Musiktipps 03/24
Von
Beyoncé
„Cowboy Carter“
( Parkwood Entertainment / Columbia Records )
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This is not a Country-Album, this is a Beyoncé-Album. Was Queen B auf Instagram mit Worten angekündigt hat, lässt sie am Ende mit ihrer Musik sprechen. Mit „Renaissance“ startete sie ihre Rückgewinnung Schwarzer Musik. Erst Electronic Dance Music, die von Schwarzen queeren Menschen geprägt wurde, und jetzt Country. Wir sollten erst mal tanzen, so kaputt wie die Welt erscheint. Wie schon bei „Renaissance“ bleiben die kritischen Stimmen zu „Cowboy Carter“ nicht aus: Beyoncé arbeite nicht für die Culture, sondern hauptsächlich für ihr Image und fürs Konto. Ja, und Wasser ist nass, boohoo! Es lässt sich mit Country-Music-Expert*innen darüber streiten, ob dieses Album wirklich Country-Country ist. Beyoncé jedenfalls öffnet mit „Cowboy Carter“ Türen für Schwarze Talente und auch dafür ist sie bekannt. Schwarze Country-Musiker*innen wie Shaboozey, Tanner Adell, Tiera Kennedy, Reyna Roberts oder Brittney Spencer haben Features und damit Aufmerksamkeit und Kohle bekommen. Die letzten vier sind mit Beyoncé auf „Blackbird“ zu hören, einem Cover der Beatles, das Paul McCartney, inspiriert von Schwarzen Frauen, die während der Bürgerrechtsbewegung der 1950er-Jahre für ihre Rechte kämpften, schrieb. Beyoncé interpretiert dieses politische Statement auf ihre Weise. Und das ist, was das Konzept Beyoncé ausmacht: die Promo für Schwarze Künstler*innen und die Stoffe, die sie so rüberbringt, als wären sie für sie geschrieben. Auf „Cowboy Carter“ zeigt sie: Sie ist jetzt auch noch der neue Boss in Country-Town. Auch wenn das Album seinen Nachnamen trägt, Shawn Carter bleibt eben nur Hubby von Queen B. Abena Appiah
Nichtseattle
„Haus“
( Staatsakt )
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Tagescafé, Schirmpilz, Zelt oder sogar Türrahmen – was ist alles ein Haus? Katharina Kollmann aka Nichtseattle kann das: Situationen in Worte und Melodien fassen, sodass sie den weiten Radius von Deutungsmöglichkeiten und Ambivalenzen dazu mittransportieren. Und zwar ohne allzu poetisch verschnörkelt oder sprachlich abgehoben zu sein. Sie trifft die richtigen Worte und spricht mit dir und mir, denen es genauso geht oder die wir ähnlich über andere gedacht haben – singend mit warmer, natürlicher Stimme. Dazu spielt sie Gitarre als repetitive Untermalung und ihre Band stimmt mit ein, manchmal auch ein Chor, oder sie spricht Zeilen, die eigentlich zu lang für die Melodie sind, dann erinnert es ein bisschen an die alten Lassie Singers. Das „Haus“ in seinen vielen Formen und Bedeutungen ist das Thema des dritten Studioalbums der Berlinerin. Das Konzept der verschiedenen Behausungen ordnet sie entsprechenden Bewohner*innen und deren Gefühlswelten und Lebenssituationen zu, in zwölf Titeln, die alle noch einen zweiten Namen haben. Die Stücke dauern teilweise sieben, acht Minuten, ohne dass ein Refrain die Zeit füllen muss. Das ist das Gegenteil von eitlem Showgehabe, es ist so schön, wie sich hier Intelligenz und Wärme durchsetzen, und dass es sich lohnt, zuzuhören. Imke Staats
Maggie Rogers
„Don’t Forget Me“
( Dabay Sounds, Capitol )
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Wie ein einfacher Sonntagnachmittag soll das neue Album von Maggie Rogers klingen und doch ist „Don’t Forget Me“ kein bisschen langweilig geraten. Die Musikerin aus Maryland findet nach dem turbulenten Popfest der letzten Platte nun zurück zu ihren geliebten Folk-Einflüssen. Viel analoger scheint Rogers sich hier den Titeln zu nähern; greift mal zur Blues-Gitarre („Drunk“), mal zum Klavier („I Still Do“), meistens jedoch zu einer einfachen Akustikgitarre. Dazu singt sie mit einem offenen Herzen und oft auch mit einem hörbaren Lächeln. In nur fünf Tagen hat sie dieses Album geschrieben. Dazu hat Maggie Rogers erstmals fiktive Szenarien entworfen und sie mit ihren eigenen Erfahrungen der Mittzwanziger verwoben. Modell stand dafür eine Art Symbiose aus „Thelma und Louise“. Kein Wunder also, dass „Don’t Forget Me“ das ideale Roadtrip-Material ist. Ein Titel fließt in den nächsten, der Klang ist warm, intim und freundschaftlich. Für die meisten Songs hat Rogers sich gleich für die ersten Aufnahmen entschieden und somit eine verspielte Freiheit eingefangen, die nicht nach Perfektion strebt. Dadurch bringt die Musik die Vertrautheit einer unerschütterlichen Freundschaft mit sich: ganz wie ein einfacher, ruhiger Sonntagnachmittag, der zu jeder Woche dazugehört. Rosalie Ernst
Rachel Chinouriri
„What A Devastating Turn Of Events“
( Parlophone )
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Rachel Chinouriri hat Buzz: Die britisch-simbabweanische Singer-Songwriterin wird gerade als eine der heißesten Newcomerinnen des Jahres gehandelt. Nicht nur wegen ihrer Stimme, die kraftvollen Pop-Rock genauso wie ein wisperndes, Gänsehaut bewirkendes Falsetto beherrscht. Es ist auch die Nahbarkeit ihres Songwritings, das Fragen um gescheiterte romantische Beziehungen, Identitätsfindung und Zugehörigkeit auf den Kopf trifft – und dabei trotzdem eine Prise britischen Cheek in der Tradition von Lily Allen und Kate Nash einstreut. Mit „What A Devastating Turn Of Events“ hat Chinouriri, die in der britischen Indie-Ära großgeworden ist, das Album geschrieben, das sie als Teenager selbst gern gehört hätte. Inklusive der Repräsentation einer Schwarzen Künstlerin im Indie-Pop. Sie wehrt sich gegen die Labels des R’n’B und Neo-Souls, die ihr entgegen ihres Genres oft angedichtet werden. Neben den intimen und tagebuchhaften Selbstreflexionen sticht besonders der Titeltrack des Albums heraus: die wahre Geschichte einer Verwandten, die sich aufgrund einer ungeplanten Schwangerschaft und der fehlenden Unterstützung ihres Umfelds das Leben nimmt. Chinouriri beweist, wie man eingängigen Indie-Pop mit politischen Dimensionen verbinden kann. Lads und ihre Exzesse haben ausgedient. Das ist der neue britische Indie-Kanon. Sophie Boche
La Luz
„News Of The Universe“
( Subpop )
VÖ: 24.05.
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„You can be a mystery if you really want to be“, singen La Luz auf „Good Luck With Your Secret“. Ja, good luck, sich diesem Banger-Album zu entziehen! Die Dringlichkeit ist inhärent: Bandleaderin Shana Cleveland beschreibt „News Of The Universe“ als den Tod selbst – die letzten Momente, bevor ein Asteroid die Erde zerstört. La Luz haben immer schon rhythmisch und musikalisch verlässlich abgeliefert. Auf „News Of The Universe“ legen sie alle Asse auf den Tisch. Die Songs sind überraschend, Melodien weichen ab vom Gewohnten. Referenzen sind in weiter Ferne erkennbar, aber auch sie sind eher unerwartet: Der Opener „Reaching Up To The Sun“ ist eine A-cappella-Performance, erinnernd an ihr älteres „Sleep Till They Die“. Auffallend am ganzen Album ist die Liebe zum Detail: die kreativen Aufnahmen – gespickt mit allerhand Überraschungen, wenn man hinhört. Absacker gibt es auf „News Of The Universe“ keine. Es nährt das Gefühl, dass der Zeitgeist sich zu drehen beginnt. In der Zeit von 100 gecs und Charli XCXs Boiler Room Set ist der Sound von La Luz wegweisend. Old-School-Instrumente haben auf jeden Fall etwas Erfrischendes. Es macht Spaß ohne Trap-Beats. „News Of The Universe“ ist ein grandioses Glanzstück. „Change Is The Only Law“ heißt es im Titeltrack – ja, manches wird auch wirklich besser. Franziska Schwarz
Yosa Peit
„Gut Buster“
( Fire Records )
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„Gut Buster“ nennt man eigentlich einen besonders lustigen Witz, einen, der im Grunde die Gedärme durch starkes Lachen zerreißt. Und die Gedärme sitzen ja bekanntlich mitten in uns. Aus dieser Sicht, aus der Mitte heraus, wollte Yosa Peit mit ihrem neuen Album unsere Gesellschaft sezieren. Sie kritisiert aber nicht nur den Kapitalismus in seiner Gesamtheit, sondern auch die Musikindustrie im Speziellen. Aber vor allem musikalisch ist „Gut Buster“ aufregend. Denn einerseits wirken eigentlich alle Songs, als wären sie in den Achtzigern entstanden und mit einer Zeitmaschine in die Zukunft gereist, um noch mal einen ultramodernen Schliff zu erhalten. So klingt ein Prince-Synth wie in „TOWER FLOWER“ hyper-technoid. Yosas wundervolle Stimme spielt mit groovigem R’n’B, geisterhaften Electronica und psychedelischem Rock. „Gut Buster“ ist damit ein sinnvoller Nachfolger von Yosas 2022er-Debüt „Phyton“. Ihr musikalisches Verständnis gibt die Yosa Peit u. a. als Gründerin und musikalische Leitung von „Error Music – don’t delete!“ an Mädchen, trans, inter und nicht-binäre Kids in Berlin weiter. Der finale, 15. Song der Platte hört dann auf den Namen „GUT IS GOD“ und spielt mit dem deutschen Wort „gut“. Alles wird gut, irgendwie, solange die Musik spielt. Simone Bauer
Sia
„Reasonable Woman“
( Atlantic Records )
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Als feste Instanz im Songwriting-Kosmos hat Sia bereits für Megahits wie „Diamonds“ (Rihanna) oder „Pretty Hurts“ (Beyoncé) gesorgt. Nun hat die australische Popsängerin endlich wieder für sich geschrieben und meldet sich mit ihrem neuen Album „Reasonable Woman“ aus ihrer achtjährigen Soloalbum-Pause zurück. In rund 45 Minuten erzeugt sie ekstatisch Zustände, die ihrem lyrischen Ich erlauben, unterschiedliche Seelenzustände zu erleben, ganz nach Sias Geschmack. Spürbar ehrlich hört sich bedingungslose romantische Hingabe in „Rock And Balloon“ und „I Forgive You“ an. „Dance Alone“ ist eine Erinnerung daran, wie leidenschaftliches Tanzen ein Befreiungsakt sein kann und „Gimme Love“ eine verzweifelte Aufforderung, geliebt zu werden. Durchweg glänzt Sias volle Stimme, die manchmal zerbrechlich und manchmal wuchtig klingt. Viel prominente Unterstützung von Chaka Khan, Kylie Minogue und Tierra Whack, um nur wenige aufzuzählen, verfeinert das Stück. In Sias Gesamtwerk gliedert sich „Reasonable Woman“ wunderbar ein, schafft es dabei jedoch nicht herauszustechen. Nichtsdestotrotz legt Sia damit ein solides Comeback von ihrem kontroversen Regiedebüt „Music“ aus dem Jahr 2021 hin. „Reasonable Woman“ versorgt alle, die es brauchen, mit emotionalen Hymnen und zeigt wieder einmal: Sia hat einfach den Dreh raus. Sofia Paule
MaidaVale
„Sun Dog“
( Silver Dagger Records )
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Die schwedische Band MaidaVale neigt nicht zu Schnellschüssen: Ganze sechs Jahre ist es her, dass ihr hochgelobtes zweites Album „Madness Is Too Pure“ erschien. Johanna Hansson, Linn Johannesson, Matilda Roth und Sofia Ström lernten sich 2012 auf einer Musikschule in Gotland kennen, teilten dieselben Vorlieben: Prog-, Kraut- und Psychedelic-Rock aus den Sechziger- und Siebzigerjahren – und gründeten eine Band, auf die sich von jugendlichen Styler-Girls bis zu älteren Rock-Haudegen sehr viele Menschen einigen konnten. Für die neue Platte „Sun Dog“ hoben die Musikerinnen ihr eigenes Label Silver Dagger aus der Taufe und erweiterten ihren musikalischen Kosmos u. a. mit nordafrikanischen Einflüssen. Besonders deutlich kommen diese auf der vorab veröffentlichten Single „Faces (Where Is Life)“ zur Geltung: Die tribal-psychedelische Percussion stammt von Tinariwen-Mitglied Said Ag Ayad und ergänzt die fuzzy Gitarrenparts und Roths herrlich räudige Vocals aufs Allerbeste. In anderen Tracks wie „Control“ oder dem ironischen „Wide Smile, All Is Fine“ schälen sich hypnotische Grooves heraus, die an Kraut-Ikonen wie Can oder die Freak-Frauenband Pulsallama erinnern. MaidaVale changieren zwischen kosmisch inspirierter Improvisation und perfektionistischem Könnerinnentum, gönnen sich Shoegaze-Experimente wie „Pretty Places“ ebenso wie trockeneisvernebelten Stonerrock („Fools“) – keine Widersprüche, sondern selbstbewusste Weiterentwicklung. Christina Mohr
Brimheim
„Rat King“
( Tambourhinoceros )
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Brimheim ist zurück. Am 22. März veröffentlichte die faröisch-dänische Sängerin ihr zweites Studioalbum mit zwölf neuen Songs. Brimheim ist 34 Jahre alt und scheint sich nach und nach eine substanzvolle, stilsichere Karriere aufzubauen – ohne dafür einen Hype-Stunt im Teenageralter vollbringen zu müssen. Mit ihrem düsteren Klang und ihren messerscharf beobachteten, klugen Lyrics ist sie 2022 mit ihrem Debütalbum „I Can’t Hate Myself Into A Different Shape“ auf der größeren Bildfläche erschienen. Sie ist merkwürdig, sexy, verträumt, melancholisch und verdammt gut in ihrem Job als Musikerin, Sängerin und Songwriterin. So ist ihr neues Album „Ratking“ ein nahtlos an den Ersterfolg anknüpfendes Sammelsurium aus eingängigen Alternative-Songs. Gitarrenriffs und Indie-Drums, diverse Synthesizer-Klänge, Bass und ein paar dezente Streicher malen eine sehnsüchtige Leichtigkeit in die Luft. Mit einer energiegeladenen Dringlichkeit spielt Brimheim mit der Vielfältigkeit ihrer Stimme und besingt die Liebe, ihr Verhältnis zu sich selbst, Unsicherheiten und die gesellschaftlichen Anforderungen an Frauen. Dabei blickt sie mit einer allumfassenden Wärme und einem dezenten Anflug von Ekel auf die Windungen und Wirrungen von zwischenmenschlichen Beziehungen und seziert wie eine Magierin im OP-Gewand die diversen Schattierungen der inneren Dunkelheit. „Snow Angels“ ist so soft wie Zuckerwatte: „By loving me you make me real“. „Into The Ooze“ ist ein feministisches Statement: „Do you remember what you said? This girl’s never gonna go feral, now she’s ripping off your head“. Und so ist jeder der zwölf Albumsongs einzigartig, empowernd und bewegt sich in einem authentischen Raum zwischen hart und zart, verträumt und bodenständig, wütend und liebevoll. Vanessa Sonnenfroh
Nailah Hunter
„Lovegaze“
( Fatpossum )
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Ambient hat seinen Moment: Nachdem André 3000, Musiklegende und Teil von Outkast, 2023 ein Soloalbum mit Flöten statt Basslines rausbrachte, hat es das Genre zumindest diskursiv in den Mainstream geschafft. Nailah Hunter macht seit 2019 Musik, die nicht immer Ambient, aber sehr davon inspiriert ist. Die Harfistin hat auch schon Meditationsmusik veröffentlicht (wie übrigens auch Lil’ Jon – kein Scherz!). Sie hätte easy auf den André-3000-Zug aufspringen können, tut es aber nicht. „Lovegaze“, das neue, knapp vierzigminütige Album der Musikerin aus Los Angeles, ist eine Weiterentwicklung ihrer Musik. Weniger Abstraktion und experimenteller Sound, mehr Vocals und Bass. Der Opening Track „Strange Delights“ hat eine Bassline, was für Nailah Hunter ungewöhnlich ist. „Finding Mirrors“ ist die erste Singleauskopplung und sicherlich der radiotauglichste Song. Ihr Gesang erinnert auf diesem Song stellenweise an Kelela. Das Album hat sie in Großbritannien aufgenommen und die Konzertharfe gegen eine keltische Harfe eingetauscht. Ihr Signature Instrument ist immer noch auf diesem Album präsent, wenn auch nicht mehr so sehr wie auf ihrer Debüt-EP „Spells“ aus dem Jahr 2020 (die mit sehr wenig Gesang auskommt). Und wie alles von Nailah Hunter ist auch „Lovegaze“ – so banal es klingt – sehr, sehr schöne Musik. Caren Miesenberger
Tyla
„Tyla“
( Epic Records )
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Tyla ist mehr als nur heißes Wasser. Sie zeigt uns mit ihrem Debütalbum „Tyla“ ihre Soundwelt, die durch einen Mix aus Amapiano (südafrikanisches House-Genre), R’n’B und einem Spritzer Afrobeats besticht. Ihr Sound ist international und zeigt auf, dass sie kein One-Hit-Wonder von TikTok ist. Sexy, tanzbar und insbesondere eines: sowas von Pop. Auf zwölf Songs nimmt sie uns mit in eine Welt, die sinnliche Fantasien weckt. Ähnlich wie Ariana Grande auf ihrem Album „Positions“ wirkt diese Welt jedoch unschuldig. Die Grammy-Gewinnerin in der Kategorie Best African Music zeigt uns, dass sie die „Queen of Pop“ werden möchte. Zwar kann es für Menschen, denen die afrikanische Soundkultur nicht bekannt ist, herausfordernd sein die Elemente herauszuhören, doch als Afrobeats allein kann man das nicht klassifizieren. Ihr Sound ist sehr US-Pop. Und das macht sie nicht schlecht. In einem Radiointerview klassifiziert sie ihr Album als „Popiano“ – ein Mix aus Amapiano und Popgenres. Die 22-Jährige zeigt auf ihrem Debütalbum, dass ihre musikalischen Schritte gut durchdacht sind. Mehr noch, sie könnte eine neue Ära des Pops einläuten. Neue TikTok-Trends zu ihren Songs sind schon auf den verschiedensten „For You Pages“ zu finden, also bald auch im Radio und in den Clubs. Ein Album, das Lust auf warme Frühlingsnächte macht. Abena Appiah
Tierra Whack
„World Wide Whack“
( Universal )
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Dieses WWW hat dem Internet einiges voraus: Es behält Vielfältigkeit und Möglichkeiten bei, kommt aber ganz ohne Spam und Fake News aus. Thierra Whack bietet auch fünf Jahre nach ihrem erfolgreichen Debüt sehr viel Inhalt auf sehr wenig Raum. Die wenigsten Songs knacken die Drei-Minuten-Marke und haben doch mehr zu sagen als so manches aufgeblasene Konzeptalbum. Whacks Algorithmus swipt dabei schonungslos schnell von lustigem Content und Rap-Gepose bis zu Dark-Web-Material. Und es funktioniert einfach alles: Sowohl den lässigen Stand-up-würdigen Rap in „Chanel Pit“ („Mosh pit smellin’ like Chanel“) als auch die smoothen R’n’B-Vibes zu den eigenen Ansprüchen an eine Beziehung („Moovies“) oder das gemurmelte Abfucken über die ewig Unzufriedenen („Burning Brains“) spielt Whack locker und auf den Punkt. Von selbstbewusster Style-Prahlerei („Invitation“) bis zum nihilistischen Abgrund („Got a gun to the head / Don’t tempt me“ in „27 Club“) vergeht da circa so viel Zeit wie vom Wandel von Nineties-HipHop bis zu Synthie-Flächen. Dabei schafft Whack das Kunststück, in algorithmusfreundlicher Länge eine ganze Persönlichkeit abzubilden: die tiefsten Abgründe, die Hypes, die Zweifel. Und all das auf der gleichen URL ihres unverkennbaren Mumble-Raps. Julia Köhler
Gustaf
„Package Pt. 2“
( Royal Mountain Records )
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Wer Gustaf bereits live erleben konnte, weiß, wie viel Energie die fünf New Yorker*innen freisetzen können – als Musiker*innen auf der Bühne selbst, wie auch im begeisterten Publikum. Mit „Package Pt. 2“ veröffentlichen sie nun den Nachfolger ihres gewürdigten Debüts „Audio Drag For Ego Slobs“ aus dem Jahr 2021. Irgendwo zwischen No Wave und Post-Punk haben Gustaf 2018 begonnen, sich eine Nische einzurichten, in der sie sich im eigenwilligen Sound treu bleiben und dennoch fortschreitend experimentieren und entwickeln können. Sie selbst nennen das ganze Art Punk, monotone Rhythmen treffen dabei auf verspielte Percussion, gesprochene und geschriene Passagen auf tief-gepitchte Backing Vocals und repetitive Gitarrenläufe auf aufbrechende und tragende Melodien. Das klingt nach einer wilden Mischung, die sich erfreulicherweise dennoch in der eigenen Sperrigkeit zu einem großen Ganzen zusammenbringen lässt. Fantastische Live-Erlebnisse mit der guten Prise Wahnsinn lassen sich oftmals allerdings schwer auf Platte festhalten und so vermittelt sich „Package Pt. 2“ vermutlich auch direkter im Club oder Konzertsaal als über die heimischen Lautsprecher. Dem Mitsingen unter der Dusche, Abzappeln vor dem Spiegel und dem Hoffen auf einen Tourzwischenstopp in erreichbarer Nähe wird es aber allemal gerecht! Nicole Dannheisig
Flo Milli
„Fine Ho, Stay“
( 94 Sounds / RCA Records )
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Tamia Monique Carter, bekannt als Flo Milli, beendet die „Ho“-Trilogie. Nach ihrem Mixtape „Ho, Why Is You Here?“ und ihrem Debütalbum „You Still Here, Ho?“ folgt nun ihr zweites Studioalbum „Fine Ho, Stay“. Ja, die Rapperin ist weltweit durch TikTok bekannt geworden, aber sie ist mehr als das. Mit neun Jahren schrieb sie ihren ersten Song und bringt den Atlanta Sound ihrer Vorbilder T. I. oder Young Thug zurück. Und das ist genau das, was die alten und jungen Kinder des HipHops brauchen. Sie versteht, was die Leute wollen. Aus diesem Grund gibt es ihre Release-Single, zugleich der bekannteste Song des Albums, „Never Lose Me“, noch schön aufgehübscht mit zwei Größen der Musikwelt – SZA und Cardi B. Nach den Remixen mit Bryson Tiller und Lil Yachty hat Flo auch hier eine Trilogie vollendet. Im Dreierteam setzen die Damen einen drauf und geben dem Song eine neue Bedeutung. Pussy-Power! Und das lieben wir. Wie ihren Sound, denn der ist erfrischend anders. Ein Mix aus Fairy-Rap wie in „Toats“ und Punching-Bars wie in „Got The Juice“. Flo nimmt sich auf diesem Album nicht zu ernst. And I’m not mad about it. Mad macht mich nur, dass dieses Album mit knapp 33 Minuten ein kurzes ist. Das fällt zwar bei den verschiedenen musikalischen Settings erst im Nachhinein auf, aber einige Songs haben so gute Beats und Lines, dass sie gerne etwas länger sein könnten. Abena Appiah
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 03/24.