringlich verloren für emanzipatorische Bewegungen.
Mit deren Wiederaufleben seit der Jahrtausendwende ist der*die Genoss*in als Chiffre der politischen Zusammengehörigkeit wieder verbreiteter. Für Jodi Dean, eine US-amerikanische Politologin, die 2019 das Langessay „Comrade“ veröffentlichte, hat die Idee dahinter an Aktualität nichts eingebüßt. Genoss*in, schreibt Dean, verweise „auf ein politisches Verhältnis, eine Reihe von Handlungserwartungen und auf ein gemeinsames Ziel“. Wenn wir uns als Genoss*innen verstehen, unterstreichen wir Gleichheit untereinander, auch wenn wir verschieden sind, sowie Zusammenhalt und gegenseitige Verlässlichkeit. Jede*r kann Genoss*in sein, von Identitätsmerkmalen hängt das nicht ab. Zugleich können nicht alle Genoss*innen sein, denn es gibt ja noch die auf der anderen Seite der Barrikade.
Anders als das viel jüngere Konzept von Allyship finden Genoss*innen nicht auf Grundlage von der Reflexion eigener Privilegien zusammen, sondern auf Basis politischer Überzeugungen, um die auch gestritten werden kann. Genoss*innen begegnen sich – zumindest in der Theorie – auf Augenhöhe; sie führen einen gemeinsamen Kampf, statt wie Allys jenen einer diskriminierten Gruppe „still“ (also zuhörend) zu unterstützen. Allerdings bestehen auch zwischen Genoss*innen Ungleichheiten, die sich in politischer Arbeit niederschlagen, weil zwar in der Idee des*der Genoss*in die Utopie der Gleichheit steckt, sie aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen noch nicht verwirklicht ist. Dieser Widerspruch lässt sich kaum auflösen, solange es Kapitalismus und Patriarchat gibt – und solange es sie gibt, wird es wiederum Genoss*innen brauchen.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 03/24.