Literaturtipps 03/24
Von MissyRedaktion
Die Ungelebten
Jennifer ist superreich, dreifache Mutter und Geschäftsführerin eines Schlagerlabels, aber vor allem ist sie Tochter: von Bernd Boyard, dem Gründer des Labels, den sie noch immer „den weltbesten Papi“ nennt. In der Schlagerwelt, die voll von Chauvinisten, Penisbildern und Kokain ist, überrascht es kaum, als eine Sängerin Bernd der Vergewaltigung beschuldigt. Bernd spricht nie gut über Frauen und dann trägt er auch noch ständig einen Bademantel, dieses zum #MeToo-Symbol gewordene Kleidungsstück, bei dem man unweigerlich Harvey Weinstein vor sich sieht. Jennifer selbst ist zwar für „Female Empowerment“, aber verdient auch an einem Unternehmen, das junge Frauen fallen lässt, sobald sie den Mund aufmachen. Was tut man, wenn man den eigenen Vater zugleich liebt und verachtet? Caroline Rosales’ neuer Roman „Die Ungelebten“ erzählt von der Entmündigung von Frauen: den finanziell abhängigen und den unendlich reichen. Dabei skizziert Rosales – mal mit Häme, mal mit Empathie – einen neoliberalen Feminismus, der kläglich scheitert. Trotz all der feminist awakenings, die Jennifer zu Frausein und Mutterschaft hat, ist sie in der Praxis meistens zu erschöpft, um solidarisch zu sein. Ein unterhaltsamer Text über Nepo-Babys und die Frage, ob die Zeit der alten Patriarchen wirklich schon vorbei ist. Jolinde Hüchtker
–
Caroline Rosales „Die Ungelebten“ ( Ullstein, 304 S., 22,99 Euro )
Gegenlicht
Nachdem die 1949 geborene finnische Autorin Pirkko Saisio mit „Das rote Buch der Abschiede“ endlich auch hierzulande zu entdecken war, folgt nun der Band „Gegenlicht“. Beide autofiktionalen Bücher sind Teile einer Trilogie, deren Abschluss „Das rote Buch der Abschiede“ bildet, und erschienen im Original bereits vor rund zwanzig Jahren. So erfolgt die deutschsprachige Veröffentlichung chronologisch rückwärts: Während Saisio im „Roten Buch“ von ihrer Zeit als Studentin Anfang der 1970er-Jahre und in den frühen 1980ern von der Entdeckung ihrer Liebe zu Frauen und ihrer Politisierung erzählt, treffen die Leser*innen nun auf die 14-jährige Teenagerin und Abiturientin. Die soziale Herkunft aus einer Arbeiter*innen spielt eine große Rolle, ebenso die frühe Faszination für Literatur. Die 19-Jährige zieht es mit hehren pädagogischen Idealen in ein „Waisenhaus“ in die Schweiz. Beide Bände verbindet die wunderbare Selbstironie, mit der Saisio auf ihre jüngeren Ichs blickt. In beiden springt sie zwischen zwei Zeitebenen, splittert die Chronologie auf; wechselt zwischen personaler Erzählerin und Ich-Perspektive. So schafft sie eine vor Lebendigkeit vibrierende Literatur, die die Uneindeutigkeit autobiografischen Erzählens auch in der Form höchst originell (im „Roten Buch“ noch radikaler) gestaltet. Carola Ebeling
–
Pirkko Saisio „Gegenlicht“ ( Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Klett-Cotta, 255 S., 25 Euro )
Alles immer wegen damals
„Die Bombe ist gezündet. Die Männer lassen von ihren Bieren ab, all eyes on Mutter und Tochter, ein Raunen geht durch den Laden, die Musik setzt aus, irgendwo knarzt eine Schwingtür, eine Katze miaut, ein Luftstoß löscht das Licht einer Kerze, ein kurzes Geigengeräusch ertönt. So fühlt es sich zumindest an.“ Well, „die Bombe“ ist der Vorwurf von Karla, dreißig, an Mutter Gerda, sechzig, sie könnte sie und ihre Geschwister bereut haben. Nicht nur deshalb hatte Karla, die mit 18 Jahren zur ersten großen Liebe Sarah nach Köln zog, den Kontakt zur Familie abgebrochen. Jetzt gab’s zum Geburtstag für sie und die frisch getrennte Gerda einen Kurztrip nach Hamburg inklusive Karten für „König der Löwen“. Und nun sitzen die Frauen in einer Hamburger Kneipe beim Alsterwasser und fetzen sich … Paula Irmschler verhandelt in ihrem zweiten Roman nach „Superbusen“ die komplizierte Familienstory in angenehm flapsig-ironischem Ton, kreist um Themen wie das Kinderkriegen bei Frauenpaaren, ob „ossige“ Mütter wirklich so anders als „wessige“ sind, und Corona. Der Roman liest sich flott und verlangt eine Fortsetzung. Als Bonbon gibt’s noch einen Tipp für die Weltrettung: „Man sollte alle, die etwas Böses im Schilde führen, immer erst mal ans Meer stellen. Dann schauen sie drauf und sagen Aaaah, statt etwas Böses zu tun.“ Barbara Schulz
–
Paula Irmschler „Alles immer wegen damals“ ( dtv, 320 S., 24 Euro )
Über Frauen
Erst jetzt erscheinen Essays von Susan Sontag (1933–2004), die sie vor fünfzig Jahren über Gleichberechtigung, Schönheit und Alter schrieb. Auch im englischen Original wurden sie erst vergangenes Jahr herausgegeben, und zwar vom Sohn der Star-Intellektuellen (die übrigens nach ihrer Ehe lesbische Beziehungen hatte, zu denen sie sich nicht wirklich bekannte). Viele Aussagen der in „Über Frauen“ versammelten Texte erscheinen uns als alte Kamellen. Die Bezeichnung Fräulein und Miss sind offiziell abgeschafft, Hausmädchen und Telefonistin keine gängigen Berufe mehr und der Begriff Frauenbefreiung ist aus der Mode gekommen. Seit den 1970ern wurde einiges erreicht, in diesem Sinne sind die Texte zum Glück historisch. Trotzdem sind Stereotype noch wirkmächtig und von Sontag geforderte Entwicklungen fortzuführen: Die Arbeit müsse ebenso verändert werden wie die Vorstellung von Familie und die Sprache mit ihrem misogynen Impetus. Sontag unterstreicht, dass eine nicht-repressive Beziehung zwischen Frauen und Männern bedeute, die konventionellen Trennlinien zwischen den Geschlechtern aufzuheben. Grundsätzlich schließt Sontag auch die Notwendigkeit eines gewaltsamen Guerillakampfs nicht aus, schreibt sie (allerdings in Klammern). Für Sontag-Fans ist dieses Buch ein Muss! Als Frage bleibt, warum es erst jetzt erscheint. Daniela Chmelik
–
Susan Sontag „Über Frauen“ ( Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser, 208 S., 23 Euro )
Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat
Die DDR gibt es schon lange nicht mehr, doch geprägt hat sie Millionen von Menschen. Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann sind drei Frauen mit Ostbiografie und sprechen nächtelang über Klischees über sogenannte Ostfrauen. Mit Wodka (nicht nur) und Zigaretten (nur eine raucht noch) und dem Auftrag, den idealen Staat zu gründen. Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, sondern eher als eine Art Aufforderung zum Nachdenken über die DDR zu verstehen. Humorvoll und ohne ideologische Verklärung erinnern sie sich an ihre Zeit mit Freund*innen und Familie. Sie sprechen über die Abneigung der Deutschen heutzutage gegenüber einer klassenlosen Gesellschaft und blicken dabei auf materielle Verhältnisse, wenn sie über Wohnraum oder die Idee von Umverteilung sprechen. Dabei sind sie so nahbar wie selbstironisch, wenn sie sich z. B. vorstellen, dass, wenn die Mauer 1979 gefallen wäre, Ostdeutsche mit ihren Frisuren in den Geschichtsbüchern besser ausgesehen hätten, als es später der Fall war (Stichwort: Vokuhila). Dokumentarisch werden die Gesprächspassagen mit Fotos, erklärenden Fußnoten und sogar Gedichten ergänzt, was einen schönen Einblick in das Leben ostdeutscher Frauen gibt. Gerade im Superwahljahr braucht es Bücher wie diese. Denn im politischen Fokus stehen die drei Landtagswahlen in Ostdeutschland und daraus resultierende Konsequenzen. Dieses Buch ist kein erneuter Versuch, den Osten zu erklären, sondern vielmehr Wege ins Neue zu suchen. Julia Belzig
–
Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ ( Hanser, 320 S., 22 Euro )
Die Perserinnen
An einer Sache mangelt es der Familie Valiat nie: Geld. Deshalb geht es den Schwestern Shirin und Sima nach dem Sturz des Shas und der Emigration 1979 in die USA vergleichsweise gut. Sie nehmen Nichte Bita mit in eine neue, unaufregende Zukunft; Shirins Tochter Niaz bleibt zurück bei der Großmutter. Trotzdem beginnt Mahloudjis Roman mit der Inhaftierung Shirins wegen versuchter Prostitution. Bita muss fortan ihre Jurakenntnisse nutzen, um die Sache glimpflich ausgehen zu lassen, denn es droht der Verlust von Shirins Green Card. Um diese Rahmenhandlung spannt sich „Die Perserinnen“ und entfaltet eine emphatisch erzählte weibliche Familienchronik, die vier Generationen zurückreicht. Zwischen Teheran und „Teherangeles“ verhandeln die Figuren in immer wechselnder Perspektive ihr eigenes Heranwachsen inmitten der iranischen Geschichte. In Moshfegh-ähnlicher, grotesker Komik werden ihre Zugänge zu Sexualität und persischer Identität episodisch beschrieben und schnell wird klar: Mahloudjis Figuren wollen nicht gefallen. Im Spektrum zwischen Prinzipientreue und Aufmüpfigkeit bahnen sie sich einen Weg durch ihr von Schicksalsschlägen geprägtes Leben, bis schließlich ein lange gehütetes Familiengeheimnis die Großmutter und Niaz nach Amerika fliegen lässt und die Valiats ein hochemotionales Finale erleben. Lara Shaker
–
Sanam Mahloudji „Die Perserinnen“ ( Aus dem Englischen von Katharina Martl. Piper Verlag, 444 S., 24 Euro )
Schlafen
Mit Ende zwanzig schlief sie zu lang, mit Ende dreißig zu wenig: „Tag zwei ohne Schlaf lässt sich fast problemlos bewältigen. An Tag vier funktioniert überhaupt nichts mehr“, schreibt Theresia Enzensberger in ihrem Essay „Schlafen“. Ihre persönliche Leidensgeschichte verarbeitet sie darin aus politischer Perspektive: Unser neoliberales Wirtschaftssystem pathologisiere Abweichungen, seien es faule Langschläfer*innen oder unproduktive Unausgeschlafene. Analog zu drei Schlafphasen hat Enzensberger ihren Essay dreifach unterteilt. Der erste und längste Teil – der Leichtschlaf – kreist um den paradoxen Umgang des Neoliberalismus mit dem Schlaf. Enzensberger analysiert unter Rückgriff auf linke Theorie, wie unser Wirtschaftssystem vom Schlaf profitiert, obwohl es in ihm die geringste Verfügungsgewalt über uns hat. Der Text gewinnt an Schlagkraft, wenn sich die Autorin den Formen der Bettlägerigkeit widmet. Sie schreibt über die moralische Ächtung von Krankheit und Schwäche – insbesondere im Kontext der Pandemie. Enzensbergers Stil ist klar, unaufgeregt und elegant. Im zweiten Teil des Essays, dem Tiefschlaf, untersucht sie Darstellungen des Schlafes in Malerei, Literatur und Musik. Sie schließt mit einer verstörenden Erzählung, die die narrative Struktur von Träumen verbildlicht. Die Metaphorik der Schlafphasen ist schön, doch mitunter überspannt die Form den Inhalt. Besonders die Schlusserzählung wirkt etwas verloren inmitten der scharfsinnigen Kritik. Lena Baumann
–
Theresia Enzensberger „Schlafen“ ( Hanser Berlin, 112 S., 20 Euro )
Love Me Tender
„Warum sollte die Liebe zwischen einer Mutter und einem Sohn nicht genau wie jede andere sein? Warum sollten wir nicht aufhören können, einander zu lieben? Warum sollten wir uns nicht trennen können?“ Mit diesen Sätzen beginnt der autobiografische Roman „Love Me Tender“ von Constance Debré, der nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sie sind ein Tabubruch, diese Sätze, denn bis heute gilt die Mutter-Kind-Beziehung als eines der letzten Sakrilegien der Bürgerlichkeit – und genau dagegen schreibt Debré an. Aus Trotz womöglich, denn Debré hat sich nicht freiwillig von ihrem Sohn getrennt. Mit Mitte fünfzig verließ sie nach zwanzig Jahren Ehe ihren Mann, kündigte ihren Job als eine der angesehensten Anwältinnen Frankreichs, um sich fortan nur noch dem Schreiben zu widmen, und outete sich als lesbisch. Ihr Exmann warf ihr daraufhin Pädophilie und psychische Instabilität vor und verhinderte jeden Kontakt zum Sohn. Genau dort setzt die Erzählung ein und lässt uns teilhaben am Leiden einer Verlassenen, die sich nach und nach einrichtet im Leben einer radikalen Außenseiterin. Ihre Tage verbringt sie mit Schwimmen, Schreiben und Sex, mit unzähligen Frauen, deren Namen sie nicht einmal wissen will. Wie Pistolenschüsse rattern ihre Sätze über die Seiten und zielen dabei auf alles, was auch nur ansatzweise zur gesellschaftlichen Norm gehört. Das ist nicht immer bequem. Denn sie lässt uns nur allzu deutlich wissen: Sie ist diejenige, die es geschafft hat. Raus aus der Ehe und dem heteronormativen Bürgizwang, rein in die absolute Freiheit. Alle, die dies nicht können, haben das Leben, ja die Liebe nicht richtig kapiert. Manches Mal scheint Debré dabei zu vergessen, dass man sich diese Freiheit auch erlauben können muss. Als Abkömmling des in Frankreich sehr bekannten Debré-Clans tut sie dies ohne Zweifel. Genau diese Widersprüchlichkeit, ihre Radikalität, hat etwas Nervendes – es macht „Love Me Tender“ allerdings auch zu einem der aufregendsten Romane der aktuellen Queer Literature. Selbst schuld, wer das nicht aushält. Schließlich hat Debré nie behauptet, dass sie mit ihrer Figur nicht anecken will. Lea Sauer
–
Constance Debré „Love Me Tender“ ( Aus dem Französischen von Max Henninger. Matthes & Seitz, 149 S., 20 Euro )
Sund
Eine junge Frau sitzt auf dem dänischen Festland. Eigentlich möchte sie die Geschichte ihres Urgroßvaters recherchieren, doch dann reist sie auf eine kleine Insel. Dort ist es merkwürdig: schön und touristisch, aber auch unheimlich. Eine alternative Feriengemeinschaft lebt da, mit Anklängen ins Reaktionäre. Bunker gibt es auch, aber über die wird nicht geredet. Auf der Insel, erfährt die Ich-Erzählerin, wurden in der NS-Zeit homosexuelle Männer und sogenannte Asoziale zwangssterilisiert. Und gerade wenn man als Lesende*r beginnt, sich zu fragen, ob die Erzählung so funktionieren kann, eine Nazi-Erbengeschichte in gespenstisch-schönem, poetischem Sound, wechselt der Ton: Die Ich-Erzählerin berichtet nüchtern und doch persönlich von den Ergebnissen ihrer Recherche über ihren Urgroßvater – den Orthopäden Max Lange, der zum Kreis hoher nationalsozialistischer Ärzte gehörte, die für die sogenannte Erbgesundheit kämpften und Experimente an Menschen durchführten oder guthießen. Was hätte er mit seiner queeren Urenkelin gemacht? Diese Fragen stellt sich die Erzählerin ohne Selbstmitleid, in einem Essay, in dem sich Biografisches mit wissenschaftlichen und historischen Dokumenten verwebt. Im Anhang befindet sich ein aufschlussreiches Literaturverzeichnis, das Einblicke in die Recherche der Autorin gibt. Und die zeigt: Die Geschichten der Nazi-Ur- und -Großeltern sind gut recherchierbar – auch wenn es nicht immer einfach ist. Anna Mayrhauser
–
Laura Lichtblau „Sund“ ( C. H. Beck, 130 S., 22 Euro )
Leute von früher
Nach neun Jahren Studium weiß Marianne nicht recht wohin und landet für eine Saison in einem historischen Feriendorf auf der Nordseeinsel Strand. In Schürze und Haube gekleidet verkauft sie teure Kekse aus Bonbonnieren, die nichts anderes sind als billige American Cookies aus der Packung. Zwischen eintönigen Schichten und ereignislosen Abenden in den Baracken der Saisonkräfte lernt Marianne die einheimische Janne kennen und lieben und verfällt zeitgleich immer mehr dem Bann der Insel. Mal sind es unerklärliche Salzwasserpfützen im Zimmer, mal das Getuschel der Einheimischen und immer wieder die Nähe zur sagenumwobenen versunkenen Stadt Rungholt, die Marianne das Gefühl geben, Strand hat irgendein Geheimnis zu verbergen. Die Handlung des Buches ist, simultan zum wenig abwechslungsreichen Arbeitsalltag, von einer Langsamkeit geprägt, die schließlich aber in einem abrupten Ende gipfelt. Zarte Glücksgefühle und eine sich anbahnende sowie längst vergangene Katastrophe hinterlassen ein bedrückendes Gefühl, das eine*n – wie Strand seine Bewohner*innen – nicht loslassen will. Die Insel, die in Höllers zweitem Roman als Kulisse dient, hat es tatsächlich gegeben. Allerdings fiel diese schon vor Jahrhunderten einer Sturmflut zum Opfer. Ähnlich wie Rungholt, das bis heute die Fantasie der Menschen beflügelt. Julia Schattauer
–
Kristin Höller „Leute von früher“ ( Suhrkamp, 316 S., 22 Euro )
Bite back! Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität
Das Sprechen und Nachdenken über Klasse fehlt oft – besonders aus einer queeren und trans Perspektive. „Bite back!“ öffnet die Tür zu diesem wenig beachteten Raum eindrücklich und macht die engen Verflechtungen zwischen Klasse und queeren prekären Leben sichtbar: Der Sammelband zeigt u. a. auf, wie sich die soziale Herkunft und Klassenzugehörigkeit in Körper eintragen, und er benennt, weshalb Transfeindlichkeit und Klassismus häufig ineinandergreifen. Außerdem erzählt er von der Schwierigkeit, wie viel emotionale Arbeit es kostet, aus einer mehrfach marginalisierten Position zu schreiben – und es dennoch zu versuchen. „Bite back!“ trägt Wissensbestände von Autor*innen zusammen, die in verschiedenen Lebensrealitäten verortet sind. Das drückt sich auch im Sound und der Form der 24 Texte aus: Theoretische Ansätze, persönliche Essays/Interviews und aktivistische Reflexionen wechseln sich ab und spannen ein vielfältiges Netz von Perspektiven auf Klasse. Mal knüpfen die Beiträge inhaltlich aneinander an, mal sind sie nur auf Distanz verbunden, aber gemeinsam bleibt immer das intersektionale Problembewusstsein. So knipst der Sammelband ein Licht an für das, was sonst übersehen wird (Klassenerfahrungen but make it queer), und macht vielstimmiges Verbünden erfahrbar. Alisa Fäh
–
Lia Becker (Hg.) „Bite back! Queere Prekarität, Klasse und unteilbare Solidarität“ ( edition assemblage, 248 S., 19,80 Euro, VÖ: 22.05. )
Dekolonisiert Selfcare
Hier eine Yoga-Stunde, da eine neue Creme oder Tipps für eine gesündere Ernährung: Spätestens seit Social Media sind Selfcare-Angebote kaum mehr aus unserem Leben wegzudenken. Dabei geht es vor allem darum, möglichst viel Geld auszugeben. In ihrem Buch kritisieren die Soziolog*innen Alyson K. Spurgas und Zoë C. Meleo-Erwin diese Art der Vermarktung. Auch berichten sie, wie schnell sich weiße, reiche Frauen während der Corona-Pandemie Freiräume für Selfcare geschaffen und Produkte gekauft haben, die andere sich nicht leisten konnten. Die Autor*innen benennen zudem den Ursprung von Selfcare: Die Selbstfürsorge war nämlich eine Schwarze Strategie zur Selbsterhaltung, bei der es vor allem um körperliche Selbstbestimmung und politische Macht ging. Die Flugschrift analysiert dabei das Konzept der Selbstfürsorge, wie es sich heute zeigt, auf seine neoliberalen und rassistischen Merkmale hin. Neben der Reflexion fordern Spurgas und Meleo-Erwin ein Umdenken hin zu neuen Arten von Selfcare, die nicht nur denjenigen, die es sich leisten können, ein gutes Leben ermöglichen, sondern allen. Auch gibt der Text Anlass, über kollektive Fürsorge nachzudenken. Trotz der Schwere der Thematik macht das Buch Spaß beim Lesen. Denn der manchmal gewählte ironische Unterton im Schreibstil bringt die Zusammenhänge deutlich auf den Punkt und liefert die richtigen Beispiele, um die politische Argumentation nachzuvollziehen. Lisa-Marie Davies
–
Alyson K. Spurgas & Zoë C. Meleo-Erwin „Dekolonisiert Selfcare“ ( Aus dem Englischen von Anne Emmert. Edition Nautilus, 216 S., 20 Euro )
Von Ja bis Nein darf alles sein. Ich entscheide!
Gemeinsam haben die Sexualpädagogin Cornelia Lindner und die Illustratorin Verena Tschemernjak bereits zwei empfehlenswerte Kinderbücher veröffentlicht: „Erbsenklein Melonengroß“ ist ein gendersensibles Vorlesebuch rund um Familie und Geburt, „Wuschelkopf und Pupspopo“ ein körperpositives Büchlein für die allerjüngste Zielgruppe. Mit ihrem neuesten Werk füllen sie wieder eine Lücke am Kinderbuchmarkt, denn es geht um das Thema Konsens. Das Pappbilderbuch mit Klappenelementen bildet Situationen aus der Lebenswelt von Familien ab und lässt sie darüber ins Gespräch kommen. Kinder wissen meistens genau, was sie möchten und was nicht. Lina will heute keine Jacke anziehen, Papa steckt sie zur Sicherheit aber trotzdem ein. Toni findet es entspannend, sich beim Klogehen mit jemandem zu unterhalten, akzeptiert aber, dass Mama lieber alleine geht. Raphi bestimmt jeden Tag aufs Neue, wo sie den Gute-Nacht-Kuss hinhaben will, und Fanni will lieber gar keinen, sondern am Rücken gekrault werden. Die Lektüre zielt darauf ab, Bedürfnisse und Grenzen wahrzunehmen und besprechbar zu machen, und vermittelt, dass auch schon kleine Kinder über ihren Körper selbst bestimmen – und Respekt für andere entwickeln können. Die beiden Macherinnen haben sich dem komplexen Thema, mit dem sich auch Erwachsene mitunter schwertun, verspielt und trotzdem klar und verständlich angenähert. Sie punkten wieder mit einem stärkenden Buch, das sich hervorragend auch schon mit Kindern ab zwei Jahren lesen lässt. Carla Heher
–
Cornelia Lindner & Verena Tschemernjak „Von Ja bis Nein darf alles sein. Ich entscheide!“ ( Ab 2 Jahren. Achse Verlag, 20 S., 15,50 Euro )
Brüste
Da, weg, operiert, klein, groß, straff, hängend, asymmetrisch, stillend, bedeckt, entblößt, abgeflacht, schwitzend. Die Anthologie „Brüste“ versammelt zwölf Texte, jeder eine eigene Art von Beziehungsgespräch mit dem eigenen Körper. Die Sätze darin sind unverblümt ehrlich: „Nachdem sie mir die Brüste aufgeschnitten hatten, schiss ich elf Tage nicht.“ (Angela Lehner) Die Themen sind divers wie die Identitäten der Schreibenden. Es geht um Sexualität, Gender-Performance, Kunst, Stillen, Mastektomie, Drag, Krebserkrankung, den männlichen Blick. Warum bleibt nach einer Brustentfernung wegen eines Tumors ein kleiner Hubbel? Warum fühlen sich cis-Männer von Brüsten „eingeladen“? Wie lässt sich eine Brust zubereiten? Der Ton bisweilen liebevoll, erklärend, wütend. Ein klein bisschen vermisst bleibt eine Geschichte, in der Brüste kein Problemfall sind, die Beziehung ungetrübt. Dass es die nicht gibt, liegt vermutlich daran, dass gesellschaftliche Zuschreibungen in den Texten allgegenwärtig sind. „Meine ganze Kindheit lang hatte ich das Gefühl, einen Meter entfernt von meinem Körper zu stehen und ihn beim Leben zu beobachten, als wäre es nicht wirklich mein eigener.“ (Linus Giese) Die Anthologie ist eine große Bereicherung und lädt dazu ein, die eigene Geschichte mit Brüsten zu erkunden. Ulrike Wagener
–
Linus Giese und Miku Sophie Kühmel (Hg.) „Brüste. Eine Anthologie“ (Tropen Verlag, 176 S., 20 Euro)
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/24.