Filmtipps 06/24
Von
Veni Vidi Vici
Amon Maynard (Laurence Rupp) ist überreich. Der Investor und Familienvater lebt in einer Villa, fährt seinen strahlend weißen Porsche und geht leidenschaftlich gerne auf die Jagd – nach Menschen. Der Superstar unter den Investoren, der gute Beziehungen zur Politik pflegt, die ein oder andere Hand wäscht und sich waschen lässt, lebt ein traumhaftes Leben und ist in seinem „Hobby“ von nichts und niemandem aufzuhalten. Im Voice-over wird das Geschehen von seiner ältesten Tochter miterzählt: Paula (Olivia Goschler) ist 13 und steht ihrem Vater in nichts nach. Beim Polospiel foulen, Ladendiebstähle sowie Führungen durch die private Waffenkollektion der Familie stehen bei ihr auf dem Tagesprogramm. Geld, Moral, Leben – im Maynard’schen Universum, in dem Überfluss die Hauptrolle spielt, hat nichts mehr einen Wert. Adoptierte BIPoC-Kinder werden wie aufgeweckte Hunde behandelt, enge Vertraute hintergangen und Menschen willkürlich abgeschossen. Reue existiert nicht, lediglich Familie – das Produzieren von Nachkommen – ist in alter faschistischer Manier ein hohes Gut. Julia Niemann und Daniel Hoesl ist ein ästhetisch und erzählerisch ansprechender Film gelungen, der entertaint und aufgrund der Realitätsnähe recht betroffen macht. Nur der bewusst inszenierte Rassismus hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Mehregan Behrouz
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„Veni Vidi Vici“ AT 2024 ( Regie: Julia Niemann & Daniel Hoesl. Mit Ursina Lardi, Kyra Kraus, Tamaki Uchida u. a., 86 Min., Start: 09.01. )
Milchzähne
Skalde (Mathilde Bundschuh) und ihre Mutter Edith (Susanne Wolff) versorgen sich selbst auf einem Grundstück nahe einer autarken Dorfgemeinschaft. Sie gerben Tierfelle, setzen Jauche an und haben zwei riesige Doggen, die nur auf Edith hören. Als Außenseiterinnen haben sie es schwer, sich gegen das Misstrauen und die Selbstjustiz der Dorfgemeinschaft zu behaupten. Plötzlich taucht ein Mädchen auf: Es ist Meisis (Viola Hinz), mit selbstbewusstem Blick und wie vom Himmel gefallen. Skalde nimmt sich ihrer an und verteidigt das Kind gegenüber dem Dorf, dessen Gesetze einen Fremdkörper nicht erlauben: Das Kind mit seiner rätselhaften Präsenz bringe Unheil über ihre Gemeinschaft. Mit filigranen Bildern erzählt Sophia Bösch in ihrem Spielfilmdebüt eine mehrschichtige Mutter-Tochter-Geschichte in einer postapokalyptischen Welt. Die strenge Skalde wird im Laufe des Filmes immer weicher, die Fürsorge für Meisis geht ganz in ihr Wesen über. Dabei erzählt ihre Mimik mehr als die Dialoge. Der Film lebt von kurzen, prägnanten Szenen und ausdrucksstarken Bildern, die in ihrer schlichten Ästhetik eine surreale Welt erschaffen und mit subversiver Fantastik der gleichnamigen Buchvorlage von Helene Bukowski sehr nahekommen. Skalde möchte dazugehören, doch in dem patriarchalen Dorf voller Aberglaube trifft sie nur auf Ausgrenzung. Eine mystische Parabel auf unsere Gegenwart. Julia Tautz
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„Milchzähne“ DE/CH 2024 ( Regie: Sophia Bösch. Mit Mathilde Bundschuh, Susanne Wolff, Ulrich Matthes u. a., 97 Min., Start: 21.11. )
Die Saat des heiligen Feigenbaums
Herbst 2022, Teheran: Rezvan (Mahsa Rostami) und Sana (Setareh Maleki) sind die Töchter eines frisch beförderten Ermittlers am Revolutionsgericht. Ihre Mutter (Soheila Golestani) nordet sie ein: Sie müssen ab sofort aufpassen, mit wem sie sich abgeben, wem sie was erzählen. In ihrem Zuhause werden die schweren, dunklen Vorhänge zugezogen, wenn Protestierende auf der Straße „Frau, Leben, Freiheit“ skandieren – als könnten die Töchter so von der feministischen Revolution abgeschirmt werden. Doch während die Mutter gebannt die regimetreuen Nachrichten schaut, in denen von Krawallen und Sachbeschädigungen die Rede ist, schicken sich die Schwestern heimlich Handyvideos aus den Sozialen Medien zu, die zeigen, von wem die wahre Gewalt ausgeht. Als eines Tages eine Freundin von Rezvan in Proteste an der Uni gerät und schwer verletzt wird, wird die Loyalität der Mutter von ihren Töchtern auf die Probe gestellt. Kurz darauf verschwindet die Dienstwaffe des Vaters, der Rezvan und Sana verdächtigt – und das Klima aus Angst und Misstrauen innerhalb der Familie spitzt sich endgültig zu. Mit eindringlicher Musik und ruhigen Bildern, die immer wieder mit echten Protestaufnahmen kontrastiert werden, transportiert der mittlerweile exilierte iranische Regisseur Mohammad Rasoulof in einem Mix aus Familiendrama und Politthriller die immense Beklemmung, die das Leben in einer Diktatur ausmacht. Rayén Garance Feil
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„Die Saat des heiligen Feigenbaums“ IRN/DE/FR 2024 ( Regie: Mohammad Rasoulof. Mit Mahsa Rostami, Setareh Maleki, Missagh Zareh, Soheila Golestani, Niousha Akhshi u. a., 168 Min., Start: 26.12. )
Emilia Pérez
Es hätte gut werden können: Der mexikanische Kartellboss Manitas (Karla Sofía Gascón) entpuppt sich als trans Frau Emilia Pérez, die eine Geschlechtsangleichung möchte. Dafür heuert sie die erfolgreiche Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldana) an und muss aufgrund der Kriminalität ihr altes Leben, Frau Jessi (Selena Gomez) und die beiden Kinder zurücklassen. Castro, die als Juristin schon dazu beigetragen hat, dass Männer, die Femizide begangen haben, freikommen, regelt das für Pérez: Anonyme Operation, neue Identität und ein schönes Haus in der Schweiz – sie verdient gut an dem Deal. Das Potenzial dieser Prämisse schöpft der Film jedoch nicht aus. Stattdessen bewegt er sich in binären Denkmustern und heteronormativen Vorstellungen von Ehe und Eifersucht; Klischees und Feindlichkeit gegenüber trans Menschen werden ausgebreitet. Man kennt diese Reproduktion von Ismen ähnlich aus französischen Mainstreamkomödien wie „Monsieur Claude und seine Töchter“. Unterlegt ist das Ganze mit simpler Musik, deren kitschiger Ton den des Filmes nicht trifft und umkehrt. Die Charaktere sind flach – das wäre okay, wäre wenigstens das Kitschig-Musikalische zugespitzt, aber dafür versucht der Film zu sehr Audiard-Autorenkino zu sein. Auch wenn Frankreich den Film für den Internationalen Oscar eingereicht hat, er hätte höchstens die Goldene Himbeere verdient. Amina Aziz
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„Emilia Pérez“ FR/US/MX 2024 ( Regie: Jacques Audiard. Mit Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez u. a., 130 Min., Start: 28.11. )
Die geschützten Männer
Eine Welt ohne Männer. Aus dem lustigen Gedankenspiel wird bitterer Ernst, als eine neuartige Krankheit ausschließlich cismännliche Personen befällt. Ein Virus, das Männer sexuell erregt, sie übergriffig werden lässt und dann ausschaltet, wird zum Ausgangspunkt eines Krieges der Geschlechter. Die politische Satire erzählt die Geschichte einer feministischen Partei, die sich während dieser Krise mitten im Wahlkampf befindet. Während sie vorher noch um den Einzug in den Bundestag kämpft, wird sie nun Teil der neuen Regierung. Schnell stellt sich heraus, dass nicht alle Interesse daran haben, die Männer zu retten. Die Romanverfilmung nach Vorlage von Robert Merle schafft es, humoristisch mit Ideen politischer Theorie und Praxis zu spielen. Von den Widersprüchen zwischen Parteipolitik und Graswurzelorganisierung bis hin zu intergenerationalen Auseinandersetzungen deckt der Film eine Reihe feministischer Diskurse ab, ohne dabei unzugänglich zu werden. Besonders interessant ist die Frage der Macht, die sich immer wieder durch die Geschichte zieht. Wer ist berechtigt, für wen zu sprechen? Welche Entscheidungen werden von wem getroffen? Wie viel bringt es, wenn FLINTA in Machtpositionen treten, die Herangehensweise an Politik aber weiterhin eine männliche bleibt? Vor dem Hintergrund dieser Fragen illustriert der Film, warum wir unsere Welt mit einem feministischen Blick ganz neu denken müssen. Luna Afra Evans
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„Die geschützten Männer“ DE 2024 ( Regie: Irene von Alberti. Mit Britta Hammelstein, Mavie Hörbiger, Yousef Sweid u. a., 104 Min., Start: 12.12. )
Spirit In The Blood
Emerson (Summer H. Howell) ist 15 Jahre alt, als ihr Vater sie in sein abgelegenes Heimatdorf in den Wäldern Kanadas bringt, wo alle tiefreligiös sind und als sektenartige Gemeinde leben. Das ist verstörend für Emerson, besonders nachdem ein gleichaltriges Mädchen spurlos verschwunden ist. Ihre Zuflucht sind Comics und klassische Musik aus dem Walkman – es sind die 1980er-Jahre. Schnell freundet sie sich mit Delilah (Sarah-Maxime Racicot) an, einem unangepassten Mädchen, das dieses Dorf verlassen möchte. Als die vermisste Rebecca tot aufgefunden wird, gesteht Emerson, dass sie im Wald ein Monster gesehen hat. Emerson und Delilah entwickeln Rituale, um sich dem Bösen entgegenzustellen. Andere Mitschülerinnen schließen sich ihnen an, doch die Treffen geraten bald außer Kontrolle. Im Spielfilmdebüt von Carly May Borgstrom geht es um Selbstermächtigung, Identität und patriarchale Strukturen. Die Regisseurin kombiniert gekonnt Coming-of-Age, Thriller und Horror, verleiht dem Ganzen eine Prise „Stranger Things“ und „Stand By Me“ aus weiblicher Perspektive. Beim Schauen des Filmes beschleicht eine*n die Vermutung, dass das alles nicht gut gehen kann, was ein beklemmendes Gefühl hervorruft. In der letzten Szene radeln Emerson und Delilah – mit einem Hauch von E. T. – ihrer Zukunft entgegen. Indra Runge
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„Spirit In The Blood“ DE/CAN 2024 ( Regie: Carly May Borgstrom. Mit Summer H. Howell, Sarah-Maxine Racicot, Michael Wittenborn u. a., 98 Min. )
Shambhala
Nepals Einreichung für den Oscar bietet einen einzigartigen Einblick in das Leben im Himalaya und seine atemberaubenden Landschaften. Ebenso weiß Schauspieldebütantin Thinley Lhamo zu faszinieren. In dem epischen Melodrama verkörpert sie mit Anmut und Würde Pema, die in einem abgelegenen Dorf drei Brüder heiratet – ihren Herzensmann Tashi (Tenzing Dalha), den Mönch Karma (Sonam Topden) und den eigensinnigen Dawa (Karma Wangyal Gurung), der noch ein Kind ist. Doch recht bald schon muss Tashi mit der Handelskarawane nach Lhasa aufbrechen und es kursiert das üble Gerücht, der Vater von Pemas ungeborenem Kind sei der Dorflehrer. Tashi, dem dies auf seiner Reise zu Ohren kommt, kehrt nicht zu ihr zurück. Also macht sich die selbstbewusste Pema mit ihrem Nebenmann Karma auf die Suche nach ihm, um die Dinge klarzustellen. In langen Einstellungen werden wir auf ihren beschwerlichen Trip durch die raue Natur, aber auch auf Pemas innere Reise mitgenommen. Das ist erzählerisch nicht immer gelungen, vor allem die sepiafarbenen Traumsequenzen sind rätselhaft. Das titelgebende Shambhala – im tibetischen Buddhismus ein spiritueller Ort, an dem man Frieden findet – spielt dabei eine große Rolle. Dennoch ist es berührend mitzuerleben, wie Pema sich von Traditionen löst und ihr Shambhala findet. Gabriele Summen
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„Shambhala“ NP/FR/NO/HK/CN/TR/TW/US/QA 2024 ( Regie: Min Bahadur Bham. Mit Thinley Lhamo, Sonam Topden, Tenzing Dalha u. a., 150 Min., Start: 28.11. )
Critical Zone
Amirs lockiges Haar ist zerzaust, sein Bart struppig und lang. In seiner Wohnung in Teheran lebt er allein mit seinem Hund Mr. Fred. Einsamkeit quält ihn, an seiner Impotenz ist er verzweifelt. Doch es gibt auch Lichtblicke in Amirs Leben, wie etwa Dichter der persischen Moderne, die ihn faszinieren. Das ist beinahe alles, was Zuschauer*innen über Amir (Amir Pousti) und sein Leben erfahren. Beinahe, denn es gibt da noch ein Ding, eine alltägliche Sache: Amir dealt mit Drogen, und sein Geschäft ist gar nicht mal so klein. In der Metropole Teheran hat er zwar außer Mr. Fred niemanden, aber nachts, wenn er sich auf die düsteren Straßen Teherans begibt, hält er den Geist der Stadt in der Hand, glaubt er. Er kann damit spielen, wie er will, entweder heiter oder harsch – so erzählt Amir es zumindest einem seiner frustrierten Kund*innen. Was Zuschauer*innen auch unbedingt wissen sollten: Im Iran kann auf Drogendelikte die Todesstrafe stehen. In seinem Film, den er größtenteils mit Laienschauspieler*innen besetzt hat, erzählt Regisseur Ali Ahmadzadeh mittels einer gefühlt endlosen Nacht und Amirs seltsamer Beziehung zu seinen ziellosen Kund*innen eine Geschichte von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Dabei ist es ihm gelungen, mit bitterer Ehrlichkeit eine Realität der jungen Teheraner Mittelschicht abzubilden. Negin Behkam
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„Critical Zone“ IRN/DE 2023 ( Regie: Ali Ahmadzadeh. Mit Amir Pousti, Shirin Abedinirad u. a., 99 Min. )
The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed
Die Regisseurin Joanna Arnow hat bereits 2013 mit „I Hate Myself :)“ einen persönlichen Film herausgebracht, der mit der Verletzlichkeit der Protagonist*innen spielt. So auch „The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed“, in dem Arnow auch die Hauptrolle der Ann spielt. Ann, 33 Jahre alt, scheint in allen Bereichen ihres Lebens festgefahren zu sein: Sie steckt in einem unbedeutenden Job, in mehreren lockeren BDSM-Situationships, in denen sie sich dominieren lässt, und da wäre noch ihre streitsüchtige Mutter, die sogar an dem Satz „I love you“ etwas auszusetzen hat. Der etwas sperrige Titel beschreibt schon sehr gut, worum es in dem Film geht: Ann hat das Gefühl, dass die Zeit viel zu schnell vergangen und dabei viel zu wenig in ihrem Leben passiert ist. Doch dann trifft sie Chris (Babak Tafti). Ob die Begegnungen mit ihm etwas ändern können in ihrem Leben? Ann hat eine seltsame Distanz zu sich selbst und ihren Gefühlen und transportiert diese Distanz auch zwischen sich und das Publikum. Sie wirkt teilweise wie eine Schlaftablette, die man aufrütteln möchte. Bei dem Film handelt es sich um eine autofiktionale Komödie, wobei Komödie hier sehr subtil gedacht ist – richtig laut loslachen muss man nicht. Ein Film für Millennials, die mit Anns Gefühlswelt relaten können. Katrin Börsch
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The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed“ USA 2023 ( Regie: Joanna Arnow. Mit Joanna Arnow, Scott Cohen, Babak Tafti u. a., 87 Min., Start: 12.12. )
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 06/24.