Ein brauner Stuhl auf dem ein blaues Buch liegt.
© Stefanie Kulisch

Am Himmel die Flüsse 
Elif Shafak erzählt die Geschichte eines verlorenen Gedichts aus Mesopotamien, zweier großer Flüsse und von drei Personen, die alle durch einen Tropfen Wasser miteinander verbunden sind. Arthur, 1840 in ärmlichsten Verhältnissen am Ufer der Themse geboren, entziffert als hochbegabter Autodidakt Keilschrifttafeln im British Museum und entdeckt das Gilgamesch-Epos wieder. Die neunjährigen Êzidîn Narin lebt 2014 am türkischen Ufer des Tigris und reist mit ihrer Großmutter in das irakische Dorf ihrer Ururgroßmutter, wo sie Zeugin des Genozids an ihrem Volk durch den IS wird. Zaleekhah lebt 2018 in London, arbeitet als Hydrologin und forscht heimlich weiter an der These ihres verstorbenen Mentors, dass Wasser ein Gedächtnis hat. Die britisch-türkische Schriftstellerin nimmt ihre Leser*innen mit auf eine faszinierende Reise durch Zeit und Raum, auf der sie viel Historisches und Mythologisches einfließen, aber auch Menschen sprechen lässt, die man zum Schweigen gebracht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat. Trotz der komplexen Handlung und der vielen, mitunter schweren Themen schafft sie es durch die gekonnte Leichtigkeit, mit der sie diese verknüpft, einen regelrechten Lesesog zu entwickeln. Nicole Hoffmann

Elif Shafak „Am Himmel die Flüsse“ ( Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Hanser, 592 S., 28 Euro )


Brown Girls
Sie leben im „miesen Teil von Queens“ rund um den Queens Boulevard. Umgeben von 99-Cent-Shops, Nagelstudios, Autowerkstätten und Elektronik-Discountern wachsen die „Brown Girls“ im gleichnamigen Debüt der gebürtigen New Yorkerin Daphne Palasi Andreades auf (in der deutschen Übersetzung wurde dieser Begriff im Titel zum Glück übernommen). Zu Beginn des Romans sind die Girls kaum zehn Jahre alt, die Autorin folgt ihren Leben vom Erwachsenwerden bis zum Tod. Das Besondere daran: Der Text ist in der Wir-Form geschrieben, als Chor. Dieser Chor hat eine doppelte Funktion. Er betont zum einen die Erfahrungen, die die marginalisierten Mädchen teilen. Es geht aber auch um die Außenwahrnehmung – sie müssen als Repräsentantinnen ihrer Hautfarbe und Herkunft auftreten. Aber natürlich sind nicht alle Girls in „Brown Girls“ Mädchen bzw. Frauen, einige outen sich auch als nicht-binär oder trans Männer. Palasi Andreades benötigt nur einen kurzen Satz, um ein doppeltes Dilemma zu benennen. „Brave ‚Mädchen‘, wir sind brave Mädchen“, heißt es, die Anführungszeichen als Marker für den Identitätskonflikt und das „brav“ als Hinweis auf die Erwartungshaltung der Familie. „Brown Girls“ ist trotz seiner Kürze ein vielschichtiger, kluger und intensiver Roman, mit dem Daphne Palasi Andreades beweist, dass man auf der Suche nach der so oft beschrienen Great American Novel vielleicht nicht in die weiß-bürgerliche Schicht, sondern in die Peripherie gehen sollte. Isabella Caldart

Daphne Palasi Andreades „Brown Girls“ ( Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Luchterhand, 240 S., 20 Euro ) 


Schlaglicht
Der Staub schillert in Bobs Boxpalast in Reno, Nevada, wie Pailletten. Hier stehen Vitrinen voller Plastiktrophäen, mit Goldfarbe besprüht, hier hängt ein rotes Transparent in der Luft: „Daughters of America Cup“, die US-amerikanische Jugendmeisterschaft im Frauenboxen. Dieser nicht gerade glamouröse, eher vor sich hin bröckelnde Ort ist die Kulisse von Rita Bullwinkels Roman „Schlaglicht“. Fernab der Öffentlichkeit, vor uninteressierten Jurymitgliedern und wenigen Angehörigen kommen an einem Wochenende acht junge Frauen in diesem Gym zusammen. Alle wollen eins: gewinnen. Dafür werden ihre Körper zu ihren Werkzeugen, die sie erbarmungslos, keuchend und geduldig einsetzen. Jede kämpft mit einer anderen Strategie und jede steigt gleichzeitig auch gegen sich selbst in den Ring – konfrontiert mit alten Dämonen und Vorstellungen vom eigenen Ich. Alle Figuren werden gerade erwachsen, wollen in die Welt treten, gesehen werden, ihre eigene Macht fühlen. Denn: Boxen ist ein Kontaktsport. Hier misst sich ein Körper am nächsten, eine Faust kracht auf die andere. Und genau dann, wenn es um alles geht, gelingt der Autorin ein schonungsloser Blick auf Verletzlichkeiten, Power und Sehnsüchte – und auf weibliche Körperlichkeit fernab von Sexualisierung. Jedem der Fights widmet die Autorin ein Kapitel, in dem ihr*e allwissende*r Erzähler*in in das Leben der Boxerinnen zoomt und deren Vergangenheit und Zukunft vor und nach Bobs Boxpalast beleuchtet. Eine originelle Erzählstruktur, in der man sich beim Lesen direkt verfängt. Dabei trifft die Autorin einen rauen, präzisen und leuchtenden Ton, der sitzt wie der linke Haken ihrer Siegerin. Das liest sich neu und anders – und in jedem Fall atemlos. Hanna KoppRita Bullwinkel „Schlaglicht“ ( Aus dem Englischen von Christiane Neudecker. Aufbau, 256 S., 24 Euro )

Schattenvolk
Die chinesische Autorin Can Xue veröffentlichte in den Jahren 1996 bis 2018 in verschiedenen Zeitschriften Erzählungen, die nun im Band „Schattenvolk“ zum ersten Mal auf Deutsch übersetzt erscheinen. In den wundersamen Geschichten kreierte sie nicht nur menschliche Zwischenwelten, sondern fragte auch, was Menschen von Tieren lernen können, indem sie aus deren Perspektive schrieb, z. B. über das Leben einer Elster und von Zikaden. Als permanente Gefahr kommt der Mensch dabei nicht besonders gut weg. Die mit fast hundert Seiten längste Erzählung des Bandes begleitet eine Ratte auf ihrem andauernden Überlebenskampf in einem Slum. Die oft belanglosen Beobachtungen des Nagetiers und sein fehlendes Deutungsvermögen machen es schwer, sich mit ihm verbunden zu fühlen, und auch wenn das dem körperlichen Zerfall der Ratte geschuldet ist, wird es zäh für die Leser*innen. Erst der Aufenthalt bei einer Frau, die das Tier bei sich aufnimmt und es gründlich reinigt, bricht die Distanz auf und damit auch das hiesige Konzept von Haustieren und davon, mit welchen Lebewesen sich der Mensch zugehörig fühlen kann. Dass Xue eine literarische Entdeckung ist, deren (Sprach-)Welten die Lesenden nicht loslassen, zeigen Geschichten wie „Sumpfgebiet“, in der die schnörkellose und direkte Sprache der Autorin menschliche Sehnsüchte mit einer sumpfigen Fantasiewelt verschwimmen lässt, und die Titelgeschichte, in der die Realität von den Halluzinationen sogenannter „Schattenmenschen“ nicht mehr zu trennen ist. Can Xue fängt Unterbewusstes und Mystisches mit ihren Worten ein und zeigt, warum sie als wichtigste Autorin der literarischen Avantgarde Chinas gilt. Lorina Speder

Can Xue „Schattenvolk“ ( Aus dem Chinesischen von Eva Schestag. Matthes & Seitz, 366 S., 26 Euro )


Juli, August, September
Lou heißt eigentlich Ludmilla und ist unglücklich. Olga Grjasnowas Roman „Juli, August, September“ gibt für einen Sommer Einblicke in Lous Leben, die mit abwesendem Ehemann und verwöhnter Tochter in einer Berliner Eigentumswohnung mit Flügeltüren lebt. Im Verlauf der kurzweiligen zweihundert Seiten entblättern sich die komplexen Schichten ihrer Identität. Es geht um konfliktreiche Mutterschaft, eine einengende Ehe und die jüdische Familiengeschichte. Lou fragt sich, was Jüdischsein jenseits von „kultureller Performance“ für sie bedeutet: „Wir alle hatten den Eintrag ‚Jude‘ in unserer Geburtsurkunde (…), aber es gab kaum Traditionen, die übrig geblieben wären.“ So macht sie sich auf die Reise, um ihre innere Leere zu füllen und Wahrheit zu finden. Auf Gran Canaria und in Israel spürt Lou dabei die weiblichen Traumata der Familie auf. Handlung und Dialoge sind in Grjasnowas neuem Roman im Staccato aneinandergereiht. So werden die vielschichtigen Themen nur angerissen und wirken durch sprachliche Reduktion holzschnittartig. Der Text erscheint dadurch flüchtig, was stilistisch zu Lous Familienbeziehungen passt, doch leider bleibt die Leserin mit den vielen angefangenen Erzählsträngen in den Händen etwas ratlos zurück. Ein Sommer scheint zu wenig Zeit zu sein, um sich in dieses interessante Mosaik aus Konflikten, das sich gerade erst zwischen den Seiten zu entfalten beginnt, zu vertiefen. Ticha Matting

Olga Grjasnowa „Juli, August, September“ ( Hanser, 224 S., 24 Euro ) VÖ 17.09.


Die vorletzte Frau
Eine Studentin am Leipziger Literaturinstitut verliebt sich in einen 19 Jahre älteren Dozenten, einen Schweizer Schriftsteller. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter zieht sie nach Berlin, um eine Lebenspartnerschaft mit ihm einzugehen. Die Beziehung bleibt ein Ringen um Nähe und Distanz. Ganz konventionell wird sie nie, dennoch werden die beiden gemeinsam älter. Dann erkrankt er an Krebs und sie pflegt ihn, den Mann, der sich immer verdrückt hat, wenn sie selbst krank wurde. Seine Pflegefähigkeit wäre, so lautet seine Erklärung, bereits durch den Krebstod seines jüngeren Bruders erschöpft. Ihre Pflegefähigkeit wiederum ist – trotz einer traumatischen Zeit als Mutter eines Frühchens – noch voll vorhanden. Ums Gemeinsam-älter-Werden, darum, auf verschiedene Arten eine Familie zu sein, und um Kunst geht es in dem ehrlichen, autobiografischen Roman „Die vorletzte Frau“ der Schriftstellerin Katja Oskamp, die 2019 mit „Marzahn, mon amour“ einen Bestseller über ihre Erfahrungen als Fußpflegerin schrieb. Ihre verschiedenen Rollen als Mutter, Schriftstellerin und Geliebte eines Schriftstellers reflektiert sie voller Empathie und Verständnis für alle Beteiligten. Trotzdem ist es irritierend zu lesen, wie der Schweizer Schriftsteller nach dem Ende der Beziehung mit ihr, der titelgebenden vorletzten Frau, auf eine 32 Jahre jüngere Frau umsteigt – und die Abhängigkeiten dieser Beziehung dann doch nur nebenbei benannt werden. Anna Mayrhauser

Katja Oskamp „Die vorletzte Frau“ ( park x ullstein, 208 S., 22 Euro )


Ein menschlicher Fehler
In Briefen, die die Protagonistin Lim Hae-Su in „Ein menschlicher Fehler“ schreibt und nie abschickt, wird langsam ihr Dilemma klar. Es beginnt mit Gerüchten und Memes über die Therapeutin, nachdem die Mittvierzigerin eine Bemerkung in einer Fernsehsendung über die Psyche eines Promis gemacht hat. Bald wird sie sogar auf der Straße erkannt und beleidigt, denn besagter Promi nimmt sich aufgrund ihrer Aussagen das Leben. Und so verschwinden aus Hae-Sus Leben ihr Job, ihr Partner, ihr Lebensinhalt. Eine streunende Katze auf der Straße bringt sie schließlich aus diesem Trott. Ab diesem Zeitpunkt wird Hae-Sus Vergangenheit parallel zur Gegenwart erzählt, in der sie die Katze „Rübe“ rettet, zusammen mit dem zehnjährigen Nachbarsmädchen Se-I, die auch irgendwie Hilfe benötigt. Kim Hye-Jins Schreibstil ist schnörkellos und dennoch poetisch. Durch das Thema erinnert „Ein menschlicher Fehler“ an eine Kurzgeschichte von Cho Nam-Joo aus deren Anthologie „Miss Kim weiß Bescheid“. Gerade in Südkorea ist das Thema beider Geschichten, Diffamierung im Internet, ein Brisantes, Online-Mobbing führt dort regelmäßig zu Suiziden. Kim Hye-Jin, die mit dem queeren Roman „Die Tochter“ 2022 als literarische Entdeckung gefeiert wurde, kann dabei mit Cho Nam-Joo absolut mithalten. Simone Bauer

Kim Hye-Jin „Ein menschlicher  Fehler“ ( Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Hanser, 224 S., 23 Euro )


Kleine Monster
Es ist kein Spoiler, wenn man verrät, was auf der ersten Seite eines Romans passiert, oder? Bereits nach wenigen Sätzen ist die Grundhandlung in diesem Buch jedenfalls klar: Pia, die Protagonistin von Jessica Linds zweitem Roman „Kleine Monster“, wird in die Schule ihres Sohnes gebeten, um von seiner Lehrerin zu erfahren, dass ihr Sohn ein anderes Kind missbraucht haben soll. Der Sohn, erst sieben Jahre alt, weigert sich, seinen Eltern zu sagen, ob der Vorwurf stimmt. Pia beginnt nicht nur, ihrem Kind zu misstrauen, sondern ihre eigene Kindheit und den Tod ihrer vierjährigen Schwester zu hinterfragen. Ich habe diesen Roman atemlos und gierig gelesen. Jessica Lind schreibt über die Frage, welche Abgründe in Kindern lauern können und welche Abgründe in den Erwachsenen, die sie betrachten. Packend beschreibt sie Pias wachsende Panik, die Beziehung zum Kind, das sie liebt und das ihr Angst macht, und jene zu ihrem Partner. Fast beiläufig beschreibt sie die patriarchalen Zustände in vermeintlich progressiven Beziehungen, und langsam tastet Lind sich daran heran, wie Pias Leben aus dem Gleichgewicht gerät. Sie erzählt gleichzeitig von zwei Kindheiten, in denen Kinder und ihre Eltern düstere Seiten zeigen. Ein mir eigentlich sehr fremder Teil des deutschsprachigen Raumes – St. Pölten in Österreich – kam mir nach der Lektüre vertraut vor, so auch die österreichische Sprachmelodie und der feinsinnige Humor der Autorin. Ein echter Pageturner, den ich noch lieber an irgendeinem Strand gelesen hätte als prokrastinierend auf der Couch. Dana Vowinckel

Jessica Lind „Kleine Monster“ ( Hanser Berlin, 256 S., 24 Euro ) 


Das Verschwinden der Welt
Marta möchte neu anfangen: Nachdem sie die Beziehung zu Cem und ihre Mutter begraben hat, zieht sie in ein Mehrfamilienhaus, das trotz sichtbaren Verfalls ein schönes Gebäude ist. Ihre Nachbar*innen sind Herr Yi, die Dichterin und Lu. Sie alle haben ihre eigenen Dämonen als Begleitung, mit denen sie beschäftigt sind. Marta weiß, wie sich das anfühlt. Sie leidet in der Stille der Wohnung an ihren Verlusten. Als das Haus abgerissen werden soll, möchte sie kämpfen. Mal wieder oszilliert es bei Lin Hierse heftig: Die Autorin hat bereits mit ihrem Erstling „Wovon wir träumen“ eindrucksvoll vorgeführt, wie sie die Grenzen zwischen Realität und Parallelwelten verwischt. Als Leserin ist man sich nie sicher, ob man mit ihren Figuren Tatsächliches erlebt oder Träume, Fantasien, Vorstellungen erzählt bekommt; Raum und Zeit sind nicht eindeutig festgelegt. Dadurch wirken Hierses Texte stets ein bisschen entrückt und entziehen sich der Endgültigkeit. Lin Hierse hat mit „Das Verschwinden der Welt“ ein Gentrifizierungsmärchen vorgelegt, das weit über sich selbst hinausweist. Natürlich drängt sich die Frage danach auf, wo bei allem Fortschritt die Menschlichkeit bleibt, an einer Stelle im Buch sinniert Marta darüber, „was der Unterschied zwischen Zerstörung und Verschwinden“ ist. Hierse rückt ganz behutsam die kleinen Schicksale ins Zentrum, erzählt von Vergänglichkeit und dem Erwachsensein in einer Welt, die ihren Individuen zu viel abverlangt. Herr Yi sagt: „Vielleicht bin ich es, der sich verlaufen hat, in diesem erstarrten Leben.“ Marta hat auf die darin steckende Frage keine Antwort. Ihr Leben ist ebenso erstarrt und ihre Sehnsucht nach Geborgenheit treibt sie an, ohne Aussicht auf Erlösung. Silvia Silko

Lin Hierse „Das Verschwinden der Welt“ ( Piper, 256 S., 22 Euro )

Die Welt hat blaue Haare
Die Welt, das ist für Protagonistin Luisa in Paula Steiners Debüt „Die Welt hat blaue Haare“ ihre Klassenkameradin Dunja. Und zwar wortwörtlich, denn in Luisas selbst geschriebener Geschichte, der Meta-Erzählung dieses Romans, tritt Dunja unter dem Pseudonym „die Welt“ auf. Während diese Metaebene in Richtung psychedelischen Hyperrealismus abdriftet und dabei Luisas eigene Sexualität nahbar und explizit erkundet, bleibt die Erzählebene Luisas ihrem Provinzleben in Schweinfurt verhaftet. Hier warten schräge, aber liebenswürdige Figuren wie die „Entenoma“ auf die Leser*innenschaft, die gemeinsam mit Luisa die Dimensionen des Instagram-Feminismus aus verschiedenen Perspektiven diskutieren. Luisa ist nicht die gottgleiche Heldin dieser Geschichte, sondern ein Produkt ihres konservativen Umfelds, was durch andere Figuren wie Dunja oder Luisas Cousin immer wieder reflektiert wird. In Abgrenzung zur surrealistischen Ebene des Romans wird von Luisas vielschichtiger Welt leicht lesbar, in Alltagssprache, erzählt. Trotz der Tendenz des Romans zum gesellschaftspolitischen Kommentar verliert er seine Leichtigkeit durch diese Sprache und die vielen ulkigen und zeitgeisty Beobachtungen der Erzählerin zum Glück nicht („Er fährt seinen Ständer aus wie Calippo Erdbeer“). Vielmehr zeigt er, dass sich manche Traumata im Surrealismus nun mal besser aufarbeiten lassen als im konservativen Schweinfurt. Steiners Debüt begeistert mit seinem angenehm absurden Verständnis von Coming of Age und queerer Selbstfindung, feinfühlig und immer an der Schwelle zwischen Kummer und Romantik. Julia Köhler

Paula Steiner „Die Welt hat blaue Haare“ ( Leykam , 256 S., 24,50 Euro )


Das Pfauengemälde
Die Filmemacherin Ana reist zur Familie ihres verstorbenen Vaters nach Rumänien, um ihr Erbe anzutreten. Der Familienbesitz, zu dem auch das dem Roman titelgebende Pfauengemälde gehört, das Ana besonders interessiert, wurde von den Kommunisten enteignet und ist seit dem verschollen. Nach jahrelangen Prozessen soll die Familie den Besitz nun zurückerhalten. Für Ana beginnt eine Erkundung von Siebenbürgen, aber auch der Vergangenheit ihrer Familie, deren Schicksal und Verlusten. In Rumänien wird Ana mit bizarrer Bürokratie konfrontiert, mir ihrer lebhaften, verzweigten Verwandtschaft und politischen Protesten. Vor allem aber ist ihre Reise gefärbt von der Trauer um ihren verlorenen Vater. Während die Erbengemeinschaft überlegt, wie das zurückgewonnene Haus aufgeteilt werden soll, begibt Ana sich auf Spurensuche nach dem Gemälde. In Rückblenden erzählt sie dabei von der Verfolgung des Vaters unter Nicolae Ceauşescu, seiner Migrationserfahrung in Deutschland und was es hieß, seine Tochter zu sein, in beiden Ländern. Melancholie und Witz halten sich in diesem Romandebüt von Maria Bidian die Waage und vereinen sowohl poetische, spielerische Sprache und einen rasanten Sommer-Roadtrip. Holle Barbara Zoz

Maria Bidian „Das Pfauengemälde“ ( Zsolnay, 320 S., 24 Euro )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/24.