© Stella Richter

Können wir etwas verlieren, das wir nicht besessen haben? Etwas vermissen, das nie Realität war? Um einen verlorenen Traum zu trauern, ist ein melancholischer Zustand – und das Gefühl der Stunde. Gewalt gegen Frauen und Queers steigt, der Vergewaltigungsprozess um Gisèle Pelicot führte quälend vor Augen, dass männliche Grausamkeit ungebrochen wütet. Die umfragenstarke AfD will es den USA nachmachen und bereits errungene Abtreibungsrechte kippen. Der Glaube daran, dass die Zukunft ganz sicher besser sein wird als die Gegenwart, ist unter Feminist*innen derzeit nicht populär. Im Gegenteil.

Doch damit sind wir nicht allein. Die gesamte Welt hat das Gefühl, in einer unerbittlichen Verluststrähne

festzuhängen. Die Arktis schmilzt, Kriege eskalieren, der Kontostand sinkt, sichere Arbeitsplätze verschwinden, die Mauer gegen rechts bröckelt. Um es mit dem kürzlich verstorbenen Theatermacher René Pollesch zu sagen: „Ja, nichts ist okay.“ Der Soziologe Andreas Reckwitz – dafür bekannt, die Gegenwart auf den Begriff zu bringen – hat in seinem jüngsten Buch den „Verlust“ zum Zeichen der Zeit ausgerufen. 

Reckwitz’ Argument geht so: Die Moderne ist das Zeitalter des Fortschritts. Sie denkt weder wie die Antike, dass alles kreislaufförmig wiederkehrt, noch wie das Mittelalter, dass die Zeit gleichförmig dahinfließt. Modern sein bedeutet stattdessen, zum Besseren voranzuschreiten. Das hat viel damit zu tun, was im 18. Jahrhundert in Gang kam: Die Vernunft stieß Gott vom Sockel, der Mensch errang die Demokratie, technische Innovationen verbesserten das Leben und die Industrialisierung brachte Wohlstand. Doch die beschönigte Verbesserungserzählung besaß von Beginn an eine verdrängte Schat…