Mein hypothetischer Penis
Kolumnist*in:
Es ist 11:11 Uhr an einem Dienstag und mich haben bereits zwei Unbekannte nach meinem Penis gefragt. Im Gegensatz zu dem Arzt, den ich interviewe, und der Autorin, die ich einmal getroffen habe und privat null kenne, habe ich mir bis vor Kurzem wenig Gedanken zu meinem Penis gemacht. Dabei beschäftige ich mich seit einem Jahr mit zwanzig Prozent meiner mentalen Kapazitäten mit meiner Transition, was sehr viel ist.
Das Begehren nach einem eigenen Penis, zumal einem aus Fleisch und Blut, ist in queeren Kreisen wenig präsent. Ich kenne zwei Dutzend transmaskuline Personen mit Mastektomien und Hormontherapien und nur eine mit Phalloplastik. Von den 2598 geschlechtsangleichenden OPs in Deutschland 2021 entfallen unter fünfhundert auf Phalloplastiken (bei der mittels dem Unterarm oder Oberschenkel entnommener Haut ein Penoid geformt wird). „Love your Vagina“-Workshops, -Bücher und -Buttons sind allgegenwärtig, aber ich finde kein feministisches Pendant, das eine solidarische und lustvolle Penispraxis verspricht. Und in erklärtermaßen queeren Pornos ist mir noch nie eine Person mit Penoid untergekommen.
Es ist naheliegend, dass der Peniswunsch einen schlechten Ruf unter Feminist*innen hat. Neben der massiven Gewalt, die der Penis verkörpert, sind wir, seit wir denken können, mit der Freud’schen These vom Penisneid konfrontiert, nach der vielen Menschen zeit ihres Lebens etwas fehlt. Ich glaube, dass der Penisneid ein Ablenkungsmanöver ist. Dass sich dahinter die Angst verbirgt, dass, wenn jemand den Penis erlangen kann, wer anders ihn auch verlieren kann. Wie sähe eine Welt aus, in der jeder einen Penis besitzen könnte? Der Penis wird uns mit aller Macht als Ankunft verkauft, als eindeutiges, unwiderrufliches Symbol. Das macht ihn so gefährlich.
Ich habe mich bewusst entschieden, über meinen Penis nachzudenken. Mir fällt auf, dass ich es mag, ein weiches Pad so groß wie die Einlage eines Push-up-BHs in meinen Briefs zu tragen und es beim Gehen an meinem Genital zu spüren. Ich telefoniere mit einer Epithetikerin, die individuelle Penisprothesen anfertigt, und mache einen Termin für ein Beratungsgespräch aus. Ich glaube nicht, dass ich eine Phalloplastik durchführen lassen werde, aber wer weiß – vor zwei Jahren dachte ich auch noch, ich sei eine Frau.
Manchmal wünschte ich mir die trügerische Eindeutigkeit eines cis Penis. Dann bin ich traurig, dass ich niemanden schwängern kann. Manchmal bin ich froh, dass ich meinen Penis abnehmen und wieder anbringen kann, metaphorisch und ganz praktisch. „I have many names and many dicks“, schreibt D Mortimer in deren Buch „Last Night A Beef Jerk Saved My Life“ und weiter: „Isn’t it beautiful to have so many places to house the many versions of yourself, and that’s a type of protection, like hiding your god in different places?“
Wir dürfen uns Penisse wünschen – und uns dann wieder keine wünschen. Den Penisneid zulassen und betrauern, dass wir nicht schon immer und selbstverständlich einen Penis gehabt haben. Wir dürfen unsere Penisse jeden Tag verändern, wie unsere Pronomen und Namen, ohne dass sie dadurch weniger real wären.
Und an all die cis Menschen, die mich nach meinem Penis gefragt haben: Ich glaube, er wäre etwas kürzer als der Durchschnitt und dafür überdurchschnittlich dick (ha). Mein Penis wäre schüchtern, aber ausdauernd. Mein Penis wäre ein Remix aller Penisse, die sich meine Lovers je an mir vorgestellt haben. Mein Penis hätte massive Erektionsprobleme, bis ich eines Tages in deinen Armen, liebe*r Leser*in, aufhören könnte, Penisse zu fürchten.
Dieser Text erschien zuerst in Missy 04/24.