Trauriger Tiger Ein hartes, ein krasses Buch: In „Trauriger Tiger“ arbeitet die französische Schriftstellerin Neige Sinno ihre persönliche Erfahrungsgeschichte mit sexualisierter Gewalt auf. Über einen langen Zeitraum wurde sie von ihrem Stiefvater vergewaltigt, beim ersten Mal war sie sieben Jahre alt. Sinno beleuchtet das Verbrechen aus verschiedenen Perspektiven, versucht, das Ungeheuerliche für die Leser*innen begreifbar zu machen, wobei sie selbst keine abschließende Antwort geben kann und will. Die Autorin wählt ungewöhnliche Ansätze, beschreibt z. B. anhand Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ ihre Gefühle beim Lesen und warum sie ausgerechnet dieses Buch so liebt. Oder sie fügt reale Zeitungsausschnitte
und Briefe in ihren Text ein, um zu zeigen, wie ihre Lebenswelt aussah. Was ihr geschehen ist, schildert Sinno in klaren Worten, die man stellenweise kaum ertragen kann, wobei der Autorin nicht an Effekthascherei gelegen ist, sondern an der puren Notwendigkeit zu reden. Sie kaschiert nichts, beschreibt die sexuellen Handlungen ihres Stiefvaters an ihr ganz konkret. Auch das problematische Verhalten der Mutter wird thematisiert, ebenso wie die gemischten Gefühle, die Sinno ihr gegenüber empfindet, zwischen Zorn und Vergeben. Erstaunlich ist die Haltung der Autorin: Sie ist an keiner Stelle bitter. Mit beeindruckender Nüchternheit legt Sinno diesen Vergewaltigungsfall dar, der immer – auch in dieser Einschätzung ist sie völlig rational – Teil ihres Lebens sein wird. Christina Mohr – Neige Sinno „Trauriger Tiger“ ( Aus dem Französischen von Michaela Meßner. dtv, 304 S., 24 Euro )