Filmtipps 05/24
Von
Der schöne Sommer
Turin 1938. Ginia (Yile Yara Vianello), eine junge, unerfahrene Frau, ist gerade vom Land in die Stadt gezogen. Sie trifft Amelia (Deva Cassel) und sofort scheint eine besondere Verbindung zwischen den beiden zu bestehen. Die sinnliche Amelia verdient ihr Geld, indem sie nackt für Maler*innen posiert. Ginias Bruder, Severino (Nicolas Maupas), und eine Freundin, Rosa, versuchen, sie vor Amelia zu warnen. Doch Ginia lässt sich nichts sagen. Stattdessen lässt sie sich von Amelia in die Künstler*innenkreise der Turiner Bohème einführen und die beiden kommen sich näher. Sie erleben einen unvergesslichen Sommer. Den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen und mit Männern zusammen sein oder ihnen widersprechen und lesbisch sein? Das ist die Frage, um die sich alles dreht. Dabei wird auch am Rande die Mussolini-Diktatur thematisiert: Durchs Fenster schallt eine Rede des Diktators und Ginia schließt es entschlossen. Als Amelia krank wird, geraten die beiden Frauen in große Sorge und in einem Streit trennen sich ihre Wege. Das Liebesdrama überzeugt durch ruhige Bilder und verträumte Musik. Interessant: Obwohl der Film eine italienische Produktion ist, ist das Titellied deutsch, „Walzer für Niemand“ von Sophie Hunger – ein ruhiger, fast schon melancholisch-sentimentaler Song. Regisseurin Laura Luchetti zeichnet ein einfühlsames Werk, das von Gefühlen, die nicht gefühlt werden dürfen, handelt. Katrin Börsch
„Der schöne Sommer“ IT 2023 ( Regie: Laura Luchetti. Mit Yile Yara Vianello, Deva Cassel, Adrien Dewitte, Alessandro Piavani u. a., 111 Min., Start: 19.09. )
Samia
„Omar gehört das Herz des Publikums“, hieß es in den Medien, als die somalische Sprinterin Samia Omar 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teilnahm. Weniger als vier Jahre später, mit nur 21 Jahren, ertrank sie vor der Küste Maltas beim Versuch, in einem mit 62 Personen besetzten Schlauchboot nach Europa zu kommen. In ihrer Verfilmung der Lebensgeschichte der Athletin (Ilham Mohamed Osman) erzählt Yasemin Şamdereli anhand eines Einzelschicksals von den drängenden politischen Problemen unserer Gegenwart und gibt nachhaltigen Einblick in die Fluchterfahrungen von Menschen aus dem Globalen Süden, die dafür oft mit dem Leben bezahlen. Das Drehbuch basiert auf dem biografischen Roman des italienischen Journalisten Giuseppe Catozzella. Der sensibel gestaltete Film setzt Omar ein Denkmal und wird dem besonderen Schicksal einer jungen Frau, die gegen viele Widerstände kämpfen musste, gerecht. Şamdereli schafft es, in Co-Regie mit Deka Mohamed Osman, von ihr ohne Kitsch und Pathos zu erzählen und dabei gleichzeitig einer politischen und sozialen Agenda treu zu bleiben, ihre Ideale also nicht an das Mainstreamkino zu verraten . Trotz ihres frühen Todes wird Samia Omar auch dank dieser engagierten Filmemacherinnen unvergessen bleiben. Annette Walter
„Samia“ IT/DE/BEL/SWE 2024 ( Regie: Yasemin Şamdereli & Deka Mohamed Osman. Mit Ilham Mohamed Osman, Waris Dirie, Riyan Roble, Elmi Rashid Elmi u. a., 102 Min., Start: 19.09. )
Petra Kelly – Act Now!
Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin, überzeugte Pazifistin, Feministin und Politikerin: Die Bezeichnungen für Petra Kelly waren nicht immer anerkennend gemeint. Schon seit Beginn ihrer politischen Karriere, aber spätestens mit ihrem Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung sowie der Mitbegründung der Partei Die Grünen 1980, eckte die politisch zunächst in den USA sozialisierte Kelly immer wieder mit ihrem Eifer und ihrer Empathie an, wurde misogyn beschimpft und bedroht. Nun hat Regisseurin Doris Metz ihr einen Dokumentarfilm gewidmet, der sich anhand von Archivmaterial und Interviews mit Zeitgenoss*innen an einem Überblick über das schier unüberblickbare Engagement Kellys versucht. Das gelingt dem Film, auch wenn das Ganze formal etwas arg aufbereitet daherkommt (z. B. durch den Einsatz von illustrierender Musik). Auch, dass es bereits eine breite Rezeption Petra Kellys gibt, bleibt weitestgehend außen vor. Stattdessen schlägt Metz eine Verbindung zur Letzten Generation und kommt dabei zu der naheliegenden These, dass Petra Kelly maßgebliche Vorarbeit für die gegenwärtigen Umweltbewegungen leistete. Mit der Ermordung Kellys durch ihren Partner findet der Film hingegen einen guten Umgang: Ihr Tod wird als Ermordung benannt – wenn auch der Begriff „Femizid“ nicht fällt – und zeigt auf, wie hartnäckig sich das Gerücht eines doppelten Selbstmords hielt. Eva Königshofen
„Petra Kelly – Act Now!“ DE 2024 ( Regie: Doris Metz. 104 Min. )
The Beast
„The Beast“ ist ein rares Beispiel für einen Film, der ohne Zweifel in die Gegenwart gehört und doch zeitlos wirkt. Das Science-Fiction-Epos ist hochkomplex, sinnlich jedoch unmittelbar und einleuchtend. Es schillert in den Farben des historischen Dramas, des dystopischen Thrillers, des Horrors, der romantischen Tragödie und ist dabei so nuanciert und elegant, so reich an klug verwobenen Motiven, dass es lange und erschütternd nachwirkt. Ausgangspunkt der Handlung ist das Jahr 2044, in dem die Menschheit in einer KI-regulierten Tristesse erstarrt ist. Um dem Arbeitsmarkt gerecht zu werden, unterzieht sich Gabrielle (Léa Seydoux) einem genetischen Eingriff, bei dem ihre vererbten Traumata gelöscht und so ihre rohen Emotionen ausgeglichen werden sollen. Der Film folgt ihr durch vergangene Leben, durchläuft Schleifen verlorener Liebe, der Angst und der Einsamkeit, in denen sie immer wieder Louis (George MacKay) begegnet. Regisseur Bertrand Bonello bedient sich sämtlicher Mittel filmischen Erzählens: Mit klassischen Kinobildern, digitalen Verzerrungen und Formen des Webvideos erzeugt er ein beklemmendes Gefühl außersinnlicher Bedrohung, wie es zuletzt vielleicht bei David Lynch zu spüren war. Es entsteht ein mitreißender Strudel von großer Tragik, in dem sich das Ende der Liebe und das Ende der Welt vermengen. Linus Misera
„The Beast“ FR/CAN 2023 ( Regie: Bertrand Bonello. Mit Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda u. a., 146 Min., Start: 10.10. )
My Stolen Planet
Sie ist drei Wochen jünger als die Revolution von 1979 gegen die Monarchie in Iran: Farahnaz Sharifi erzählt in ihrem Dokumentarfilm „My Stolen Planet“ parallel ihre Lebensgeschichte und die eines Landes, das nach dem Umsturz in die Repression getrieben wird. Dabei mischt sie archiviertes Filmmaterial und Homevideos von fremden Personen aus der Zeit vor 1979 in eigene Aufnahmen aus ihrem alltäglichen Leben. Wir sehen intime Szenen von Sharifi mit ihren Freund*innen oder mit ihrer Mutter, die unter Alzheimer leidet, wir begleiten sie auf Straßenproteste oder ins Fußballstadion, auf Hauspartys und zum Abendessen in gemeinschaftlicher Runde. Wir bekommen einen Einblick in die Absurdität der Gegensätze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Die Filmemacherin, deren Arbeitsaufenthalt in Hamburg 2022 zum Zwangsexil wurde, als ihre Teheraner Wohnung durchsucht wurde, lässt uns in ihre persönlichsten Räume blicken und ein Gefühl dafür bekommen, was es bedeutet, auf zwei Planeten gleichzeitig zu existieren: dem Draußen, in dem man sich an allerlei Verbote halten muss, und dem Drinnen, in dem man mit jeder kleinsten Handlung einen Akt des Protests vollzieht. Dabei wird vor allem die Perspektive der Frauen sichtbar, und wie deren Alltag von vielen kleinen Kämpfen gezeichnet ist. Ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der vor Nähe nicht zurückschreckt und den Zuschauenden ganz viel Vertrauen entgegenbringt. Mehregan Behrouz
„My Stolen Planet“ DE/IRN 2024 ( Regie: Farahnaz Sharifi. 82 Min. )
Über uns von uns
„Ich habe viele Träume, für mich, für meine Freunde und für meine Nachbarn“, schreibt Mirna in ihrem Gedicht. Sie ist eine von sieben Freundinnen, die alle selbstbewusst wirken, viel herumalbern und dennoch fürsorglich miteinander sind. Der Dokumentarfilm begleitet sie von 2019 bis 2022 in Eberswalde, einer brandenburgischen Kleinstadt, beim Erwachsenwerden. Die Clique aus kurdischen, arabischen und romnja Teenagerinnen ist erst seit wenigen Jahren in Deutschland. Daher müssen sie nicht nur die typischen Herausforderungen wie Freund*innenschaften und Identitätsfindung navigieren, sondern sich auch mit einem oft rassistischen Umfeld auseinandersetzen. Eindrucksvoll sind die integrierten fiktiven Szenen, die in Workshops entwickelt wurden und die jungen Frauen zu selbstermächtigten Erzählerinnen ihrer Geschichten machen. In den teils dramatischen Inszenierungen gehen sie ihren Träumen nach und fühlen sich gesehen. Damit können sie zumindest kurz aus den auferlegten strukturellen Hürden ausbrechen. Berührend ist das Langfilmdebüt der in Berlin lebenden jordanischen Regisseurin Rand Beiruty besonders, da spürbar ist, dass sie sich mit den Themen des Filmes identifizieren kann. Dadurch entsteht eine freundschaftliche Atmosphäre zwischen Beiruty und ihren Protagonistinnen, die Raum für Einblicke in verschiedene Generationen und tiefe, ehrliche Gespräche schafft. Sicilia Shehata
„Über uns von uns“ DE/JOR 2024 ( Regie: Rand Beiruty. 92 Min., Start: 10.10. )
Favoriten
„Diese Lehrerin gleicht aus, wo das Schulsystem versagt.“ Was Ruth Beckermann in einem Interview über die Protagonistin ihrer neuen Doku sagt, verdeutlicht der Film in fast jeder Sekunde. Ilkay Idiskut, Anfang dreißig, ist Klassenlehrerin in Wiens größter Grundschule im von Arbeiter*innen und Migration geprägten Bezirk Favoriten. Keines der 25 Kinder in ihrer Klasse spricht zu Hause Deutsch, viele haben Fluchterfahrungen gemacht, ihre Eltern arbeiten in so schlecht bezahlten wie systemrelevanten Berufen. Idiskut lernt mit ihnen, erklärt geduldig, manchmal auch auf Türkisch, tanzt, diskutiert, schlichtet Streit, besucht mit ihnen eine Moschee und den Stephansdom. Dabei hat sie keinerlei Unterstützung, weder durch Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen noch durch Sprachlehrer*innen. Trotz allem ist das neue Werk von einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer*innen Österreichs keine Erzählung des Mangels. Sondern eine der Fülle. Denn auch wenn es herzzerreißende Momente mit Kindertränen wegen schlechter Noten gibt, weil auch die engagierteste Lehrerin strukturelle Ungleichheiten nicht beseitigen kann, sind ihre große Empathie und die Begeisterungsfähigkeit der Kinder die Stars des Filmes. Stars, die das Bildungssystem routinemäßig mit Füßen tritt. Sonja Eismann
„Favoriten“ AT 2024 ( Regie: Ruth Beckermann. 118 Min., Start: 19.09. )
Power of Love
„Power of Love“ soll die Liebesgeschichte von Saraa und Robert erzählen, die ihre Ferien in der finnischen Natur verbringen. Viel von der Liebe verspürt man beim Zusehen jedoch nicht. Während Robert vergeblich auf ein Stipendium für seine Doktorarbeit wartet, ist Saraa erfolgreich als Wissenschaftlerin tätig. Er verbringt die Zeit u. a. in einem roten, seidenen Morgenmantel daheim, sie verbringt ihre Zeit in monochromen Institutsräumen. Sie verdient das Geld, ist älter und erfolgreicher und während sie in den Ferien Holz hackt, kocht er das Essen. So wird einem die mit Klischees gespickte, scheinbar moderne, Rollenverteilung in dem Film beinahe entgegengeschmettert. Dabei wird Saraas Hang zur Kontrolle in Beziehungen zu allem Überfluss mit einem schwierigen Verhältnis zu ihrem Vater und ihrer Mutter erklärt. Ein Gleichgewicht zwischen Saraa und Robert wird scheinbar ausschließlich durch die gegenseitige (sexuelle) Erniedrigung hergestellt. Hierbei werden die Grenzen zwischen einvernehmlichem Sex und Missbrauch gefährlich verwischt. Auch wenn der Film durch seine ruhige Erzählweise, die Landschaftsaufnahmen und die schauspielerische Leistung schön anzusehen ist, lässt sich der Film nur empfehlen, wenn man sehen möchte, wie es in einer Beziehung nicht laufen sollte. Nadine Al-Bayaa
„Power of Love“ DE/FIN 2023 ( Regie: Jonas Rothlaender. Mit Saara Kotkaniemi, Nicola Perot, Outi Mäenpää u.a, 105 Min, Start: 03.10. )
Die Schule der Frauen
Wie ist es zu altern, als Frau, und dazu noch als Schauspielerin? In ihrem Regiedebüt „Die Schule der Frauen“ porträtiert Marie-Lou Sellem, selbst Schauspielerin, Kolleginnen, die seit mehr als dreißig Jahren in Film und Theater ihrer Leidenschaft nachgehen und inzwischen zu den erfahrensten der Branche gehören. Dabei scheint ihre Kompetenz stets zweitrangig gewesen zu sein, denn was schon immer an erster Stelle und zu ihrem Nachteil gezählt hat: Sie sind Frauen. Die Kamera begleitet sie im Arbeitsalltag, lässt sie erzählen – von ihren Berufsanfängen, davon wie sie doch weiblicher laufen oder einen Rock anstelle einer Hose tragen sollten, wie sie Gewalt und Übergriffigkeit auf der Bühne und hinter den Kulissen erfahren haben und wie Mutterschaft in diesem Beruf keinen Platz hatte. Nun sind sie älter und ihre Körper für den patriarchalen Blick unattraktiver. Wie beschützen die Frauen sich, ihr Wertesystem und ihren Körper in solch einem misogynen System? Sellem lässt ihre Protagonistinnen auf junge Schauspielstudentinnen treffen. Was hat sich seither geändert und wie ist die Lebensrealität der neuen Generation? Leider gibt es als Antwort darauf kaum mehr als einen Zweizeiler pro Person. Insgesamt kratzt Sellems Doku ein wenig an der Oberfläche – der Film wirft mit großen Aussagen der Frauen um sich und sieht dabei beinah vollständig von einer größeren Einordnung ab. Sofia Paule
„Die Schule der Frauen“ DE 2024 ( Regie: Marie-Lou Sellem. 108 Min. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/24.