In der Mitte des Bildes ist eine bunte Sonnenblume zu sehen, in deren Mitte sich ein Augapfel befindet, in dem eine rote Linie zu sehen ist.
© Miki Kim

Taiwan gilt als queere Utopie Asiens – und ist zugleich von einer potenziellen Invasion durch die Volksrepublik China bedroht. Für die akademische Queer Theory ebenso wie die aktivistische LGBTIQ-Bewegung in Taiwan geht das mit besonderen Herausforderungen einher: Was bedeutet Taiwans geopolitische Situation für die Innen- und Außenpolitik, für Überlegungen rund um nationalstaatliche Identität und Antiimperialismus? Ein Gespräch mit der kritischen Soziologin Wen Liu, die an der Academia Sinica in Taipeh forscht und an der Staatlichen Universität Taiwan Queer Theory unterrichtet.

In deiner wissenschaftlichen Arbeit hinterfragst du Grundannahmen der US-zentrischen Queer Theory, kritisierst aber auch diejenigen, die sich kulturell auf „das Chinesische“ beziehen, um nicht-westliche, nicht-liberale Alternativen für queere Emanzipation zu theoretisieren. Wie kommt es zu diesem Spannungsfeld?
Wen Liu: Es waren zunächst vor allem waishengren – d. h. Migrant*innen vom chinesischen Festland, die in den 1940er-Jahren während und nach dem chinesischen Bürgerkrieg nach Taiwan kamen, sowie ihre Kinder –, die in den USA studieren konnten. Von dort kehrten berühmte Wisssenschaftler*innen wie Josephine Ho und Ying-Bing Ning mit Queer Theory im Gepäck zurück nach Taiwan. In den USA enthält Queer

Theory starke antinationalstaatliche und antiimperialistische Elemente. Also haben diese ethnisch eher chinesisch geprägten Intellektuellen die nationale taiwanesische Identität, die sich gemeinsam mit der Demokratisierungsbewegung in den 1990ern herausbildete, kritisiert. Sie argumentierten, dass Taiwan den westlichen Liberalismus und das US-Imperium ablehnen und sich stattdessen auf die Tradition des chinesischen Sozialismus beziehen müsse, um ein neues asiatisches Zentrum oder gar eine chinesisch geprägte Sexualitätsphilosophie zu entwickeln.

Es kam jedoch ganz anders. Heute grenzt sich die LGBTIQ-Bewegung eher von der Volksrepublik China und der Kuomintang (KMT) ab, deren Parteiführer*innen nach ihrer Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg gegen die Kommunistische Partei Chinas 1949 nach Taiwan geflohen waren. Unter ihrer Herrschaft wurde Taiwan zu einem autoritären Einparteienstaat, während die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) in den späten 1980er-Jahren im Zuge der Demokratisierungsbewegu…