Ein Porträt von Chappell Roan mit roten Haaren in einem rotem Kleid.
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Chappell Roans Aufstieg aus der Liga der existenzbedrohten Musiker*innen in die Liga der Superstars kam sehr plötzlich. Viele Singles ihres ersten Albums „The Rise And Fall Of A Midwest Princess“ blieben jahrelang unbeachtet. Mit dem Release des Hits „Good Luck, Babe“ im April 2024 aber kam der Hype und eine Karriere, die zu jeglichen Superlativen einlädt. Nicht mal ein halbes Jahr später waren die Tickets zu ihrer Welttournee so begehrt wie die von Taylor Swift. Chappell Roan ist ein Pop Icon geworden. Genauer gesagt: ein Sapphic Pop Icon.

Ihre Erfolgsgeschichte klingt wie der Inbegriff des American Dreams – mit einem Gay Twist. Roan, bürgerlich Kayleigh Rose Amstutz, wuchs in einem Trailerpark im ländlichen, stark christlich geprägten Missouri im Mittleren Westen der USA auf, wo sie ihre Queerness lange unterdrücken musste. Heute wird sie für genau diese gefeiert – bei den  MTV Video Music Awards im September 2024 wurde sie als „Best New Artist“ ausgezeichnet, im November für sechs Grammys nominiert. Ihre Musik ist eine Mischung aus energetischem Pop und nostalgischen 80s-Beats: mal glitzernde Synthesizer und verspielte Texte, mal traurige Balladen und Lyrics, die Identitätsfindung und Selbstakzeptanz thematisieren. Typisch Sapphic Pop eben.  

Der Begriff „Sapphic“ (dt. sapphisch) hat wie der Begriff „lesbisch“ seinen Ursprung bei der antiken griechischen Dichterin Sappho, die auf der Insel Lesbos lebte. In ihrer Lyrik verhandelte Sappho, so die Interpretation, homosexuelle Liebe und Begehren zwischen Frauen. Heutzutage wird Sapphic als Beschreibung für das Begehren und die Liebe von Frauen, trans- oder nicht-binären Personen verwendet, die andere Frauen, trans oder nicht-binäre Personen lieben und dabei z. B. lesbisch, bisexuell oder pansexuell sind. „Sapphic Pop“ ist die Musik ebenjener queerer Frauen und nicht-binärer Personen, die ihre Queerness explizit verhandeln – und er war noch nie so präsent wie heute. 

Zwar hatten auch die 2000er-Jahre ihre lesbischen Popmomente, allerdings fielen diese eher durch Hypersexualisierung und einen starken Male Gaze auf. 2002 z. B. sorgte das russische Popduo t.A.T.u. mit Bühnenküssen und dem Musikvideo zu „All The Things She Said“, in dem die Sängerinnen als Schulmädchen verkleidet knutschen, für Kontroversen. Dass sie lesbisch seien, dementierten beide schon damals; vor einigen Jahren dann erklärte Julia Volkova, eine der beiden Sängerinnen, sie könne einen schwulen Sohn nicht akzeptieren. Die lesbische Ästhetik der Band war ein kalkulierter „Schock“- und Marketingeffekt und, wie sich im Nachhinein herausstellte, von ihrem Manager ausgedacht. Auch der berühmte Kuss zwischen Madonna, Christina Aguilera und Britney Spears bei den MTV Video Music Awards 2003 hatte wenig mit sapphischer Liebe zu tun und war lediglich Entertainment und Showeinlage. Was die Dominanzgesellschaft Anfang der 2000er und auch 2008 beim Aufruhr um Katy Perrys „I Kissed A Girl“ noch nicht verstand: Weibliche Queerness ist nichts, was für die Anerkennung von Männern performt wird.

Heute sind es sapphische Künstler*innen selbst, die bestimmen, wie sie über ihre Liebe singen und performen, wie z. B. Reneé Rapp, Billie Eilish, King Princess, Girl in Red, Boygenius, Kehlani, Clairo, Towa Bird oder MUNA. Auch Chappell Roan singt explizit über Feelings für Frauen: „We both have a crush on Regina George“ („Wir haben beide einen Crush auf Regina George“) oder „I kinda wanna kiss your girlfriend“ („Irgendwie will ich deine Freundin küssen“). Mal schwärmt das lyrische Ich in Roans Songs von seiner Traumfrau, an anderer Stelle geht es um das Gefühl, in die beste Freundin verliebt zu sein, oder um die Verunsicherung bezüglich der Grenze zwischen Freundschaft und romantischer Liebe. 

Trotz offensichtlich queerer (Sub-)Texte können sich auch Heteros mit Roans Songs identifizieren und die Texte für sich umdeuten, die meisten waren schließlich schon mal unglücklich verliebt. Genauso wie Queers sich auch aufgrund mangelnder Alternativen, jahrzehntelang mit Hetero-Love-Songs identifiziert haben, ist das auch andersrum möglich. 

Roan nutzt gezielt queere Ästhetik, bspw. in Form von hyperfemininen Outfits und Drag-Performances: Bei ihrem Auftritt bei Jimmy Fallon in der „Tonight Show“ trug sie ein aufwendiges Schwanenkostüm, beim „Governors Ball Music Festival“ war sie als US-Freiheitsstatue verkleidet – ein Outfit, das politisch ist, so wie sie selbst. Als sie den „Best New Artist“-Award bei den MTV Video Music Awards entgegennahm, widmete sie ihren Preis „allen queeren und trans Menschen“, die den Pop anheizen: „An die Gays, die meine Lieder jemandem widmen, den sie lieben oder hassen.“ Ihre Konzerte, und das macht einen erheblichen Teil des Hypes aus, sind richtige Happenings, große Kostümfeste, angelehnt an Drag Balls. Für jede Show wählt Roan ein eigenes Motto, z. B. „Meerjungfrau“ oder „Pink Pony Club“, passend zu einem ihrer Songs, zu dem sich nicht nur sie, sondern auch die Fans glanzvoll kleiden, schon lange vorher elaborierte Looks erarbeiten und sich dann gegenseitig dafür feiern. Eine gesellschaftliche Message mit einer großen Portion Fun: „Bei meinem gesamten Projekt geht es darum, Spaß zu haben, sich zu verkleiden und das innere Kind zu ehren“, erklärt Roan auf Instagram.

Julien Baker, Phoebe Bridgers und Lucy Dacus von Boygenius auf einer Bühne in weißen Anzügen.
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Aber auch andere Sänger*innen gehen heute offen mit ihrem Begehren um und machen Sapphic Pop als Genre groß. King Princess sang 2018 in „Your Pussy Is God“ unmissverständlich über ihre Sexualität, auch Girl in Red schwärmt: „Did you do the things you know I like? Roll your tongue, make her cum twenty times?“ („Hast du die Dinge getan, von denen du weißt, dass ich sie mag? Mit deiner Zunge rollen, sie zwanzig Mal zum Kommen bringen?“) Victoria Monét und Kehlani singen: „I’m beggin’ for a sip of juice. You been my favorite kind of fruit.“ („Ich bettle um einen Schluck Saft. Du warst meine Lieblingsfrucht.“) Und 2024 veröffentlichte auch Megastar Billie Eilish ihren ersten explizit queeren Song „Lunch“. In einem „Rolling Stone“-Interview äußert Eilish Frustration darüber, wie medial mit weiblicher Sexualität umgegangen werde und wie tabuisiert diese heute noch sei. Ironischerweise griffen die Medien ihre Kritik kaum auf und reproduzierten stattdessen die Stigmatisierung. Zahlreiche Zeitungen publizierten reißerische Headlines wie: „Billie Eilish will ihr Gesicht in eine Vagina stecken.“ Weibliche queere Sexualität als Spektakel – das sorgt auch 2024 noch für Schlagzeilen. Die Gesellschaft ist leider noch nicht da, wo Sapphic Pop schon angekommen ist: ungeniert und offen queer. 

Natürlich haben Künstlerinnen wie Chappell Roan oder Billie Eilish sapphische Musik nicht erfunden. Dass sie heute so kompromisslos queer sein können, verdanken sie harten Kämpfen, die lange vor ihrer Zeit ausgetragen wurden. Auch im letzten Jahrhundert gab es queere Frauen in der Musik, die heute eher in Vergessenheit geraten sind oder nicht als lesbisch wahrgenommen werden, wie die Indigo Girls, Tracy Chapman, Wendy & Lisa, Dusty Springfield oder Chely Wright. Und in den 2000er- und 2010er-Jahren gab es Brandi Carlile oder Hayley Kiyoko, die 2015 mit dem expliziten Popsong „Girls Like Girls“ einen Impuls zur Veränderung im Pop setzte und daraufhin von der LGBTIQ-Community zur „Lesbian Jesus“ ernannt wurde. Oftmals wurde sapphische Sehnsucht jedoch nur implizit in der Musik verhandelt. Das Verstecken, Verheimlichen und Codieren von Queerness ist eine jahrhundertelange Tradition queerer Menschen, ein Resultat aus dem Aufwachsen in einem heteronormativen System. Auch heute noch lässt sich in vielen Kulturprodukten nur implizierte, keine offen gefeierte Queerness finden, jedenfalls suchen viele Popkultur-Fans gezielt danach. Besonders ausgeprägt ist diese Praxis in Songtexten von Taylor Swift, die etliche queere Codes in ihrer Kunst nutzt, z. B. Outfits in den Farben der Lesbischen, Bisexuellen und Regenbogenflagge oder ein Kostüm im Musikvideo „Willow“, das an besagte Dichterin Sappho erinnert. 

Natürlich gibt es auch heute noch, trotz Sapphic-Pop-Hypes, genug Gründe, um sich als Künstler*in nicht zu outen. Umso erfrischender ist es, Popmusik so queer wie nie zuvor im Mainstream zelebriert zu sehen. Aber: Hayley Kiyoko und Kehlani gehören zu den wenigen nicht-weißen Musiker*innen, die als Sapphic-Pop-Ikonen gefeiert werden. Dass noch immer die meisten von ihnen weiß sind, liegt an eurozentrischen (Schönheits-)Idealen, die in queeren Kreisen ebenfalls weitverbreitet sind. Das zeigen auch sapphische Datingshows wie „Princess Charming“ oder „I Kissed A Girl“, in denen die Teilnehmenden überwiegend weiß sind und die vereinzelten BIPoCs schnell ausscheiden. Dennoch ist Sapphic Pop ein Schritt in die richtige Richtung. Hoffentlich wird es bald kein Spektakel mehr sein, wenn sapphische Romantik und Sexualität in der Popmusik thematisiert werden. Und vielleicht finden dann endlich queere BIPoC-Künstler*innen wie Doechii, Towa Bird, Arlo Parks, Beabadoobee, Victoria Monét, Syd oder Amaarae die Anerkennung als Sapphic-Pop-Icons, die ihnen gebührt. 

Dieser Text erschien zuerst in Missy 01/25.