© Filmmax

Der Lehrer, der uns das Meer versprach
Dreitausend, viertausend oder gar mehr: Es ist nach wie vor schwierig zu sagen, wie viele Massengräber es in Spanien aus den Zeiten des Bürgerkriegs (1936–39) und der Diktatur (bis Francos Tod 1975) gibt. In „Der Lehrer, der uns das Meer versprach“ fährt Ariadna (Laia Costa) aus Barcelona in ein abgelegenes Dorf in der Nähe von Burgos, als dort eins ebendieser Gräber gehoben wird. Jetzt, da ihr Großvater kurz vor dem Tod steht, möchte sie ihm helfen, Antworten auf Fragen aus seiner Vergangenheit zu finden, und stößt dabei auf die Geschichte eines von ihm verehrten Lehrers: 1935 kommt Antoni Benaiges (Enric Auquer) in das Dorf, um den Kindern nicht nur Schreiben und Rechnen, sondern auch das Träumen beizubringen. Benaiges’ progressive Ansichten werden zu seinem Todesurteil, als Francos Milizen das Dorf einnehmen. „Der Lehrer, der uns das Meer versprach“ vermittelt die Dringlichkeit, die hinter der Sichtbarmachung von Einzelschicksalen angesichts der vielen anonymen Toten und Verschwundenen steht. Allerdings: Der Film ist sehr erwartbar erzählt; er schildert gradlinig das (übrigens wahre) Schicksal eines heroischen Mannes. „Der Lehrer“, der im Film sowie auch in der historischen Überlieferung recht einseitig-idealistisch dargestellt wird, gewinnt vor allem durch Enric Auquer, der seiner Figur Leben und Tiefe verleiht und den Film von einem konventionellen zu einem empfehlenswerten macht. Isabella Caldart

„Der Lehrer, der uns das Meer versprach“ ES 2023 ( Regie: Patricia Font. Mit Enric Auquer, Laia Costa, Luisa Gavasa u. a., 105 Min., Start: 06.02. )

© Pandora Film / Laurent Le Crab

Könige des Sommers
Die Sonne brennt, die Zigarette glimmt zwischen den Lippen und das Bier fließt. Kaum ist der Rausch ausgeschlafen, steht schon die nächste Party an. Das ist die Welt von Totone (Clément Faveau), der im französischen Jura lebt. Auf den Weiden grasen die Kühe, doch mit Idylle hat diese Dorfjugend nicht viel zu tun. Sie wird vielmehr von Alkohol bestimmt und dem ständigen Drang, sich behaupten zu müssen. Als Totones alleinerziehender Vater stirbt, muss sich der 18-Jährige plötzlich um seine jüngere Schwester (Luna Garret) kümmern. Verantwortung übernehmen, Geld verdienen. Alles schwierig für einen, der das erst noch lernen muss und der für Trauer keinen Platz hat. Und auch hier will der aufbrausende Totone mit dem Kopf durch die Wand: Er nimmt sich vor, einen Comté-Käse herzustellen – so gut, dass er damit 30.000 Euro bei einem Wettbewerb gewinnen kann. Regisseurin Louise Courvoisier, die selbst in dieser Gegend aufgewachsen ist, erzählt in ihrem Coming-of-Age-Film humorvoll und ohne zu dramatisieren von Totones Übermut. Zwangsläufig geht es dabei ums Scheitern, aber auch um Freundschaft, Liebe und ums Erwachsenwerden. Courvoisier hat ihr Debüt mit Laiendarsteller*innen realisiert und wurde dafür 2024 in Cannes mit dem Prix de la Jeunesse ausgezeichnet. Ana Maria März

„Könige des Sommers“ FR 2024 ( Regie: Louise Courvoisier. Mit Clément Faveau, Luna Garret, Mathis Bernard, Dimitry Baudry, Maïwène Barthelemy u. a., 90 Min., Start: 06.02. )

©deja-vu Film UG

Die Vertriebenen
Mit beengenden Einstellungen zieht uns der Spielfilm in seine Geschichte. Es geht um Abtreibung, Glaube, Korruption und den Tod Gottes. Wir folgen den Schwestern Varvara (Maria Chuprinskaia) und Angelina (Dana Ciobanu), die im Russland der Gegenwart verschiedenen Ausprägungen patriarchaler Zwänge ausgesetzt sind. Varvara lehrt als Philosophieprofessorin, wo sie vom rechten, männlichen Kollegium und einem christlichen Studenten gleichermaßen bedrängt wird. Angelina ist Gynäkologin und führt – teils illegale – Abtreibungen durch.  Zusehends geraten die beiden darüber mit den Strukturen ihrer Stadt und miteinander in Konflikt. Regisseurin Anja Kreis schildert dies mit morbider Ambivalenz und Drastik. Oft setzt der Film surrealistische Verfremdungen ein und macht es dadurch nicht leicht, ihn ganz zu greifen oder seine Motive zu verstehen. Besonders positiv fällt die Kameraarbeit von Eugeniu Dedcov auf, die allem durch geschickte Unterbelichtung eine körnige Textur verleiht und das Publikum mit den Figuren im unscharfen Dunkel einsperrt. Trotz der starken politischen Prägung ist der Film eher ein persönliches Stück. Auch wenn die Schwestern eindeutige Konflikte unserer Gegenwart navigieren, liegt das erzählerische Gewicht doch auf ihrem Verhältnis zueinander. Insgesamt ist „Die Vertriebenen“ inhaltlich dicht und herausfordernd. Linus Misera

„Die Vertriebenen“ DE/MD 2024 ( Regie: Anja Kreis. Mit Dana Ciobanu, Maria Chuprinskaia, Epchil Akchalov u. a., 95 Min., Start: 30.01. )

© MUBI Film

Das Mädchen mit der Nadel
Die Realität ist oft grausamer als jeder Horrorfilm – das zeigt Magnus von Horns neues Historiendrama. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg kämpft die junge Fabrikarbeiterin Karoline (Vic Carmen Sonne) in Kopenhagen ums tägliche Überleben. Doch nach einer kurzen Romanze mit ihrem Chef steht sie plötzlich allein da – arbeitslos und schwanger. In ihrer Verzweiflung trifft sie auf Dagmar (Trine Dyrholm), die im Geheimen ungewollte Kinder an Pflegefamilien vermittelt. Schnell entwickelt sich eine enge Bindung zwischen den beiden Frauen, bis Karoline die schockierende Wahrheit hinter Dagmars Arbeit entdeckt. Der Film, basierend auf der Geschichte der dänischen Serienmörderin Dagmar Overby, feierte seine Premiere in Cannes und ist Dänemarks Oscar-Einreichung. Er zeigt, welche Hölle Menschen durchleben, die keinen Zugang zu sicheren Abtreibungen haben. Brutale Szenen, wie Karolines verzweifelter Abtreibungsversuch mit einer Textilnadel, machen diese Ausweglosigkeit greifbar. Durch die düstere Schwarz-Weiß-Ästhetik und eine beklemmende Soundkulisse – durchzogen von Schreien aus Verzweiflung, Schmerz und Angst – entfaltet sich ein albtraumhafter Horror. Ein grausamer, aber wichtiger Film, der Fragen nach Moral, Schuld sowie der Verantwortung von Staat und Gesellschaft aufwirft. Jaqueline Frank

„Das Mädchen mit der Nadel“ DK/PL/SE 2024 ( Regie: Magnus von Horn. Mit Vic Carmen Sonne, Trine Dyrholm, Joachim Fjelstrup u. a., 115 Min. )

© Grandfilm/ British Pathé

Soundtrack To A Coup d’Etat
Ein Elefant schwebt in einem Tragegurt durch die Luft, plumpst in die Tiefe, ein Dieb fuchtelt mit dem Degen, den er dem belgischen König in Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, entwendet hat, der aufgebrachte sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow schimpft an seinem Rednerpult: Es sieht so aus, als hätte der belgische Regisseur Johan Grimonprez einen Wust an Filmmaterial in kleine Fetzen geschnitten und  sie in einer Jam-Session neu zusammengesetzt. In seinem ebenso rasant wie aufregend komponierten, überbordenden Dokumentarfilmessay erzählt er so vom Unabhängigkeitskampf des Kongo im Kalten Krieg 1960: Die belgische Kolonialmacht sitzt auf den Uranminen im Süden; die USA wollen Kontrolle über die Bodenschätze, die sie für Nukleartechnologie brauchen. In all diesem Chaos werden Jazzmusiker*innen in den Kongo geschickt, um Werbung für den american way of life zu machen. Sie werden eingespannt, wissen aber nicht, dass der CIA gegen Patrice Lumumba, den kongolesischen Anführer der Unabhängigkeitsbewegung und ersten Premierminister, intrigiert. Denn der möchte auch die Kontrolle über die Minen in der südlichen Region Katanga behalten. Um dies zu verhindern, zieht der CIA die Strippen und es kommt zum Staatsstreich durch General Mobutu. Energiegeladener Jazz von Max Roach, Nina Simone, Miriam Makeba, Louis Armstrong und weiteren liefert den Soundtrack zu einem aufrüttelnden und grandiosen Politdrama. Anna Opel

„Soundtrack To A Coup d’Etat“ BE/FR/NL 2024 ( Regie: Johan Grimonprez. 150 Min., Start: 06.02. )

Rabia – Der verlorene Traum
Zwei beste Freundinnen verlassen Frankreich, um in Syrien Teil des sogenannten Islamischen Staates zu werden. Ohne ihre persönlichen Gegenstände und umgeben von anderen Frauen aus verschiedenen Ländern sollen sie die Ehegattinnen von IS-Kämpfern werden. Dafür unterwerfen sie sich strengen Regeln. Heiraten sollen die Freundinnen den gleichen Mann, doch dieser stirbt zuvor im Kampf. Jessica (Megan Northam), deren Name nun Rabia ist, soll eine neue Rolle bekommen. Damit stellt sich endgültig die Frage, welches Leben sie führen will. Als Zuschauer*in ist es schwer, Bezug zu den Protagonist*innen herzustellen. Ihre Motive werden nur angeschnitten, das meiste ihrer Person bleibt im Dunkeln. Vielleicht, um mehr Projektionsfläche für das Publikum zu bieten. Doch dafür ist das Tempo des Filmes zu schnell. Gleichzeitig stellt der Film von Mareike Engelhardt auf sehr eindrückliche Weise die Gewaltspirale eines islamistischen und patriarchalen Systems dar. Körperliche, sexualisierte und emotionale Gewalt werden nicht explizit gezeigt, sondern in ihren Auswirkungen thematisiert. So wird Gewalt behandelt, ohne sie zu reproduzieren. Zwischen zwei Welten sind letztendlich aber nicht nur die Protagonistinnen gefangen, sondern auch der Film selbst: Denn leider schafft er es weder, die Systematik des Islamismus scharf zu ergründen, noch, seine Protagonistinnen tiefgründig abzubilden. Luna Afra Evans

„Rabia – Der verlorene Traum“ DE/FR/BE 2024 ( Regie: Mareike Engelhardt. Mit Megan Northam, Lubna Azabal, Natacha Krief u. a., 94 Min., Start: 23.01. )

© Sisterqueens Film / Dropout Out Cinema

Sisterqueens 
Jamila, Rachel und Faseeha leben im Berliner Wedding und sind zu Beginn der Doku neun, elf und zwölf Jahre alt. Vier Jahre lang wurden die drei in ihrem Kosmos begleitet. Das Rap-Projekt Sisterqueens des Mädchenzentrums MÄDEA bringt die drei zusammen, und sie lernen nicht nur das Rappen, sondern auch das Gefühl der Sisterhood kennen. Das Publikum sieht ihnen beim Wachsen zu – in ihren Texten und in ihren Wünschen. Oder, um es mit Rachels Worten zu beschreiben: „Now I see myself / That’s all I needed.“ Das Langzeitdokumentarfilmprojekt von Clara Stella Hüneke wurde während politisch bewegten Zeiten gefilmt: Corona, Black Lives Matter und der Nahostkonflikt. So gewährt der Film durch die Linse von Jamila, Rachel und Faseeha einen neuen Blickwinkel auf diese Ereignisse. Sie sind überfordert von der Corona-Schule, hinterfragen Strukturen und finden sich selbst durch politische Bewegungen. Clara Stella Hüneke hat es geschafft, die drei Protagonistinnen in ruhigen, nachdenklichen, aber auch lauten und empowernden Momenten einzufangen. Die drei bekommen nicht nur eine neue Perspektive auf die Welt um sich herum, sondern auch auf sich selbst. Sie finden ihre Stimme, die aufgrund von Klassismus, Rassismus und Misogynie verborgen war. Eine gefühlvolle Doku über drei Girls, die gegen die Vorurteile anderer arbeiten und den Mut finden, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Abena Appiah

„Sisterqueens“ DE 2024 ( Regie: Clara Stella Hüneke. 96 Min., Start: 06.03., außerdem verfügbar in der ZDF-Mediathek ) 

© Libuše Jarcovjáková / Salzgeber

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte
Kann ein neunzigminütiger Film über eine Fotografin, der fast ausschließlich aus schwarz-weißen Fotos besteht, funktionieren? Die Regisseurin Klára Tasovská hatte eigentlich ein andere Umsetzungsidee für ihre Dokumentation über Libuše Jarcovjáková, die die „New York Times“ als „Nan Goldin des kommunistischen Prags“ bezeichnete, musste aber, als die Pandemie ausbrach, kurzerhand auf unbewegte Bilder ausweichen. In Zusammenarbeit mit dem Schnittmeister Alexander Kashcheev und den Musikproduzenten Oliver Torr, Prokop Korb und Adam Matej erschuf sie eine beeindruckende Filmmontage über eine viel zu lang unterschätzte Fotografin. Durch die eingesprochenen Tagebuchaufzeichnungen und die schier endlose Anzahl an Aufnahmen begleiten wir Jarcovjáková aus ihrer eigenen Perspektive durch Krieg, Familienauseinandersetzungen, Fabrikarbeit, Verfolgung,
(Schein-)Ehen, Liebe(skummer), Schwangerschaftsabbrüche, Nahtoderfahrungen, Depressionen, Ausschweifungen, Zweifel, Reisen, Erfolge, Niederlagen, (queere) Selbsterkenntnis, Emanzipation und die ewige Suche nach sich selbst. Das Erzähltempo variiert hier je nach Lebenslage, die Musik verbindet Vergangenheit und Gegenwart, und Jarcovjákovás ruhige und bestimmte Vertonung ist wie eine Umarmung einer Freundin, die man schon lange nicht mehr getroffen hat. Avan Weis

„Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ CZ/SK/AT 2024 ( Regie: Klára Tasovská. 90 Min., Start 27.02. )

© Constantin Film

Babygirl
Romy (Nicole Kidman) ist eine erfolgreiche Unternehmerin, die alles unter Kontrolle hat. Ihr Ehemann (Antonio Banderas) ist attraktiv und liebevoll, doch ihre Orgasmen sind vorgetäuscht. Als Praktikant Samuel (Harris Dickinson) in Romys Firma auftaucht, ist sie sofort beeindruckt von seinem extremen Selbstbewusstsein und seiner kühlen Beharrlichkeit. Sie versucht ihm auszuweichen, denn er – der deutlich jünger ist, doch nicht vor ihrer Autorität buckelt – verunsichert sie. Widerwillig wird sie seine Mentorin. Schon beim ersten Meeting reißt er ihre Fassade ein und spricht aus, was er sieht: eine Frau, die insgeheim gesagt bekommen will, wo es langgeht. Und er trifft ins Schwarze. Romy versucht zunächst, sich ihm zu entziehen, aber dass Samuel erkennt und benennt, derjenige zu sein, der trotz der beruflichen Hierarchie zwischen den beiden die eigentliche Macht hat (er kann jederzeit einen Anruf tätigen und seine Vorgesetzte alles verlieren lassen), genau das turnt Romy an. Halina Reijn schafft es, in ihrem Erotikthriller Spannung aufzubauen – in der Dynamik zwischen Nicole Kidman und Harris Dickinson, die sehr passend besetzt sind, aber auch durch den Einsatz von Musik und Sounds. Trotzdem ist die Story relativ vorhersehbar. Dass das Thema der Macht am Ende nicht nur eines zwischen Samuel und Romy bleibt, sondern ein*e weitere*r Akteur*in sich einmischt, ist eine erfrischende Überraschung, der ganz große Plottwist wie in Reijns letztem Film „Bodies Bodies Bodies“ bleibt aber leider aus. Rayén Garance Feil

„Babygirl“ USA 2024 ( Regie: Halina Reijn. Mit Nicole Kidman, Harris Dickinson, Antonio Banderas, Sophie Wilde u. a., 114 Min., Start: 30.01. )

Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/25.