Ebow
„FC Chaya“
( Alvozay )

Für Ebow ist alles politisch, so auch ihre Musik. Mit „FC Chaya“ hat sie ein Album veröffentlicht, das sich queerer Liebe widmet und vor Empower­ment nur so strotzt. In Sachen Begehren und Herzschmerz darf Ebow alles sein: In „Big Simpin“ ist sie der Simp, in „Do Ya?“ ein „toxischer Kanake“, alles mit einem Augenzwinkern, versteht sich. Richtig nah kommen wir ihr in „Ebru’s Story“. Der Song erzählt von ihrem Aufwachsen und ihrer Queerness, inklusive Coming-out. Klanglich bewegt sich das Album zwischen HipHop, Soul und R’n’B. Ebow singt, rappt, mal softer und mal härter, spielt mit Genres und ihrer Stimme. Als alevitische Kurdin gäbe es keinen Ort für sie, der ein Safe Space sein könnte, hat Ebow einst gesagt. Mit diesem Album kreiert sie ihren eigenen Safe Space, und das nicht nur für sich selbst, sondern für „my people“, wie sie im letzten Track „Free.“ singt. Das Lied erlaubt einen Einblick in ihre Wut und Ängste, bezogen auf die weltpolitische Lage, nach dem Motto: Wenn wir gemeinsam unsere Liebe zelebrieren können, können wir auch gemeinsam trauern. Alles in allem können wir mit „FC Chaya“ vor allem eins: uns pudelwohl in unserer Haut fühlen. Mehregan Behrouz

Nilüfer Yanya
„My Method Actor“
( Ninja Tunes )
Als „Method Acting“ wird im Schauspiel das Integrieren von starken emotionalen Erinnerungen in das Spiel bezeichnet, von positiv bis traumatisch, um es noch authentischer zu gestalten. Nilüfer Yanya, die sich mit ihrem dritten Album als feste Größe des melancholischen Indierock etabliert hat, sieht darin Parallelen zur Performance von Musiker*innen. Die beschwören während ihrer Konzerte oftmals ebenso starke Emotionen herauf, die sie während des Schreibens der Songs empfunden haben. „My Method Actor“ entstand mit dem Produzenten Wilma Archer während einer persönlichen Umbruchphase in relativer Isolation. So haftet dem Album etwas Intimes und Kammerhaftartiges an. Gerade wenn sich Yanyas Stimme auf „Binding“ oder „Faith’s Late“ im Hauchen fast bricht und zu engelhaft-gewisperten Noten changiert. Um dann auf Songs wie „Like I Say (I Runaway)“ an die legere Grandiosität großer Alternative-Songwriterinnen der 1990er wie PJ Harvey und Tori Amos zu erinnern. Yanyas Gitarrenarrangements bewegen sich zwischen Akustikklängen und schummernden Shoegaze-Einschlägen, werden mal durch Streicherarrangements angereichert, mal durch elektronische Produktionen begleitet. Und untermalen Texte, die von Komplexität und Uneindeutigkeiten von Beziehungen erzählen. Sophie Boche

Hinds
„Viva Hinds“
(Lucky Number Music/ Rough Trade) 

Vorsicht mit Legenden, wonach Musikerinnen Bands gründen, weil sie genug haben von Gitarren spielenden Männern. Mit dieser Geschichte bewerben Hinds gerne ihre Platten. Aus der ehemals vierköpfigen Besetzung sind nur Carlotta Cosials und Ana Perrote übriggeblieben, Bassistin Adé Martin und Schlagzeugerin Amber Grimbergen haben die Band 2022 verlassen. Mit ihnen ist auch ein Stück des unangepassten Slacker-Rocks verloren gegangen, der Hinds 2016 mit ihrem Debütalbum „Leave Me Alone“ zum Durchbruch verholfen hat. Schon das letzte Album „The Prettist Curse“ schien mehr der Inszenierung als echtem Rock’n’Roll zu genügen. Auf „Viva Hinds“ kehrt das zum Duo geschrumpfte Projekt immerhin zu Gitarrenrock und lebensfroher Partyhymne zurück, riskiert es aber keinen Moment, dem patriarchalen Rock wirkungsvoll in die Eier zu treten. Stattdessen räkelnde Rock’n’Roll-Posen, niedlicher Gesang und Genre-Wahllosigkeit von Postpunk- bis Latinpop. Eine Anbiederung, die aber womöglich daran liegt, dass sich in der Produktion ausnahmslos Männer verantwortlich zeichnen und mit Feature-Gästen wie Beck oder Grian Chatten emanzipative Rock-Teilhabe eher ver- als erspielt werden. Verena Reygers

Goat Girl
„Below The Waste“
( Rough Trade )
Auf ihrem dritten Album malt sich das Londoner Trio Goat Girl eine Welt aus, in der Kollektivismus und Freundschaft das Miteinander bestimmen. Statt nach Bullerbü klingt diese Utopie wechselhaft, oft düster und hart, dann wieder zart und verspielt. Clottie Cream (Gitarre, Gesang), Holly Hole (Bass) und Rosy Jones (Schlagzeug) bedienen sich in „Below The Waste“ dramaturgisch gekonnt am Stilmaterial der 1980er- und 1990er-Jahre und fügen ihren Songs Samples von Geräuschen und Stimmen hinzu. Zu punkig-schiefem Geschrammel auf der Gitarre ergänzen sie weiche Synthesizerwellen und hin und wieder ein Banjo. Außerdem setzen sie das Klirren von Metall, Gelächter und Vogelgezwitscher ein, und der Gesang wandelt sich von martialischem Schreien über raues Flüstern zu versetzter Mehrstimmigkeit. Die ultrakurze Skizze „Prelude“ spiegelt sich im darauffolgenden „Tonight“ wider. Bei all den experimentellen Stilbrüchen lässt Goat Girl doch eine Marschrichtung erkennen: Voller Power und Einfallsreichtum erinnern sie an den eigenständigen Indiesound PJ Harveys, der Pixies oder der Breeders. Imke Staats

Laurie Anderson
„Amelia“
( Nonsuch Records ) 

Die Pilotin Amelia Earhart ist Ikone und Mythos zugleich. 1932 überquerte sie als erste Frau den Atlantik. Fünf Jahre später lautete ihr Plan, als erster Mensch die Erde am Äquator zu umrunden. Kurz vor dem Ziel verschwand ihr Flugzeug spurlos. Aber Earhart war nicht nur am Fliegen interessiert, sondern auch daran, dass Frauen sogenannte „Männerberufe“ ausüben können, und hinterfragte öffentlich Genderstereotype. Für die Performancekünstlerin Laurie Anderson ist Amelia Earhart Inspiration, Vorbild und vielleicht auch Seelenverwandte. In „Amelia“ folgt sie der Pilotin während ihres letzten Fluges. „Die Worte sind inspiriert von den Tagebüchern, Telegrammen, die sie an ihren Mann schrieb, und meiner Vorstellung davon, worüber eine Frau nachdenkt, die um die Welt fliegt“, sagte Anderson. Dieser Stream Of Consciousness ist suggestiv und reflektierend zugleich. Begleitet wird sie von der Filharmonie Brno sowie von Künstler*innen wie Anohni, Martha Mooke und Marc Ribot – und von Earhart, die in dem Track „This Modern World“ im O-Ton zu hören ist. Inzwischen ist Laurie Anderson selbst eine Ikone und in ihrer Erfindungsgabe und künstlerischen Furchtlosigkeit ein Vorbild.  Lene Zade

Nubya Garcia
„Odyssey“
( Concord, VÖ: 20.09. )

Kaum zu glauben, dass Nubya Garcia mit „Odyssey“ erst ihr zweites Album veröffentlicht. Längst ist sie eine der zentralen Personen in der Londoner New-Jazz- Szene, die seit einigen Jahren den britischen Jazz neu interpretiert, indem eine ganze Generation von Musiker*innen die Genregrenzen verschiebt, erweitert und auflöst. Wie auf ihrem Debüt „Source“ lässt die Saxofonistin und Komponistin Nubya Garcia auf „Odyssey“ die Stile R’n’B, Broken Beat, Dub und Jazz verschmelzen. Es ist ein vielfältiges Werk, untermalt von Streichern und Esperanza Spaldings Stimme. Was folgt, sind Stücke, die immer wieder ungeahnte Wendungen nehmen und Zeugnis ihrer kraftvollen Kreativität sind. Auch wenn meistens Garcias variantenreiches Saxofonspiel im Mittelpunkt steht, gibt es Raum für die Band, als Ganzes zu glänzen. Hier ein facettenvolles Klaviersolo, dort pulsierende Drums und an wieder anderer Stelle der gefühlvolle Gesang mehrerer Gastsänger*innen. So ist ein kollaboratives Werk entstanden, das sphärische Klangteppiche aufspannt, die einen einladen, darin zu versinken. Lina Niebling

Cassandra Jenkins
„My Light, My ­Destroyer“
( Dead Oceans ) 

Weniger Ambient Jazz, mehr Sophistipop: Cassandra Jenkins’ neues Album „My Light, My Destroyer“ ist eine Meditation über die Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins, Haustiere gegen die Einsamkeit, schicksalhafte Begegnungen und verpasste Anrufe. Lyrics wie die des Synthie-Juwels „Delphinium Blue“ zeugen von einer Bodenständigkeit der Texte, die die Schwere der Themen angenehm verdaulich machen, ohne an deren Ernsthaftigkeit zu graben. Um den subtilen Witz des Albums mitzubekommen, muss man vor allem auf die Texte hören, die Jenkins mit gewohnt zurückgenommener Stimme vorträgt. Dazwischen Grillenzirpen und verrauschte Aufnahmen, in denen man die Sängerin und ihre Mutter beim Kommentieren des Sternenhimmels hört. Nicht ganz frei von Pathos, aber mit ihrer musikalischen Bandbreite und exquisitem Songwriting verdient „My Light, My Destroyer“, dass man es am Stück hört – am besten irgendwo draußen und mit Blick nach oben. Eva Königshofen

Dua Saleh
„I Should Call Them“
( Ghostly International, VÖ 11.10. )

Dua Saleh ist Musiker*in und Schauspieler*in, u. a. bekannt für die Rolle als Cal in „Sex Education“. Das Album erzählt die Geschichte einer queeren Liebesbeziehung und ist geprägt von Sehnsucht, Distanz und Lust. Musikalisch lehnt sich Dua Saleh zurück in die Komfortzone des R’n’B. Das Genre ist die Wurzel des Albums und der Sound, den Dua als Safe Space bezeichnet. Aber die Songs erweitern die Definition des R’n’B um Electro, alternativen Indiepop, Trap  und auf „2excited“ sogar Metal. Dafür holt sich Dua für Kollaborationen u. a. Sid Sriram, serpentwithfeet, Gallant und Ambré ins Boot. Duas Gesang alterniert zwischen hoher Hyper-Pop-Kopfstimme mit Verzerrung, die futuristisch und computergeneriert klingt, und warmem, leisem Rap. So entsteht ein Kontrast zwischen zwei Stimmen, der den Anschein eines Dialogs weckt. Dua singt von hotten Hookups, die sich verboten anfühlen, von Eifersucht und der Vertrautheit einer Liebe, die über romantische Beziehungen hinaus bestehen bleibt. „I Should Call Them“ ist Dua Salehs eigene Auslegung des R’n’B und dabei gleichzeitig sexy und melancholisch. Auf jeden Fall Musik, die wet macht, ob Augen oder anderswo …  Ilo Toerkell

Wa22ermann
„22:22“
( Four Music Production ) 

Nike TNs, lange Nägel, weites Trikot, Mehndi auf den Händen und ansteckendes Selbstbewusstsein. Das ist Wa22ermann. Die Berliner Rapperin veröffentlicht mit „22:22“ ihr lang ersehntes Debütalbum und hält, was die Singles „Maybachufer“ und „Blaurot“ versprechen. „22:22“ ist ein Punchline-bestücktes und Bass-lastiges Album, das sich der neuen Generation des feministischen Deutschraps anschließt. Mit der Wiener Rapperin Donna Savage macht sie „Angebermusik“ und dankt auf „Dickes Fell“ Lil’ Kim, Cardi B und Missy Elliott für deren Einfluss auf die Szene. Auf „Naan & Lassi“ feiert ihre pakistanischen Wurzeln und auf „Khudahafiz“ verscheucht sie lässig stressende Männer: „Egal ob Musti oder Ben“, wer sie unterschätzt, kriegt „Tokats ins Gesicht“. Durch jeden Song auf „22:22“ ziehen sich eingängiger lyrischer Flow und Beats, die unter die Haut gehen. Wa22ermannns Musik verleitet dazu, baggy Jeans anzuziehen, in 61 Berlin zu cornern und jeder Konkurrenz gegenüberzutreten. Aber wer ist Konkurrenz für die Rapperin, die „Deutschrap in der Hand“ hat? Ilo Toerkell 

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 05/24.