Musiktipps 01/25
Von MissyRedaktion

The Weather Station
„Humanhood“
( Fat Possum Records )
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The Weather Station legt das Menschsein unters Mikroskop: Auf „Humanhood“ schichten sich Gefühle übereinander und die Instrumente tun es ihnen gleich. Frontfrau Tamara Lindeman, auch bekannt als Tamara Hope, erzählt von Verwirrung und Klimakummer, verliert sich im Laufe der 13 Tracks aber nicht in der Resignation – die Songs pulsieren, suchen nach Verbundenheit und Bewegung. Mal lässt die Kanadierin Kraft durch ihre Stimme fließen, im nächsten Track wirkt sie fein wie Seidenpapier, fast wispernd. Es ist dieses Spannungsfeld, das auch die Musiker*innen mittragen: Die Sängerin ließ bei der Aufnahme vieles offen, die Instrumente sollten frei reagieren. Schlagzeug, Horn, Klarinette, Bass, Klavier und Flöte verästeln sich, da entsteht ein Geflecht, das sich wunderbar lebendig anhört. Obschon der Weather-Station-Sound im Folk verwurzelt ist, durchströmen ihn Pop, Jazz und experimentelle Einflüsse – die Songs klingen opulent, auch mal dissonant, zugleich schimmert eine große Sensibilität und Wärme durch: Gerade wenn das Soundnetz droht, zu überwältigend zu werden, fädelt Lindeman Instrumentaltracks ein und verleiht dem Album dadurch Luftigkeit. Das Austarieren zwischen leicht und intensiv, zwischen Anspannung und Aufatmen: Das ist es, was „Humanhood“ auf eindrückliche (und immer wieder erstaunliche) Weise gelingt. Alisa Fäh
Uche Yara
„honey“
( goldendays FM )
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Kurze Liebschaften, Verflossene im Backstagebereich treffen und wiederkehrendes Heimweh. Uche Yaras Beziehungen mit ihren Lieblingsmenschen sind kompliziert und aufwühlend. Und doch hat die österreichische Musikerin in „honey“ damit einen friedlichen Umgang gefunden: Trauer, Schmerz und Sehnsucht klingen bei ihr friedlich, vollmundig und geschmeidig. Anders als die Debüt-EP „Golden Days“ (2024) ist „honey“ ziemlich gelassen. Die 22-Jährige ist weiter als zuvor, sie kann loslassen, sich verabschieden, akzeptiert, wenn es keine Antworten auf Fragen gibt. Yara ist in dem oftmals einsamen Prozess, Besinnung und Akzeptanz zu finden, nicht alleine, sondern baut sich einen Chor aus ihrem eigenen kraftvollen, wandelbaren Gesang und selbsteingespielten Instrumenten auf, der sie begleitet, unterstützt und ihr Halt gibt. Zwischendurch heult die E-Gitarre in hohen Tönen rein, hallt Yaras Gesang nach. Durch schichten, stapeln, überziehen und unterlegen von klaren bis verzerrten Vocals wird aus „honey“ ein mächtiges Stück, das kaum eingeordnet werden kann. Wieder einmal bewegt sich Uche Yara außerhalb von Genregrenzen, experimentiert, klingt auf jedem der fünf Songs anders. Es rauscht, raschelt, knistert. Manchmal jagt die Stimme das Instrument, manchmal das Instrument die Stimme. Alles verschmilzt, verklebt und zeigt, dass loslassen auch einen blumig-süßen Geschmack haben kann. Sofia Paule
Anna B Savage
„You And I Are Earth“
( CitySlang )
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Dass die britische Singer-Songwriterin Anna B Savage eine besondere Beziehung zur Natur hat, zeigte sie schon auf ihrem Debüt „A Common Turn“ (2021) und dem darauffolgenden Album „in/FLUX“: Mit schier heiligem Ernst und kraftvoller Stimme singt Savage über Vögel und Steine, Geister und Bäume, um dann umstandslos zu Themen wie Masturbation oder Sex mit mehreren Beteiligten überzugehen. Das dritte Album „You And I Are Earth“ trägt die Erdverbundenheit schon im Titel, verknüpft mit dem tief verwurzelten (ha!) Glauben an den Kreislauf allen Lebens. Außerdem sei die Platte eine „Liebeserklärung an einen Mann und an Irland“, so die seit einiger Zeit dort lebende Künstlerin. Die Musik ist entsprechend folkorientiert und wurde mit überwiegend klassischem Instrumentarium eingespielt: Harmonium, Streicher, Bouzouki und Klarinette sorgen für den traditionellen Klang, angereichert mit Naturgeräuschen wie Wind und Wellenrauschen. Im Titelstück schwingen Anmutungen an 1960er-Jahre-Folk mit, „Donegal“ schraubt sich in angedeutetem Walzertakt in entrückte Höhen, während „Incertus“ so zart und flüchtig wirkt wie Tautropfen in einem Spinnennetz. Bei den Aufnahmen unterstützt wurde Anna B Savage von der irischen Folkband Lankum und den ebenfalls aus Irland stammenden Musikerinnen Kate Ellis und Caimin Gilmore. Ein Album wie aus der Zeit gefallen – aber genau deshalb so heilsam. Christina Mohr
Horsegirl
„Phonetics On And On“
( Matador/Beggars Group, VÖ: 14.02. )
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„Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt!“, motzte vor tausend Jahren Dirk von Lowtzow in einem Tocotronic-Song – ein Motto, das auf Horsegirl, Anfang zwanzigjährige Student*innen aus dem DIY-Umfeld in Chicago, passt. Nach dem großartigen Debütalbum „Versions Of Modern Performance“ (bejubelt als „Rettung des Punkrock“) probten Nora Cheng, Penelope Lowenstein und Gigi Reece in New York, dann in Chicago und nahmen mit Cate Le Bon (produzierte u. a. Deerhunter) „Phonetics On And On“ auf. Sie ersetzten den Wind aus den Segeln mit cleanen Sounds, viel Midtempo und Dadada-Melodien à la Shoegaze, in Pop gegossene Schüchternheit, die Ende der 1980er, Anfang der 1990er auf dem C86-Sampler oder bei Sarah Records erschien. Horsegirls Shoegaze ist leise, nur selten nölt eine schmutzige Gitarre. Große Hits wie „Anti-Glory“ vom Debüt (produziert übrigens vom 2024 verstorbenen Kult-Indierocker Steve Albini) gibt es nicht, dafür Ohrwürmer wie das flotte „2468“ oder das folkige „Frontrunner“, ohne Drums und kryptisch: „In the morning, I can’t wait to compromise.“ Hä? „In the evening, I can’t wait to see you.“ Ah, ein Liebeslied. Der Wohlklang der elf Songs verschleiert fast, dass es textlich auch mal abgeht. Singt Nora Cheng auf „Julie“ wirklich „Die, die, die“? Anyway: „Phonetics“ klingt bei jedem Hören besser. Dadada … Barbara Schulz
Albertine Sarges
„Girl Missing“
( Moshi Moshi Records )
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Der Bass vibriert und die Flöten zwitschern auf „Girl Missing“, der zweiten Platte von Berlinerin Albertine Sarges. Nachdem eine Freundin der Musikerin aus ihrem Leben verschwand, widmete sich Sarges ihrer Musik, durchforstete ihre Archive, vielleicht auf der Suche nach Soundbits, Ideen und Melodien, die die entstandene Lücke füllen. Das Vermissen steht dabei im Zentrum dieses Albums, das sich den verschiedensten Beziehungen und offenen Enden widmet. Zu Fall bringen diese Enden Sarges aber nicht, stattdessen knotet sie auf zwölf Titeln lose Strippen zusammen, verwebt sie in wunderbaren Songs, die nach Indierock, Blues und Artpop klingen. Die 1970er-Jahre scheinen mit waberndem Gesang, WahWah-Equalizer und Orgeltönen besonders inspiriert zu haben. Dazwischen kreischen wilde Flöten. Dabei spielt Sarges mit Kontrasten, wie z. B. auf „Paris“ – ein Titel mit explosivem Refrain, eingeleitet von einem schweren dreihebigen Rhythmus und einem kurzen Trommelwirbel. Trotz des Themas ist es ein treibendes Album, das voller Energie steckt. Sarges hat sich vielen Titeln spielerisch gewidmet und immer wieder gibt es überraschend Momente, die den teilweise schweren Worten etwas Einhalt gebieten. Rosalie Ernst
Angel Olsen
„Cosmic Waves Volume 1“
( somethingscosmic )
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Das Musikbusiness kann ein einsamer Ort sein. Besonders für Indie-Artists, die meistens jede Aufgabe selbst übernehmen müssen und mit anderen ums hart umkämpfte Rampenlicht buhlen. Angel Olsen dreht auf „Cosmic Waves Volume 1“ den Spieß um: Sie teilt es mit fünf aufstrebenden Bands und Solokünstler*innen und schafft so ihren eigenen kleinen Musiker*innenkosmos. Im ersten Teil der EP gehört der Raum den Artists, die Angel Olsen für dieses Projekt kuratiert hat: Alternative-Rockerin Poppy Jean Crawford, Post-Punker Coffin Prick, Shoegaze-Musikerin Sarah Grace White, Americana-Singer-Songwriter Maxim Ludwigs und das Indie-Folk-Quartett Camp Saint Helene. Im zweiten Teil covert Angel Olsen je einen Song der Artists, jeweils ausgesucht von ihnen selbst. „Als Künstlerin, die über ein kleines Tape-Label in die Musikszene eingetreten ist, wollte ich den Geist des Entdeckens und der Zusammenarbeit weiterführen“, sagt sie in der Pressemitteilung. Während die ersten fünf Songs eine weite Bandbreite an Genres abbilden, bricht Angel Olsen die Originalsongs runter auf zwei Elemente: ihr ferner, geisterhaft klingender Gesang und eine hallende E-Gitarre oder ein Klavier. Und erinnert damit auch musikalisch an ihre Anfänge. Maria Preuß
Lambrini Girls
„Who Let The Dogs Out“
( City Slang )
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Fick deine Big Dick Energy – das ist das Motto der Punkband Lambrini Girls. Benannt nach einem alkoholischen Getränk aus ihrer Heimatstadt Brighton, machen Phoebe Lunny und Lilly Macieira Songs, die sowohl musikalisch als auch inhaltlich energiegeladen sind. Der Sound ihres Debütalbums „Who Let The Dogs Out“ ist rauer Punk à la Riot Grrrls mit Songtexten, die politische Themen mit bissigem Humor verbinden. Obwohl sie einem eher einheitlichen musikalischen Schema folgen, schaffen es Lambrini Girls, durch clevere gesellschaftspolitische Kommentare die Aufmerksamkeit zu halten. Die Texte sind geprägt von Wut über soziale Missstände und Diskriminierung. Lambrini Girls sind angepisst von toxischer Maskulinität, Diätkultur, Misogynie, TERFs und britischer „lad culture“. Dem verleihen sie in Liedern wie „Company Culture“ und „Nothing Tastes As Good As It Feels“ Ausdruck. Phoebe Lunny schreit übergriffige Dudes und fettfeindliche Diätratschläge in Grund und Boden, während Lilly Macieiras eingängige Basslines die Songs vorwärts und den Herzschlag in die Höhe treiben. Das Album endet mit „Cuntology 101“ und der Message: Grenzen setzen und die eigenen Bedürfnisse priorisieren. Lambrini Girls lassen das Blut in den Adern brodeln und machen Lust, die explosiven Songs mitzubrüllen. Kompromissloser politischer Punk, aber auf cunty. Ilo Toerkel
070 Shake
„Petrichor“
( Def Jam )
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Petrichor nennt man den spezifischen Geruch, der entsteht, wenn Regen auf vertrocknete Erde fällt. Eine Kindheitserinnerung für Danielle Balbuena aka 070 Shake. Während der Sommerferien verließ sie alljährlich ihren Wohnort New Jersey und besuchte die Familie in der Dominikanischen Republik. Dort wiederum rief sie ihre Mutter des Öfteren aus dem Haus, um den frischen Regenfall zu riechen. Abgesehen vom Petrichor hat vor allem Lily-Rose Depp, Danielle Balbuenas Freundin und Muse, die Inspiration für 070 Shakes drittes Album geliefert. Und tanzt im Video zu „Winter Baby / New Jersey Blues“ begleitet von Sixties-Pop durch eine leere Bar zur Musik ihrer Partnerin. Der Jukeboxsound bleibt bei 070 Shake einmalig. Der intime, abgeschlossene Raum des Paares zieht sich dagegen durch die gesamte Platte. Auf „Blood On Your Hands“ deklariert Depp: „You have met your match, me.“ Und Balbuena singt, begleitet von dramatischen Synth-Orgeln, auf „Love“: „Said I found the one / That’s enough for me“, grandios ausgeleitet von einer Prince-esken E-Gitarre. „Petrichor“ verblendet neue Genreeinschläge im Sound von 070 Shake, die schon längst nicht mehr allein für Emo-Rap und Trap bekannt ist. Kathedralische Drones klingen an auf „Song To The Siren“ (mit Vocals von Courtney Love). „Into Your Garden“ wird von einem klassischen Piano dominiert. Und auf „Elephant“ dröhnen die Synths so düster wie auf einem klassischen Depeche-Mode-Track. Auf „Petrichor“ haben sich zwei gesucht und maximalistisch gefunden – und das spiegelt sich auch im Sound wider. Sophie Boche
Sinem
„Köşk“
( Fun In The Church )
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Aus einem Münchener Vorort stammend, wollte Sinem eigentlich nur ein Geburtstagsständchen für ihre Großeltern einstudieren. Sie ist am Singen kleben geblieben – zum Glück für uns, denn dieses Album ist genau das, wovon wir nicht wussten, dass wir es in unserem Leben brauchen. Etwa ein Jahr nach ihrer Gründung bringt die Band, bestehend aus Sängerin Sinem Arslan Ströbel, Schlagzeuger Tom Wu und Gitarrist Tagar, ihr erstes Album raus. „Köşk“ beinhaltet türkische Popsongs im Stile der 1960er- bis 1990er-Jahre und verbindet diese mit rockigen Bässen, elektronischem Sound und New Wavigem Twist. Dabei entfaltet das Album die Magie des Coverns: Die Auswahl der Lieder ist eine Art Chronik von Sinems Aufwachsen und umfasst Songs, die zu Hause bei ihren Eltern und Großeltern gespielt und gesungen wurden. Mit ihrer tiefen, einnehmenden Stimme nimmt die Sängerin uns an die Hand und geleitet uns durch Sezen Aksus „Hadi Bakalım“ oder Selda Bağcans „Sivas’ın Yollarına“, ein Gedenksong an das Massaker von Sivas (1993), von wo Sinems Großeltern stammen. Sinem prescht furchtlos in die Lieder hinein, schreckt nicht zurück vor diesen großen, bekannten Songs und steckt uns an mit ihrer stimmlichen Power. Hören können wir das Album zum Schwelgen und Genießen, aber auch zum Tanzen und Loslassen. Mehregan Behrouz
Sofie Royer
„Young-Girl Forever“
( Stones Throw Records )
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Sofie Royer hat in den vergangenen sechs Jahren nicht nur drei Alben veröffentlicht, die 33-Jährige ist auch DJ, Model und IT-Entwicklerin, spielt seit ihrem dritten Lebensjahr Geige und hat Philosophie und Psychologie auf Lehramt studiert. So atemlos wie Royers Biografie ist der lässige Eighties-Synthiepop auf „Young-Girl Forever“ nicht: Auf Englisch, Französisch und Deutsch besingt die Österreicherin das 1999 erschienene Werk einer französischen Anarchistengruppe, referenziert Fassbinder, Burgess und Remarque und schafft es, diesen ganzen intellektuellen Überbau hinter tanzbarem Electropop zu verbergen. Genau das aber produziert Widerspruch: Royers Konsum- und Gesellschaftskritik wirkt so glaubwürdig wie dauerpräsente Influencer*innen, die Achtsamkeit und Entschleunigung predigen, dabei aber so gehetzt wirken wie Hundert-Meter-Sprinter*innen. „Young-Girl Forever“ ist eine von Royer exzellent produzierte Platte, tanzbar, unterhaltsam, von Nouvelle Vague und No Wave, „La Boum“ und NDW inspiriert – kompliziert wird sie für diejenigen, die Royers Selbstverständnis als multidisziplinäre Künstlerin, die an die „totale Kunst“ glaubt, hinterfragen: Wie glaubwürdig ist die Ironisierung der Konzepte? Und erreicht diese die Köpfe der Rezipient*innen? Fragen, die Royer unbedingt spannend machen. Verena Reygers
Moonchild Sanelly
„Full Moon“
( Transgressive Records )
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Ausgiebig in der Küche tanzen oder schnellen Schrittes durch die Stadt steppen – Moonchild Sanellys neue Platte „Full Moon“ lädt zur Bewegung ein. Treibende Basslines treffen auf melodische Beats, die dominante Snare ist so schnell und verspielt wie ein Autoscooter-Ride. Nicht nur musikalisch beeindruckt die südafrikanische Musikerin, auch lyrisch entfaltet sie eine Vielseitigkeit, die sich in verschiedenen Sprachen und Erzählungen widerspiegelt, auf Englisch und Xhosa nämlich. Sie malt Bilder, die ihren Körper zelebrieren, und baut Reime, die zum Mitsingen anregen. Sie erzählt Geschichten voller Gegensätze, die einander nahezu perfekt ergänzen. Moonchild nimmt uns in ihre Gefühlswelt mit, die sich sowohl mit sich selbst als auch mit ihren Beziehungen zu anderen Menschen auseinandersetzt. Inspiriert von Amapiano und Gqom schafft die Künstlerin ihr eigenes Genre: Future Ghetto Funk. So vielschichtig wie sie selbst sind auch die musikalischen Einflüsse. Elektronische Beats ergänzen sich mit Edgy Pop und Afropunk, während ihr Hintergrund im Jazz immer wieder durchscheint. Moonchild besticht mit ihrer Authentizität und Kreativität. „Full Moon“ sprüht vor Energie, entfaltet seine Lebendigkeit vom ersten bis zum letzten Track und trägt die Zuhörenden tanzend durch das Album. Luna Afra Evans
Diese Texte erschienen zuerst in Missy 01/25.